4. KAPITEL
Allmählich verblasste das Tageslicht, und Rory wurde von einer Mücke gestochen. Wenn er und Zack noch länger draußen sitzen wollten, würden sie eine Citronella-Kerze anzünden müssen. Sie hatten auf der nach hinten gelegenen Dachterrasse zu Abend gegessen, von wo aus sie nach Osten einen fantastischen Ausblick über den Ozean hatten und im Westen über der Bucht die untergehende Sonne beobachten konnten. Zwischen dem Poll-Rory und der Bucht lagen unzählige Cottages, viel mehr als in Rorys Erinnerung. Doch sie konnten seiner Freude, wieder in Kill Devil Hills zu sein, keinen Abbruch tun.
Sie hatten sich in einem Restaurant das typische North-Carolina-Barbecue geholt – einen der kulinarischen Leckerbissen, nach denen er sich seit seiner Entscheidung für diese Reise die Lippen geleckt hatte.
“Wir könnten uns doch jeden Abend was zu essen holen”, schlug Zack vor, während er die Einwegbox schloss und eine Dose Limo zum Mund führte.
“Na ja, ab und zu schon”, sagte Rory. Er kochte für sein Leben gern, und nachdem er zwei Jahre fast ausschließlich nur sich selbst verköstigt hatte, freute er sich nun darauf, in der rudimentär ausgestatteten Küche des Poll-Rory das Essen für sich und seinen Sohn zuzubereiten.
“Das ist echt verrückt”, wunderte sich Zack beim Blick in den dämmernden Himmel. “Ich werde mich nie an die Ostküstenzeit gewöhnen.”
“Natürlich wirst du das”, erwiderte Rory. Allerdings hatten sie tatsächlich recht spät gegessen, weil ihre Mägen sich immer noch in L. A. wähnten. “Morgen um neun gibt es Frühstück, und dann sind wir wieder auf dem Damm.”
“Um neun? Vergiss es. Es sind Ferien. Ich schlafe aus.”
“Na gut.” Das war nun wirklich keinen Streit wert. “Du kannst so lange schlafen, wie du willst.” Er erwischte eine Mücke auf seinem Oberschenkel. “Ich gehe mal die Nachbarn gegenüber begrüßen. Kommst du mit?”
“Ich habe vor dem Essen ein paar Jungs am Strand gesehen. Sehe lieber mal nach, ob die noch da sind.”
Zumindest war Zack nicht schüchtern. Oder vielleicht wollte er nach diesem langen Tag in Zweisamkeit auch einfach nur etwas Zeit ohne seinen Vater verbringen.
“In Ordnung”, sagte Rory, “dann bis später.”
Von der Dachterrasse ging er durchs Haus nach draußen. Die warme feuchte Luft roch intensiv nach Salz und Tang, und als er die Sackgasse überquerte, ergriff ihn wieder Nostalgie. Auf dem Weg zum Sea Shanty sah er im Licht der Veranda eine blonde Frau in einem Schaukelstuhl sitzen, die in irgendeine Handarbeit vertieft war. Als sie ihn bemerkte, stand sie auf und ging zur Fliegengittertür.
“Hi”, sagte Rory. “Sind Sie Shelly?”
“Ganz genau.” Die Frau öffnete die Tür. “Und Sie sind Rory.”
“Das stimmt.” Er stand immer noch im Sand, stemmte die Hände in die Hüften und sah sie mit zur Seite geneigtem Kopf genau an. Sie hatte ein offenes Lachen, gerade weiße Zähne und ein hübsches Gesicht. Ihr seidiges Haar war hellblond. “Als ich Sie das letzte Mal gesehen habe, waren Sie nicht älter als drei.”
“Und als ich Sie das letzte Mal gesehen habe, waren Sie fünfunddreißig.” Sie lächelte verschmitzt. “Erst neulich Abend bei 'True Life Stories'.”
Er lachte. “Sechsunddreißig. Aber lass uns doch Du sagen.”
“Ja, gern. Ich kann mich zwar nicht mehr an dich erinnern, aber Daria und Chloe schon.”
“Mit wem redest du da, Shelly?” Aus dem Wohnzimmer drang eine weibliche Stimme.
“Sind sie da?”, fragte Rory. “Daria und Chloe, meine ich.”
“Ja, sie sind drinnen. Komm doch rein.” Sie trat einen Schritt zurück, um ihn hereinzulassen, und erst als er auf der Veranda stand, bemerkte er, wie groß sie war. “Hast du meinen Brief bekommen?” Shelly flüsterte fast.
“Deshalb bin ich hier.”
“Oh, vielen Dank!” Sie umarmte ihn flüchtig von der Seite und brachte ihn dann ins Wohnzimmer.
“Rory Taylor ist da”, verkündete Shelly der Frau, die mit einem Buch auf dem Sofa saß.
Rory brauchte einen Moment, bis er erkannte, dass es Chloe war. Sie legte das Buch zur Seite und stand auf. “Hallo Rory.”
Sie war immer noch schön, auch wenn sie sich seit ihrer letzten Begegnung stark verändert hatte. Ihr Haar war kurz geschnitten und umrahmte in kleinen Löckchen ihr Gesicht. Sie sah wie eine griechische Göttin aus.
“Hi Chloe”, sagte er. Er wollte schon auf sie zugehen und sie umarmen, doch ihre steife und abweisende Haltung hielt ihn zurück. Von irgendwo aus dem Haus drang das Geräusch einer Motorsäge zu ihnen herüber. Baute Mr. Cato in der Werkstatt noch immer Möbel?
“Lange nicht gesehen”, meinte Chloe. “Du erinnerst dich sicher noch an Shelly, oder?” Sie sah zu ihrer Schwester.
“Natürlich. Obwohl ich gestehen muss, dass ich sie nicht wiedererkannt hätte.”
“Ich hole Daria.” Chloe ging zur Terrassentür. “Sie ist unten in der Werkstatt. Shelly, biete Rory doch schon mal etwas zu trinken an.”
“Wir haben Limonade, Eistee, Orangensaft, Ginger Ale und Cola”, sagte Shelly, nachdem Chloe aus dem Zimmer war.
“Orangensaft klingt gut.”
“Bin gleich zurück. Warte hier.”
Er sah ihr auf dem Weg in die Küche nach. Eigenartig, nach so langer Zeit wieder in dem Cottage zu sein. Die Möbel waren neu – kein Wunder, nach all den Jahren. Das Mobiliar im Poll-Rory, das die Immobilienfirma in seinem Auftrag besorgt hatte, gehörte zum Typ “eckige Holzklötze mit robuster Polsterung”, die jeglichen tätlichen Übergriffen durch die Mieter standhielten. Die blauen und gelben, traditionell gearbeiteten Möbelstücke der Catos wirkten um einiges gemütlicher. Und das Cremeweiß, in dem die Holzpaneele an den Wänden getüncht waren, rundete diesen heimeligen Charakter perfekt ab. Noch einmal fragte er sich, ob Mr. und Mrs. Cato noch lebten. Daria sei in der Werkstatt, hatte Chloe gesagt. War sie mit ihrem Vater da unten? Er konnte sich gut an die Werkstatt erinnern. Der kleine Raum lag im Parterre zwischen den Stelzen des Hauses und roch nach Holz und Metall. Er entsann sich, dass die Catos bei jedem heraufziehenden Unwetter alle Werkzeuge nach oben bringen mussten, um sie aus der Sturmlinie zu schaffen.
“Rory!” Daria kam durchs Wohnzimmer auf ihn zu und nahm ihn zur Begrüßung in den Arm. “Ich kann gar nicht fassen, dass du wirklich in Kill Devil Hills bist.”
Er löste sich aus der Umarmung, um sie anzuschauen. Als er ihr zuletzt begegnet war, musste sie um die vierzehn gewesen sein. Vermutlich war sie auch damals schon hübsch gewesen, doch jetzt besaß sie diese seltene exotische Schönheit, die ihn einst so an Chloe fasziniert hatte – dunkle Augen und eine kräftige schwarze Mähne. Im Gegensatz zu Chloe hatte Daria noch immer die Figur eines Wildfangs – straff und zierlich mit kleinen Brüsten – und einem Bronzeschimmer auf der Haut, der durch ihre Shorts und das T-Shirt gut zur Geltung kam. Ihr Haar wurde nur mit Mühe durch einen Pferdeschwanz gebändigt und war von einem blassen Puder überzogen. Sägespäne?
“Ich bin froh, dass ihr da seid”, sagte er mit einem Blick auf Chloe, die mit vor der Brust verschränkten Armen in der Tür stand und ein schiefes Lächeln auf den Lippen hatte. “Ich habe gehofft, euch hier anzutreffen.”
Shelly kam mit dem Orangensaft herein. “Wir sind immer hier”, sagte sie.
“Wie lange bleibst du?”, fragte Daria.
“Den ganzen Sommer. Zusammen mit meinem Sohn.”
“Setz dich doch.” Sie wies auf einen der Stühle.
Er folgte ihrer Aufforderung. Chloe und Daria setzten sich aufs Sofa, und Shelly machte es sich auf dem Fußboden bequem, den Rücken gegen einen Stuhl gelehnt. Sie trug ein tiefviolettes Sommerkleid. Ihre gebräunten Beine hoben sich deutlich von dem hellen Teppich ab.
“Also, was gibt es für Neuigkeiten?”, fragte Rory. “Eure Eltern? Sind sie …?”
“Mom ist vor vierzehn Jahren gestorben”, antwortete Daria. “Und Dad im letzten Jahr.”
“Das tut mir leid”, sagte Rory. “Ihr wisst wahrscheinlich, dass meine Eltern auch nicht mehr leben?”
“Ja”, erwiderte Daria. “Der Immobilienmakler, der sich um dein Cottage kümmert, hat es uns erzählt. Was ist mit Polly? Wie geht es ihr?”
“Sie ist vor zwei Jahren gestorben.”
“Das tut mir leid, Rory”, sagte Daria.
“Ja, mir auch”, pflichtete Chloe ihrer Schwester bei. “Polly war wirklich jemand Besonderes.”
“Mmmm, das war sie”, bekräftigte er.
“Ich habe von deiner Scheidung gelesen”, wechselte Daria das Thema.
Er lachte. Sein Leben war zur öffentlichen Angelegenheit geworden. “Tja, ich schätze, ich habe keine Geheimnisse mehr.”
“Das muss komisch sein.” Daria klang mitfühlend. “Aber die Nachrichten berichten immer nur von den Fakten. Herr Soundso hat sich scheiden lassen, Frau Soundso ist in der Psychiatrie gelandet. Doch sie sagen nie, wie sich Herr und Frau Soundso nach diesen Ereignissen fühlen.”
“Guter Aspekt”, sagte Rory. “Ich kann meine Gefühle ziemlich schnell zusammenfassen: Meine Eltern zu verlieren war eine Katastrophe – sie waren viel zu jung. Polly zu verlieren war noch schlimmer, wie ihr euch sicher denken könnt.”
“Das glaube ich”, sagte Daria.
“Meine Scheidung war … schwierig, aber auf lange Sicht die richtige Entscheidung. Und mein Sohn ist das Beste, was mir jemals passiert ist. Auch wenn er das noch nicht ganz einsieht.”
“Wer ist denn überhaupt Polly?”, fragte Shelly.
“Meine Schwester.”
“Und woran ist sie gestorben?”
“Sie hatte das Downsyndrom”, antwortete Rory. “Und das hat irgendwann ihr Herz in Mitleidenschaft gezogen.”
“Sie war eine so gute Seele”, sagte Daria. “Ich weiß noch, dass sie immer einen Sonnenbrand gekriegt hat. Jeden Sommer. Und egal, wie dick eure Mom sie auch eingecremt hat.”
“Das war typisch Polly”, stimmte Rory ihr zu. “Sie war ganz und gar kein Strandhäschen.” Er sah zu Chloe. “So, jetzt, da ihr alles über mich wisst, mal zu euch dreien. Chloe? Du warst doch immer die Schlaue in der Familie. Du bist schon zum College gegangen, als ich das Wort noch nicht einmal buchstabieren konnte. Wenn ich mich recht erinnere, hast du Geschichte studiert, oder? Du wolltest Lehrerin werden. Bist du jetzt eine?”
Die drei Frauen lachten, und er zog überrascht die Augenbrauen hoch. “Ich bin auf dem Holzweg, was?”
“Nein, eigentlich nicht”, erwiderte Chloe zögernd und verlegen. “Ich unterrichte Geschichte und Englisch an einer katholischen Schule in Georgia.”
Shelly kicherte. “Chloe ist eigentlich Schwester Chloe”, sagte sie.
“Schwester Chloe?”, wiederholte er irritiert.
“Ich bin Nonne”, klärte Chloe ihn auf.
“Oh!” Er konnte seine Überraschung nicht verbergen. Chloe Cato eine Nonne? Plötzlich kam ihm wieder ins Gedächtnis, wie religiös die Cato-Familie gewesen war. Mr. Cato hatte jeden Morgen die Frühmesse besucht. Er und seine Frau waren sehr streng gewesen und hatten von Daria, Chloe und Ellen stets verlangt, ins Haus zu kommen, sobald es dunkel wurde, während die anderen Kinder noch am Strand spielen durften. Trotzdem, das war kaum zu glauben. Chloes Kopf sagte ihr vielleicht, dass sie eine Nonne sei, aber ihr Körper und ihre Schönheit taten alles, um es zu leugnen. Er konnte sich noch genau erinnern, wie sie im Bikini ausgesehen hatte: große Brüste, schlanke Taille, schmale Hüften. Die Jungs am Strand waren ihr mit hängender Zunge nachgelaufen. Jeder hatte Chloe nach dem Babyfund sofort aus dem Kreise der Verdächtigen ausgeschlossen. Denn abgesehen von ihren Brüsten war alles an ihr notorisch dünn. Fast schon krankhaft. Jetzt war ihr Körper unter knielangen weiten Shorts und einem wallenden T-Shirt versteckt.
“Es hat ihm wohl die Sprache verschlagen”, sagte Daria lachend zu Chloe.
“Ich habe das nur … einfach nicht erwartet.” Er musste über sich selbst lachen. Das erklärte Chloes reservierte Begrüßung. “Und Nonnen bekommen den Sommer über frei? Bist du deshalb hier?”
“Im Sommer arbeite ich in St. Esther's, der katholischen Kirche in Nag's Head”, erklärte sie. “Das mache ich nun schon seit ein paar Jahren. Ich leite dort das Ferienprogramm für Kinder.”
“Jetzt traue ich mich ja kaum zu fragen, was du machst, Daria”, sagte er.
“Ich bin Tischlerin.”
Rory lachte. “Das hätte ich mir ja denken können. Stimmt das auch?”
“Ja, wirklich. Wahrscheinlich habe ich auch jetzt Sägespäne in den Haaren.”
“Ich habe mich schon gefragt, was das wohl ist. Ich dachte, vielleicht ein neuer Trend auf den Outer Banks.”
“Nein, nur ein Daria-Cato-Trend.” Shelly grinste.
“Ich habe gerade an einem Bücherregal für ein Cottage in Duck gearbeitet, als Chloe kam und sagte, dass du hier bist. Hier auf den Outer Banks wird immer viel gebaut.”
“Lebt ihr das ganze Jahr über hier?”, fragte er. Trotz des Absenders auf Shellys Brief fiel ihm diese Vorstellung schwer. Für ihn waren die Outer Banks stets ein Synonym für Sommer und Strand gewesen.
“M-hm”, erwiderte Daria. “Shelly und ich leben schon seit zehn Jahren hier.”
“Wow.” Er fragte sich, wie es wohl war, auch im Winter direkt am Strand zu leben.
“Daria arbeitet auch als Rettungsassistentin”, sagte Shelly. Stolz schwang in ihrer Stimme mit.
“Ehrlich? Ist ja toll.”
“Na ja, das habe ich zumindest bis vor Kurzem. Jetzt mache ich eine kleine Pause.”
“Eine Lebensretterin.” Rory sah sie voller Bewunderung an. “Mit dieser Nebenbeschäftigung hast du ja schon früh angefangen, hm?” Er warf Shelly einen Blick zu. “Sie war erst zehn, als sie dein Leben gerettet hat.”
“Elf”, korrigierte Daria ihn.
“Weiß ich doch”, sagte Shelly. “Die Leute hier nennen sie 'Supergirl'.”
“Stimmt! Ich erinnere mich.” Er sah plötzlich die Artikel vor sich, die nach dem Auffinden Shellys in der Zeitung erschienen waren. “Sag bloß, die nennen dich nach all den Jahren immer noch so?”
“Fürchte schon”, gab Daria zurück. “So werde ich wohl auch noch mit sechzig heißen.”
“Weil sie nach wie vor Menschen rettet”, erklärte Shelly. “Sie ist die Heldin der Stadt.”
“Ich werde diesen Tag niemals vergessen.” Sollte er ihnen jetzt den eigentlichen Grund für seinen Besuch in Kill Devil Hills verraten? Nein, zuvor musste er noch mehr Neuigkeiten erfahren. Er stellte sein leeres Glas auf dem Couchtisch ab. “Wohnt sonst noch jemand von früher in der Straße? Mir ist aufgefallen, dass Cindy Trumps Cottage nicht mehr da ist.”
“1982 gab es hier einen heftigen Sturm”, erzählte Daria. “Das Meer hat ihr Haus einfach verschluckt. Das Sea Shanty wurde auch stark beschädigt, aber dein Cottage blieb verschont.”
“Die Wheelers sind noch hier”, sagte Chloe. “Erinnerst du dich an sie? Sie wohnen nebenan.”
“Immer noch?” Er erinnerte sich an ein älteres Ehepaar, das abends oft Hand in Hand am Strand entlangspaziert war. “Die leben noch?”
“Sie sind erst Mitte siebzig”, sagte Daria. “In ihrem Cottage tummeln sich den gesamten Sommer über ihre Enkelkinder.”
“Kennt er Linda und die Hunde?”, wollte Shelly wissen.
“Ja, du kennst doch noch Linda, oder?”, fragte Daria.
Er kniff die Augen zusammen und rief sich ein farbloses junges Mädchen ins Gedächtnis, das am Strand lag und ihre Nase in ein Buch steckte. “Ich glaube schon.”
“Sie lebt noch in demselben Haus. Zusammen mit ihrer Freundin Jackie”, sagte Chloe. “Sie züchten Golden Retriever. Linda ist lesbisch.”
Chloe sagte das so, als hätte sie ihm erzählt, Linda sei Lehrerin oder Schwimmtrainerin. Rorys Erfahrungen mit Ordensschwestern waren eher gering, doch er war davon ausgegangen, dass Chloe sich zu einem Moralapostel entwickelt hatte. Nun hoffte er, dass ihre sachliche Beschreibung von Lindas Lebenssituation ein Indiz für das Gegenteil war.
“Man kann eben nie wissen, wie sich die Leute entwickeln, stimmt's?”, stellte Rory fest. “Was ist mit eurer Cousine Ellen? Was macht sie?”
“Sie ist verheiratet”, erzählte Chloe. “Alle paar Wochen kommt sie übers Wochenende mit ihrem Mann und den Kindern her.”
“In diesem Sommer nicht”, sagte Daria. “Ich meine, Ellen und Ted werden vermutlich schon kommen, aber nicht ihre Töchter. Die reisen durch Europa. Ist so ein Austauschprogramm von der Highschool”, erklärte sie Rory. “Ellen ist medizinisch-technische Assistentin. Sie macht den lieben langen Tag Mammografien.” Daria und Chloe fingen an zu lachen. “Ich weiß nicht, ob du dich noch an ihre Art erinnerst. Aber dieser Job passt perfekt zu ihr.”
Rory grinste. “Wenn ich mich recht entsinne, hatte sie leicht … sadistische Züge.”
“Du sagst es”, bestätigte Chloe.
“Und was ist mit den Zwillingen, die neben mir wohnten?”, fragte Rory. “Jill und … ihr Bruder. Ich weiß seinen Namen nicht mehr.”
“Jill und Brian Fletcher”, meinte Daria. “Jill lebt noch hier.”
“Die Lagerfeuer-Lady”, sagte Shelly.
“Genau.” Daria sah Rory an. “Erinnerst du dich noch an das Lagerfeuer, das wir jedes Jahr am Ende des Sommers unten am Strand gemacht haben?”
Er hatte es vergessen, doch die Erinnerung kam schnell zurück. Lodernde Flammen. Leckeres Essen. Das Rauschen des Ozeans. Willige Mädchen und der schützende Mantel der Dunkelheit. Er nickte.
“Jill hat die Tradition aufrechterhalten”, erzählte Daria. “Jedes Jahr muss sie eine Sondergenehmigung einholen, weil offene Feuer am Strand nicht mehr erlaubt sind. Und sie muss das Feuer nah am Wasser machen. Aber sie ist wie vernagelt. Sie hat zwei Kinder, beide Teenager, und an den Wochenenden kommt ihr Mann hierher. Über ihren Bruder weiß ich gar nichts.” Daria sah zu Chloe, die die Achseln zuckte.
“Hab ihn schon seit Jahren nicht mehr gesehen”, sagte Chloe.
Rory freute sich, dass einige der früheren Anwohner noch immer da waren. Auch wenn er enttäuscht war, dass Cindy Trump nicht dazu gehörte. Er hatte immer geglaubt, sie verwahre den Schlüssel zum Geheimnis um das Findelkind.
Er sah Shelly an. Was für eine faszinierende junge Frau. Wie sie so vor ihnen auf dem Boden saß, schien sie nur aus Armen, Beinen und seidigem Haar zu bestehen. Seit seiner Ankunft lag dasselbe unverdorbene Lächeln auf ihren Lippen, und sogleich war ihm ihre kindlich-naive Art zu sprechen aufgefallen. Er hatte genügend Zeit mit Polly verbracht, um so etwas zu bemerken, und fragte sich, ob sie durch ihren unsanften Lebensbeginn eine leichte Gehirnschädigung davongetragen hatte.
“Was ist mit dir, Shelly?”, fragte er. “Was machst du?”
“Ich arbeite als Haushälterin in der St.-Esther's-Kirche”, erzählte sie stolz. “Und ich entwerfe Muschelschmuck.”
“Muschelschmuck?”, wiederholte er.
“M-hm.” Sie erhob sich und verschwand für einen Moment auf der Veranda. Dann kam sie mit einem Kropfband in der Hand zurück: An der Vorderseite zierte ein kleiner vergoldeter Seestern inmitten eines Strangs winziger Muscheln den Stoff. Rory war beeindruckt. Er hatte etwas Kitschiges erwartet, aber das hier war alles andere als geschmacklos.
Er sah zu ihr auf. “Das ist hübsch”, sagte er und fuhr mit dem Finger vorsichtig über das Schmuckstück. “Ist das ein echter Seestern?”
“Ja”, antwortete Shelly. Sie nahm das Schmuckstück wieder an sich. “Ich sammle die Muscheln am Strand. Aber es ist schwer, einen Seestern in dieser Größe zu finden.”
“Das ist wirklich wunderschön, Shelly”, sagte er. “Und was machst du mit dem fertigen Schmuck?”
“Ich verkaufe ihn in einem Souvenirladen, auf …” Sie sah Daria fragend an.
“Auf Kommission”, half Daria ihr.
“Ziemlich cool, was?”, sagte Shelly und lächelte ihn an.
“Ja, allerdings.” Auf Rorys Gesicht machte sich ein strahlendes Lächeln breit. Irgendetwas an Shelly berührte ihn. Erinnerungen an Polly vielleicht. Oder möglicherweise war es auch nur diese unschuldige Freude, die sie ausstrahlte.
“Erzähl uns von deinem Sohn”, forderte Chloe ihn auf.
“Oh.” Rory blickte zum Himmel, der immer dunkler wurde. Ob Zack am Strand schon Freunde gefunden hatte? “Er ist ein typisch kalifornisches Kind, das überhaupt keine Lust hat, hier zu sein. Aber …”, er streckte sich und seufzte, “ich hoffe, er wird sich noch daran gewöhnen. Er ist ein guter Junge. Nur ein bisschen verkorkst durch die Scheidung.” Rory fragte sich, was Chloe von Scheidungen hielt – oder von dem Ausdruck “verkorkst” in diesem Zusammenhang. Musste er in ihrer Gegenwart auf seine Wortwahl achten?
Er lehnte sich abrupt vor. “Wie dem auch sei”, sagte er und kam zum offiziellen Teil seines Besuchs, “vor ein paar Monaten habe ich Shellys Brief erhalten. Und ich habe mich dazu entschlossen, ihrer Bitte nachzukommen, also herauszufinden, wer sie vor zweiundzwanzig Jahren am Strand ausgesetzt hat. Ich möchte gern eine Folge mit ihr bei 'True Life Stories' machen.”
Totenstille herrschte im Raum. Chloe und Daria tauschten einen Blick, und Rory entging nicht die Missbilligung, die sich in ihren Gesichtern spiegelte. Shelly lächelte verlegen, und plötzlich begriff Rory, dass sie den Brief ohne das Wissen ihrer Schwestern geschrieben hatte.
“Das ist ja so cool!”, sagte Shelly endlich. “Danke, Rory.”
Daria sah ihre jüngere Schwester an. “Du hast Rory einen Brief geschrieben?”
Shelly nickte.
“Warum hast du mir davon denn nichts erzählt, Süße?” Darias Stimme klang streng, wenn auch nicht unfreundlich. Trotzdem hatte Rory augenblicklich Mitleid mit Shelly.
“Der Brief war wirklich wunderbar”, sagte er schnell. “Eine wundervolle Idee. Und wenn ich die Antwort bei meiner Recherche nicht finde, Shelly, kennt vielleicht einer der Zuschauer die Wahrheit und meldet sich bei mir.”
Chloe setzte sich in den Schneidersitz. “Ich glaube, das ist keine so gute Idee, Rory”, gab sie zu bedenken. “Warum an einer Sache rühren, die schon über zwanzig Jahre her ist?”
“Chloe hat recht”, pflichtete Daria ihrer Schwester bei. “Tut mir leid, wenn ich dir einen Strich durch die Rechnung machen muss, aber Shelly ist eine Cato. Das war sie von Anfang an. Natürlich haben wir um das, was ihr widerfahren ist, nie ein Geheimnis gemacht. Aber sie ist eine von uns. Ein wesentlicher Teil von uns. Wer sie zur Welt gebracht hat, spielt keine Rolle.”
Zum ersten Mal seit seiner Ankunft war das Lächeln aus Shellys Gesicht verschwunden. “Ich weiß, dass ich eine Cato bin”, sagte sie zu Daria. “Aber ich bin auch noch irgendetwas anderes. Und ich wollte schon immer wissen, was dieses Irgendetwas ist.”
Daria war überrascht. “Davon hast du nie ein Wort gesagt, Shelly. Nicht ein einziges Mal.”
“Weil ich dachte, ich könnte es sowieso nicht herausfinden. Aber dann habe ich eines Abends 'True Life Stories' gesehen, und ich wusste, dass Rory hier gewohnt hat, als ich gefunden wurde, und dass er solche Rätsel immer lösen kann. Also … wenn er es versuchen will …”, sie zog die Schultern hoch, “… dann will ich, dass er es macht.”
Er hatte nicht mit Widerstand gerechnet. Aber wenn Chloe und Daria von dem Brief nichts gewusst hatten, war es nur verständlich, dass sie von seinem Vorhaben nicht begeistert waren. War er zu aufdringlich? War Shellys Bitte wirklich Grund genug für ihn, sich in ihr aller Leben einzumischen?
“Tja”, er stand auf. “Ich muss darüber wohl noch mal nachdenken.” Shelly biss sich auf die Unterlippe. Zwischen ihren Augenbrauen formte sich eine Falte. “Und jetzt gehe ich besser nach Hause und sehe nach, was mein Sohn macht.”
“War schön, dich wiederzusehen”, sagte Chloe. Sie blieb sitzen.
Daria stand auf und brachte ihn zur Verandatür. “Ich hoffe, du kommst öfter mal vorbei, Rory”, sagte sie.
“Danke. Das mache ich bestimmt.”
“Entschuldige bitte, dass Shelly dir Umstände gemacht hat …”
“Das hat sie nicht. Keineswegs.”
Daria schüttelte sich ein paar Sägespäne aus dem Haar. Im Licht der Veranda sah Rory ihren sorgenvollen Blick. “Ich glaube einfach, es wäre ein Fehler, der Sache auf den Grund zu gehen”, begann sie zu erklären.
Er legte ihr die Hand auf den Arm. “Lass uns noch mal in Ruhe darüber sprechen, ja?”
Als Shelly ihn einholte, hatte er schon die Mitte der Sackgasse erreicht.
“Rory, warte kurz”, bat sie.
Er blieb stehen und drehte sich um. Das Terrassenlicht des Poll-Rory warf einen schwachen Schimmer auf ihr Gesicht.
“Was gibt's?”, fragte er.
“Bitte, Rory. Ich möchte immer noch, dass du meine richtige Mutter findest”, bettelte sie. “Ich möchte es so gern wissen.”
Er zögerte. “Deine Schwestern haben starke Bedenken.”
“Ich weiß, aber hierbei geht es doch um mich, oder?”
Aufmerksam betrachtete er ihr Gesicht. In den Augen dieser erstaunlichen jungen Frau lag große Hoffnung, und er konnte nicht anders, als sie anzulächeln. “Du hast recht, Shelly. Es geht um dich.”