26. KAPITEL
Die Augen der Pilotin sind braun. Braun und groß und panisch, während ihr Gesicht im schwarzen Wasser versinkt. Daria klammert sich an ihren Arm, versucht, sie über Wasser zu halten, doch das Flugzeug sinkt weiter. Sie dreht sich zu Shelly um und sieht, wie sie sich mit beiden Händen am Propeller festhält und das Flugzeug samt Pilotin nach unten drückt. Sie schreit Shelly an, sie solle loslassen, doch Shelly lässt nicht los.
“Eigentlich willst du doch gar nicht, dass ich loslasse”, ruft sie Daria zu. Und das Flugzeug sinkt unter die Wasseroberfläche, nimmt die Pilotin mit, reißt Daria unter Wasser, die vergebens darum kämpft, die Pilotin nach oben zu ziehen.
Daria saß senkrecht im Bett und schnappte nach Luft, als wäre sie tatsächlich zu lange unter Wasser gewesen. Ihre Bettwäsche war schweißnass, und sie brauchte einen Moment, um sich zurechtzufinden: Sie war in ihrem Schlafzimmer im Sea Shanty. Über dem dunklen Raum lag eine unheimliche Stille. Sie konnte kaum das Rauschen der Wellen hören, die sich am Strand brachen.
Erleichtert stellte sie fest, dass sie sich am trockenen Land befand, doch die Erleichterung war von Kummer getrübt: Ja, es war nur ein Traum, jedoch einer, der in der Wirklichkeit wurzelte.
An Schlaf war jetzt nicht mehr zu denken, das kannte sie schon. Sie wagte ohnehin nicht, die Augen zu schließen, aus Angst, die Pilotin könnte zurückkehren. Also stand sie auf, zog ihren Bademantel über, ging barfuß nach unten und setzte sich auf die Stufen vor der Veranda. Die Nacht war warm und wie Balsam für ihre Seele, die Art von Sommernacht auf den Outer Banks, die sie Zeit ihres Lebens wie einen Schatz gehütet hatte. Doch die milde Luft und das rhythmische Plätschern der Wellen, die ans Ufer schlugen, beruhigten sie nicht so wie sonst. Sie lehnte sich gegen die Fliegengittertür und sah in den Sternenhimmel.
Die Verandatür des Poll-Rory quietschte beim Öffnen, und nur wenige Augenblicke später überquerte Rory die Straße. Sie setzte sich aufrecht hin.
“Was machst du hier mitten in der Nacht?” Seine Stimme war leise, so als bemühte er sich, niemanden zu wecken. Er setzte sich neben sie auf die Treppe.
“Dasselbe könnte ich dich fragen.”
“Ich bin ein Nachtmensch. Und was ist deine Ausrede?”
Sie bettete den Kopf auf ihre Arme. “Ein Albtraum”, antwortete sie. “Der Flugzeugabsturz. Die Pilotin ist ein weiteres grauenhaftes Mal vor meinen Augen ertrunken.”
Er legte ihr die Hand in den Nacken, massierte ihn leicht, und sie schloss die Augen und wünschte sich, er würde nie damit aufhören.
“Du wirst die Erinnerung an diese Nacht einfach nicht los, hm?”
“In diesem Traum war Shelly eine richtige Hexe.” Daria schauderte, als sie die Kriegslust ihrer Schwester wieder vor sich sah. “Sie wollte den Propeller nicht loslassen. Sie hat gesagt, ich würde das gar nicht wollen. Was zum Teufel hat das zu bedeuten?”
Rorys Finger vergruben sich noch etwas tiefer in ihrem Nacken, glitten dann in die Haare. “Ich glaube nicht an die tiefere Bedeutung von Träumen”, sagte er. “Ich glaube, du hast in Bezug auf diese Nacht noch nicht alles geklärt. Das ist alles.”
Er hatte recht. “Ich muss ständig an ihre Familie denken”, meinte Daria. Die Wange ruhte auf ihrem Knie, die Worte purzelten nur so aus ihrem Mund. “Ich weiß überhaupt nichts über diese junge Frau. Ich weiß nicht, warum sie schon mit achtzehn Pilotin war. Ich weiß nicht, ob sie Geschwister hatte oder einen Freund, der nun denkt, ohne sie nicht leben zu können. Ich kenne noch nicht mal ihren Namen, obwohl ich ihn während des Unfallgeschehens vermutlich wusste. Hätte ich doch versucht, ihre Familie zu kontaktieren. Ich war der letzte Mensch an ihrer Seite. Wenn ich einen wichtigen Menschen verloren hätte, würde ich wissen wollen, wie seine letzten Minuten waren. Auch wenn es, wie in diesem Fall, keine tröstliche Information wäre. Aber ich könnte ihnen doch gar nicht sagen, was wirklich geschehen ist. Wie ich es auch sonst keinem erzählt habe.”
“Außer mir.”
Sie öffnete die Augen, hob den Kopf und lächelte ihn an. “Außer dir.”
Er nahm die Hand von ihrem Nacken und legte sie in seinen Schoß. “Na ja, es ist doch noch nicht zu spät, oder? Glaubst du nicht, sie würden es zu schätzen wissen, nach all der Zeit von dir zu hören? Wenn ich in ihrer Haut stecken würde, täte es mir gut zu wissen, dass sich der Rettungsdienst immer noch mit dem Schicksal meiner Tochter befasst. Und vielleicht würde es dir helfen, Daria. Vielleicht würdest du dann endlich zur Ruhe kommen.”
“Ich habe gar nicht ernsthaft darüber nachgedacht”, gestand sie. “Ich schätze, ich habe Angst, weil ich sie anlügen müsste.”
“Aber vielleicht würde es dir besser gehen, wenn du siehst, dass ihr Leben weitergeht. Vorausgesetzt, natürlich, dass es weitergeht. Das ist wohl das Risiko, das du in Kauf nehmen musst, wenn du sie kontaktierst. Doch egal, was du herausfindest – du würdest dich zumindest endlich mit der Wirklichkeit auseinandersetzen und nicht mit deiner Fantasie. Ich bin mir sicher, dass deine Albträume dann ein Ende hätten.”
“Ja, vielleicht hätten sie das.” Diese Vorstellung erleichterte sie ein wenig. Rory hatte recht. Es täte gut zu wissen – genau zu wissen –, wie es den Angehörigen der Pilotin ging.
Hundegebell ließ die beiden hochschrecken. Sie sahen zum Strand und erblickten Linda, die gerade mit drei Hunden die zur Sackgasse gelegene Düne überquerte. Als sie sie sah, winkte sie den zweien zu und setzte dann den Weg zu ihrem Haus fort. Das Hecheln der Hunde durchschnitt die stille Nachtluft.
“Noch jemand, der heute Nacht keinen Schlaf findet”, bemerkte Rory.