9. KAPITEL

Die Hitze im Auto war kaum auszuhalten. Zwar war es draußen nicht besonders heiß und Grace hatte die Fenster heruntergekurbelt. Aber nach knapp zwei Stunden im stehenden Wagen drohte sie zu zerfließen. Sie hatte ihr Auto am Ende der Sackgasse geparkt, nahe der Strandstraße und nur zwei Grundstücke von dem Cottage entfernt, wo, wie sie herausgefunden hatte, Rory Taylor wohnte. Zuvor war sie an seinem Haus vorbeigefahren und hatte das Schild mit der Aufschrift “Poll-Rory” gesehen. Für wen oder was steht bloß das “Poll”?, hatte sie sich gefragt.

Sie war nervös. Und das schon, seit sie am Morgen ihr Apartment in Rodanthe verlassen hatte. Von Rodanthe nach Kill Devil Hills hatte sie nur eine halbe Stunde gebraucht, doch es war ihr wie eine Ewigkeit vorgekommen. Sie wusste genau, dass diese Aktion verrückt war; ja, fast kam es ihr so vor, als täte sie etwas Verbotenes. Grace ist gerade einfach nicht sie selbst.

Auf einmal öffnete sich die Eingangstür des Poll-Rory. Ihr Herzschlag legte einen Zahn zu und übersprang dabei ein, zwei Schläge. Sie erschrak. Hatte sie am Morgen ihre Medizin genommen? Sie erinnerte sich nicht, aber jetzt war nicht der richtige Zeitpunkt, um darüber nachzudenken. Der Mann, der aus der Tür trat, war ohne Zweifel Rory Taylor. Sie wusste, wie er aussah; jeder wusste es. Er trug einen Liegestuhl unterm Arm, und Grace verzog das Gesicht, als er auf den Strand zusteuerte. Mist. Sie hatte gehofft, er würde in sein Auto steigen und aus der Sackgasse herausfahren. In ihrer Vorstellung war sie ihm auf seinem Weg zum nächsten Lebensmittelladen gefolgt, wo sie dann in einem der schmalen Gänge “versehentlich” mit ihm zusammengestoßen wäre. Aber wenn die Dinge nicht so liefen, wie sie wollte, musste eben Plan B her. Eigentlich sollte sie sich nicht der Sonne aussetzen, doch was machte jetzt schon noch ein Hautausschlag oder ein Sonnenbrand? Sie griff nach dem Strandlaken auf der Rückbank und stieg aus dem Wagen.

Rory hatte gerade das erste Kapitel seiner aktuellen Taschenbuchlektüre gelesen, als eine Frau ihre Decke im Sand neben seinem Liegestuhl ausbreitete. Bei dem Versuch, sich weiter auf sein Buch zu konzentrieren, scheiterte er, denn er musste diese Frau einfach ansehen. Hoffentlich blieben seine Blicke hinter den dunklen Sonnengläsern unbemerkt. Die Frau war bezaubernd – groß und schlank. Ihr hellbraunes Haar glänzte in der Sonne, und der hochgeschlossene marineblaue Badeanzug betonte ihre Schultern auf eine sexy Art. Ihre Blässe ließ vermuten, dass sie bisher nicht besonders viel Zeit am Strand verbracht hatte. Sie legte sich auf den Bauch, nahm die Sonnenbrille ab und schloss die Augen.

Sie wird rot wie ein Hummer werden.

Es war mitten in der Woche, und der Strand war zwar gut besucht, jedoch nicht überfüllt. Zack saß mit einigen Jugendlichen auf einer Decke am Wasser. Er war schon jetzt so braun wie andere nach einem ganzen Sommer nicht, und die Sonne hatte sein Haar um mehrere Nuancen aufgehellt. War Rory in Zacks Alter auch so schnell braun geworden? Hatte er auch so gut ausgesehen? Falls ja, war er sich dessen nie bewusst gewesen.

Er wandte sich wieder seinem Buch zu und war gerade in der Mitte des dritten Kapitels angekommen, als die Frau neben ihm plötzlich aufschrie und von ihrer Decke aufsprang.

Verwirrt sah Rory zu ihr auf. “Was ist los?”, fragte er.

Die Frau lachte, und ihre Wangen nahmen einen leichten Rotton an. “Ich glaube, mich hat etwas gebissen”, sagte sie und rubbelte mit der Hand über ihren Arm. “Wahrscheinlich nur eine Bremse.” Sie trug einen tiefen Pony, der ihr Gesicht einrahmte und ihre klaren Gesichtszüge unterstrich, und war älter, als Rory zunächst vermutet hatte. Ende dreißig, Anfang vierzig.

“Ja, davon gibt es hier einige”, sagte er, auch wenn er diesen Sommer noch keine einzige gesehen hatte.

Als die Frau ihn auf einmal reglos anstarrte, wusste er, dass sie ihn erkannt hatte.

“Sie sind Rory Taylor!”, sagte sie.

“Ertappt.” Er legte das aufgeschlagene Buch mit den Seiten nach unten in den Sand, froh darüber, einen Gesprächseinstieg gefunden zu haben. “Und Sie sind …?”

“Grace Martin”, antwortete sie. Sie setzte sich wieder, rieb sich noch immer über den unsichtbaren Stich und lächelte ihn an. Sie hatte ein offenes, ehrliches Lächeln, das man unwillkürlich erwidern musste.

“Ich lebe unten in Rodanthe”, sagte sie, während sie ihre Sonnenbrille von der Decke nahm und aufsetzte. “Ich habe hier eine Freundin besucht und wollte vor der Heimfahrt noch das schöne Wetter am Strand auskosten.” Ihre Hände zitterten noch leicht wegen des Zwischenfalls mit der Bremse, und sogar ihre Stimme schien zu beben. Das Rot, das einfach nicht aus ihren Wangen weichen wollte, stand ihr gut. Die blau getönten Gläser ihrer Sonnenbrille ließen ihre braunen Augen erahnen. Sie hatte etwas Hilfloses an sich, was in Rory unwillkürlich den Wunsch auslöste, eine ihrer blassen Hände zu nehmen.

“Wie ist denn der Strand in Rodanthe?”, fragte er stattdessen, obwohl ihn die Antwort nicht besonders interessierte. Er wollte einfach nur das Gespräch am Laufen halten.

“Och, so ähnlich wie hier. Nur nicht so voll.”

“Muss schön sein.”

“Und warum sind Sie hier? Normalerweise verirrt sich kein Filmstar zu uns auf die Outer Banks.”

Er lachte. “Ich habe nie in einem Film mitgespielt”, widersprach er. Die Leute machten immer wieder denselben Fehler. “Aber um auf Ihre Frage zu antworten: Meine Familie hat ein Cottage hier, seit ich denken kann, direkt hinter uns in der kleinen Sackgasse.” Er zeigte mit dem Daumen nach hinten. “Ich war schon seit Ewigkeiten nicht mehr hier. Doch vor Kurzem kam mir eine Sache ins Gedächtnis, die sich hier vor vielen Jahren ereignet hat und einen guten Beitrag für meine Sendung abgeben würde.”

“'True Life Stories'.”

“Genau.”

“Was ist das für eine Sache?” Sie neigte den Kopf zur Seite, und er war nicht sicher, ob sie kokettierte oder bloß neugierig war.

“Vor langer Zeit wurde hier am Strand ein Neugeborenes gefunden”, begann er, “genau hier, wo wir jetzt sitzen. Oder vielleicht etwas näher am Wasser.” Eigentlich genau da, wo Zack gerade saß.

Grace beugte sich mit aufgerissenen Augen gespannt nach vorn. “Sie machen Witze. Wie lange ist das genau her?”

Ganz klar Neugierde, dachte er erfreut. Er fragte sich, ob die Geschichte auch die allgemeine Öffentlichkeit in ihren Bann ziehen würde. “Schon mehr als zwanzig Jahre”, antwortete er. “In dem Sommer, als es passierte, war ich vierzehn. Meine Nachbarin von gegenüber, die damals noch ein kleines Mädchen war, fand das Baby eines frühen Morgens am Strand.”

“Und wer hatte es da hingelegt?”

“Das weiß keiner. Man hat es nie herausgefunden. Aber ich dachte mir, dass es auch heute, auch nach all den Jahren noch interessant wäre, genau das zu erfahren. Wer war diese Frau? Was hat sie dazu veranlasst? Wie ist sie damit zurechtgekommen? So was in der Art. Und vielleicht können die Antworten dieser Frau sogar die Hintergründe beleuchten, warum Neugeborene ausgesetzt werden – wie es in letzter Zeit ja häufiger vorgekommen ist.”

“Für das Mädchen, das den Säugling gefunden hat, muss es ein schreckliches Erlebnis gewesen sein.”

“Ach, ich weiß nicht. Sie war ein ziemlich robustes Kind”, sagte er. Und ist auch eine robuste Erwachsene. “Sie heißt Daria und war nach dem Ereignis die Heldin der Stadt. Die Zeitungen waren voll von Berichten über sie. Haben Sie damals auch schon auf den Outer Banks gelebt? Vielleicht erinnern Sie sich ja an einen solchen Artikel?”

“Nein, vor zwanzig Jahren habe ich noch in Virginia gelebt, genauer gesagt: in Charlottesville”, erwiderte sie. Sie schien verwirrt. “Warum galt das Mädchen als Heldin, wenn doch das Baby gestorben ist?”

“Nein, nein, es ist nicht gestorben. Das ist der aufregende Teil der Geschichte. Sie – das Baby war ein Mädchen – wäre mit Sicherheit umgekommen, wenn Daria sie nicht gefunden hätte. Aber so hat sie überlebt und wurde von Darias Familie adoptiert. Sie hat eine leichte Gehirnschädigung davongetragen, aber sie ist wunderschön und …”, er suchte nach dem richtigen Ausdruck, “charmant.”

Das Erstaunen in Graces Gesicht verriet ihm, dass die Geschichte weitaus fesselnder war, als er gedacht hatte.

“Und … wo ist … Ich vermute, das Baby ist mittlerweile eine junge Frau …” Anscheinend hatte Grace Schwierigkeiten, ihre Gedanken in Worte zu fassen. “Wo lebt sie heute?”, fragte sie schließlich.

Rory drehte sich um und zeigte auf das Sea Shanty. Von ihrem Platz aus konnten sie über der Düne nur das weiße Geländer des Witwenstegs sehen. “Genau dort”, sagte er. “Sie und Daria leben zusammen in diesem Cottage, dem Sea Shanty.”

“Genau dort”, wiederholte Grace. Gedankenverloren starrte sie zu dem weißen Geländer hinüber.

Zack kam auf Rory zugelaufen. “Da kommt mein Sohn”, sagte er stolz, und Grace erwachte aus ihrem Tagtraum und richtete ihre Aufmerksamkeit auf den Jungen.

“He, Dad”, rief Zack, während er näher kam. “Kannst du mir etwas Geld geben?”

Rory hätte sich ja denken können, dass Zack nicht auf ein Vater-Sohn-Gespräch vorbeigekommen war.

“Zack, das ist Grace”, stellte er vor. “Grace, das ist mein Sohn.”

“Hi Zack”, sagte Grace.

“Hi”, erwiderte Zack, ohne sie richtig anzusehen. Er wartete auf Rorys Antwort.

“Ich habe kein Geld bei mir. Mein Portemonnaie ist im Haus. Du kannst dir einen Fünfer rausnehmen.”

“Einen Fünfer, wow! Aber ich will dich wirklich nicht ruinieren, Dad.” Zack grinste frech und blickte nach links. Erst jetzt bemerkte Rory ein Mädchen in Zacks Alter, das ein paar Meter weiter auf ihn wartete. Sie war genauso braun und blond wie Zack, trug einen knappen grünen Bikini und hatte irgendetwas Glitzerndes in ihrem Bauchnabel.

“Dann halt einen Zehner”, gab Rory nach.

“Danke.” Zack nickte dem Mädchen zu, und beide liefen den Strand hoch zum Poll-Rory.

“Er sieht Ihnen sehr ähnlich”, stellte Grace fest, als Zack und das Mädchen aus ihrem Blickfeld verschwunden waren.

“Er ist mir ähnlicher, als mir lieb ist”, gab Rory zurück. “Haben Sie Kinder?”

“Nein.” Sie blickte auf ihre Arme. Ob sie gar nicht merkte, dass sie schon einen Sonnenbrand bekam? Sollte er es ihr sagen? Bevor er eine Entscheidung getroffen hatte, sprach sie weiter.

“Vor ein paar Jahren habe ich von Ihrer Scheidung gelesen. Mein Mann und ich leben auch seit Kurzem getrennt und werden uns wohl bald scheiden lassen.”

“Das tut mir leid”, sagte Rory aufrichtig. “Das ist die Hölle, oder?”

“Es ist einfach nur schwierig … wieder völlig auf eigenen Beinen zu stehen.”

Er konnte sich noch gut an die Einsamkeit und die Achterbahnfahrt der Gefühle erinnern. Und Grace war der Schmerz, den ein solcher Neuanfang bedeutete, deutlich vom Gesicht abzulesen. Nur zu gern hätte er gewusst, ob ihr Ehemann sie oder sie ihn verlassen hatte. Hatte er eine Affäre? Musste auch sie diese Qual durchleiden?

“Bei mir gab es immer noch meine Arbeit, die mich abgelenkt und davor bewahrt hat, zu viel zu grübeln”, sagte er. “Arbeiten Sie auch?”

Sie nickte. “Ich habe einen kleinen Laden in Rodanthe. Eigentlich bin ich immer da, aber heute kümmert sich mein Partner um die Geschäfte.” Sie sah auf die Uhr. “Ich habe gar nicht gemerkt, wie die Zeit vergeht. Ich sollte ihn anrufen und Bescheid sagen, dass ich mich verspäte. Gibt es hier in der Nähe eine Telefonzelle?”

“Mein Cottage ist doch gleich um die Ecke. Wenn Sie wollen, können Sie von dort aus telefonieren.” Ihr Partner war ein er. Verrückt, aber das enttäuschte ihn.

“Nur wenn es Ihnen keine Umstände macht.”

Er stand auf. “Ist gar kein Problem. Kommen Sie. Ich sollte ohnehin mal nach meinem Sohn und seiner Freundin sehen. Ist wahrscheinlich besser, sie nicht zu lange allein zu lassen.” Er streckte seine Hand aus und half ihr hoch. Als er spürte, wie viel Anstrengung sie das Aufstehen zu kosten schien, nahm er an, dass ihre Zittrigkeit neben dem Insektenstich noch eine andere Ursache hatte.

“Ist alles in Ordnung?”, fragte er deshalb. Er wollte sie nicht in Verlegenheit bringen, aber ihr Schwanken zwang ihn förmlich zu dieser Frage.

“Ja, es geht mir gut. Bis vor Kurzem war ich noch krank, aber jetzt ist wieder alles bestens.” Sie hob ihre Decke vom Sand auf, und er half ihr beim Zusammenlegen. Ihre Schultern waren krebsrot. Damit würde sie später arg zu kämpfen haben.

Auf dem Weg über die Düne zur Sackgasse fragte Rory sich, welche Krankheit sie so geschwächt hatte. Warum sie so blass war. Doch trotz ihrer Mattheit meisterte sie die Strecke durch den Sand problemlos. Ihre Augen ruhten auf dem Sea Shanty.

“Sie sagten, Sie haben … die Frau getroffen, die am Strand gefunden wurde, nicht?”, fragte sie.

“Ja. Sie ist ein liebenswerter Mensch.”

“Und die Gehirnschädigung, die Sie erwähnten?”

“Die ist zum Glück nur ganz schwach. Sie ist einfach kindlicher als andere in ihrem Alter.” Er betrat den Vorplatz seines Häuschens. “Das ist mein Cottage”, verkündete er.

“Wie hübsch!”, sagte Grace, als sie näher trat, und genau in dem Moment kamen Zack und das Mädchen aus der Haustür.

“Na, kommst du als Anstandswauwau?” Zack grinste. Das Mädchen knuffte ihn, offenbar verlegen, in die Seite. “Vielleicht sollten wir besser hierbleiben und auf euch aufpassen”, legte Zack noch einen drauf.

“Sehr witzig”, erwiderte Rory trocken. “Grace muss nur mal telefonieren.”

Während Grace im Haus ihren Anruf erledigte, zog Rory sich ein T-Shirt über, räumte die Spülmaschine aus, um nicht tatenlos herumzustehen, und stellte erleichtert fest, dass sie bei dem Gespräch mit ihrem Partner keinen vertrauten Ton anschlug.

“Ich mache mich jetzt lieber auf den Weg”, sagte sie nach dem Telefonat. “Vielen Dank noch mal.”

“Wo parken Sie?”

“Nur die Straße hoch.”

“Ich bringe Sie.” Er schloss die Spülmaschine und geleitete sie aus dem Haus.

“Und”, fragte sie mit Blick auf das Sea Shanty, “werden Sie … wie heißt das noch gleich? Bildmaterial? Werden sie Bildmaterial vom Sea Shanty sammeln? Wollen Sie das erwachsene ausgesetzte Baby in Ihre Sendung einladen?”

Nebeneinander gingen sie die Straße zu ihrem Auto hinauf. “Ich weiß noch nicht, welche Form diese Geschichte annehmen wird”, antwortete er. “Aber es freut mich, dass Sie von der Idee so fasziniert sind. Ich will nämlich sichergehen, dass der Fall die Masse anspricht.”

Grace lachte. Zum ersten Mal sah er eine gewisse Unbeschwertheit in ihrem Gesicht. “Na ja”, sagte sie, “ich bin zwar nicht sicher, ob ich repräsentativ bin für die Masse, aber ich finde die Geschichte von einem Findelkind auf jeden Fall spannend.” Sie deutete auf eine Limousine am Straßenrand. “Das ist mein Auto.”

Er konnte sie nicht fahren lassen, ohne zu wissen, ob sie sich noch mal wiedersehen würden. “Besuchen Sie Ihre Freundin in Kill Devil Hills öfter?”, fragte er.

“Nein. Sie war nur für eine Woche hier und reist morgen wieder ab.”

“Na ja, jetzt haben Sie ja einen neuen Freund, den Sie hier besuchen können.” Ein fremdes Gefühl, so forsch zu sein, aber sie schien sich zu freuen.

“Danke”, sagte sie, und ihre Lippen formten wieder dieses unwiderstehliche Lächeln.

“Verraten Sie mir Ihre Telefonnummer?”, fragte er.

“Sicher.” Sie sagte die Nummer auf, und da keiner von beiden etwas zu schreiben dabei hatte, merkte Rory sie sich. Als sie wegfuhr, drehte sie sich noch einmal zum Sea Shanty um. Die Geschichte ist einfach Gold wert, dachte Rory.