10. KAPITEL

“Also”, sagte Andy, “wenn du dich um die Schrankwand kümmerst, fertige ich die Anrichte für die Küche an. Abgemacht?”

Daria hörte ihn kaum. Sie und Andy besprachen auf ihrer Veranda die Gestaltung eines Hauses in Corolla, doch ihr Blick klebte an Rory. Er war mit einer Frau vom Strand gekommen und ins Haus gegangen. Nach ungefähr zehn Minuten waren sie wieder herausgekommen, und nun begleitete er sie gerade zu ihrem Auto. Auf dem Weg vom Strand zum Poll-Rory war sein Oberkörper unbekleidet gewesen, jetzt trug er ein T-Shirt mit weißen und blauen Blockstreifen. Die Frau mit dem Gang eines Models war groß und schlank. Ihr dunkler Badeanzug betonte die Schultern, und ihre langen Beine wiesen vermutlich keine Spur von Cellulitis auf. So ein Mist.

“Erde an Daria”, sagte Andy. Er stand auf und legte die Zeichnungen in seine Mappe.

Daria lächelte ihn an. “Entschuldige”, meinte sie. “Ja, ich kümmere mich um die Anrichte.”

“Nein, du baust die Schrankwand. Ich wusste, dass du nicht zuhörst.”

“Hab ich wohl”, log sie. “Ich wollte dich nur foppen.”

Rory berührte die Frau am Arm, was in Daria dasselbe Verlustgefühl verursachte wie damals mit elf, als er seine Zeit lieber mit den Älteren verbracht hatte. Sie verlor ihn schon wieder, und das, wo sie ihn doch noch gar nicht für sich gewonnen hatte. Diese Schwärmerei war wirklich blödsinnig, das konnte sie nicht leugnen.

“Gibst du heute Abend deine Stunde auf der Feuerwache?”, fragte Andy.

“M-hm.”

“Wenn ich doch nur in der Klasse wäre …”

Wieder lächelte sie. “Das fände ich auch schön.”

“Dann also bis morgen?” Er stieß die Fliegengittertür auf.

“Ja, bis dann.”

Rory war auf dem Weg zurück zu seinem Cottage, als er Daria erspähte, ihr winkte und auf sie zukam.

“Viel Glück”, sagte Andy mit einem breiten Grinsen, ehe er die Tür schloss.

Oh Gott, jeder wusste, dass sie auf Rory stand.

Im Hof grüßten sich die beiden Männer im Vorbeigehen, dann öffnete Rory auch schon die Verandatür. Er blieb kurz stehen und lächelte.

“Ich komme hier einfach so rein wie früher, ohne anzuklopfen”, sagte er. “Darf ich überhaupt?”

“Natürlich”, antwortete Daria und deutete auf einen Schaukelstuhl. “Setz dich doch.” Sie wusste von seinem Strandspaziergang mit Shelly und wollte eigentlich sauer auf ihn sein. Sie sollte sauer auf ihn sein. Immerhin hatte er ihre Bedenken wissentlich ignoriert. Aber wie könnte sie ihm böse sein, wenn doch Shelly in bester Laune nach Hause gekommen war? Sie hatte an jenem Abend von nichts anderem gesprochen: Rory hier, Rory da, und wie sicher sie sei, dass er ihre Mutter finde. Diese Sehnsucht nach ihrer leiblichen Mutter war ganz neu – zumindest für Daria. Wenn Shelly dieses Gefühl schon länger in sich trug, hatte sie es all die Jahre geheim gehalten. Daria hatte mit ihr über die Möglichkeit gesprochen, dass Rory nichts Neues herausfindet – eine sehr realistische Möglichkeit, da Daria alles dafür tun würde, dass es genauso käme. Doch Shelly hatte bloß die Schultern gezuckt. “Es kommt, wie es kommt”, war ihre Antwort gewesen. Diese Redewendung hatte sie von Chloe aufgeschnappt, und Daria fragte sich, ob sie sich über ihre Bedeutung wirklich im Klaren war.

“Und”, fragte Rory, nachdem er sich gesetzt hatte, “war das jemand, mit dem du ausgehst?”

Im ersten Moment verstand Daria überhaupt nicht, was er meinte. Dann musste sie lachen. “Nein, das ist Andy. Der ist ein bisschen zu jung für mich. Er ist auch Tischler, und wir arbeiten zusammen.”

“Aha”, sagte Rory.

Seine Frage war geradezu eine Einladung für sie, ebenso neugierig zu sein. “Und wie steht es mit der Frau, die du eben zum Auto gebracht hast? Ist das jemand, mit dem du ausgehst?”

“Noch nicht. Wir haben uns am Strand getroffen und ein wenig geplaudert. Ich glaube, wir liegen auf einer Wellenlänge. Sie hat sich erst vor Kurzem von ihrem Mann getrennt, und allem Anschein nach hat sie noch ziemlich daran zu knabbern.” Er blickte in die Richtung, in die das Auto davongebraust war. Sein Interesse war so offenkundig, dass es Daria fast schon aufdringlich vorkam, ihn nur anzusehen. “Glaubst du, es ist ein Fehler, mit jemandem auszugehen, der erst seit Kurzem wieder allein lebt?”, fragte er.

Ja. Ein großer Fehler sogar, solange es mich gibt, die dich will und direkt gegenüber wohnt.

“Kommt darauf an”, sagte sie. “Trägt sie viel Gefühlsballast mit sich herum?”

“Tun wir das nicht alle?”, fragte Rory mit einem Lächeln.

“Du sprichst wohl von dir”, erwiderte sie, obgleich sie selbst eine ganze Lkw-Ladung mit sich herumschleppte.

“Ich schätze, das tut sie”, gab Rory seufzend zu. “Sie wirkt so … verletzt. Als müsste man auf sie aufpassen.”

“Du warst schon immer ein Beschützertyp.” Sie ärgerte sich über den gereizten Ton in ihrer Stimme.

Rory stöhnte. “Hättest du das bloß nicht gesagt. Das waren auch immer die Worte unseres Eheberaters. Er sagte, Glorianne hätte hilflos und bedürftig auf mich gewirkt, als ich sie traf; sie hätte mir leidgetan, und ich hätte sie retten wollen. Und als sie dann stärker wurde, hätte ich mich nicht länger gebraucht gefühlt. Aber ich halte nicht viel von dieser Auslegung. Ich glaube, als sie stärker wurde, sind ihre und meine Kraft aufeinandergeprallt, weil unsere Wertvorstellungen so verschieden waren. Ich finde nicht, dass ich ein Beschützertyp bin.”

Daria grinste ihn an. “Erinnerst du dich noch an diesen Jungen, der von allen geärgert wurde, weil er nie einen Fisch gefangen hat?”

Wieder stöhnte Rory.

“Du hast ihm eine Handvoll Fische in seinen Eimer gelegt”, sagte sie. Damals hatte sie geglaubt, das sei die typisch freundliche Rory-Taylor-Art. Nun wurde ihr klar, dass er ein krankhafter Retter war. Eine starke Frau hatte bei ihm nicht die geringste Chance, und das machte sie plötzlich fuchsteufelswild.

“Na und?”, verteidigte er sich. “War das vielleicht ein Verbrechen?”

“Und Polly? Sie hast du auch immer vor allem und jedem gerettet.”

“Und du rettest immer Shelly vor allem und jedem.”

“Na gut. Das Retten von Schwestern lassen wir hierbei mal außen vor. Zurück zu der Frau.”

“Grace.”

“Grace.” Sie nickte. “Wenn du wachsam bleibst, ist es wahrscheinlich in Ordnung, mit ihr auszugehen. Denk nur daran, dass sie zurzeit wohl nicht allzu überlegt handelt.”

“Sprichst du da aus Erfahrung?”

“Was willst du damit andeuten?”

“Ich will keine alten Wunden aufreißen. Aber Shelly hat mir erzählt, dass dein Verlobter dich vor wenigen Monaten verlassen hat.”

“Wir reden aber gerade von dir, Rory, nicht von mir.” Sie lachte, so als wollte sie ihn ärgern, doch in Wahrheit war sie einfach nur nicht in der Stimmung, über Pete und ihre gescheiterte Beziehung zu reden.

“Da habe ich wohl ins Schwarze getroffen”, sagte er ernst. Sein intensiver grüner Blick lag auf ihrem Gesicht, und sein Mitgefühl verunsicherte sie. Der Zauber eines Beschützers.

“Reden wir von Grace”, wechselte sie das Thema, wenn Grace auch das Letzte war, worüber sie sprechen wollte. Doch da diese Frau anscheinend Rorys neues Lieblingsthema war, unterhielten sie sich darüber, bis Daria zu ihrer Klasse aufbrechen musste. Als sie sich langsam vom Sea Shanty entfernte, wurde ihr bewusst, dass sie sich in eine Rolle manövriert hatte, die sie partout nicht wollte: Rorys Sommervertraute.