6. KAPITEL

Grace platzierte einen Löffel Schlagsahne auf der Tasse Mokka und schob sie über den Tresen zu Jean Best, einer Stammkundin des “Beachside Café and Sundries”.

“Wie geht es dir, Grace?”, fragte Jean. Ihr Blick war besorgt und ihre Anteilnahme aufrichtig, doch Grace begann, die Espressomaschine zu reinigen, und verbarg ihr Gesicht dahinter.

“Alles in Ordnung, Jean”, antwortete sie. “Danke der Nachfrage.” Eigentlich hätte sie sich nun nach Jeans gebrechlicher Mutter erkundigen und fragen müssen, wie es mit dem Hausverkauf lief. Aber sie wollte sich weder mit ihr noch mit sonst wem unterhalten.

“Das freut mich zu hören”, sagte Jean, die den Fingerzeig verstanden hatte und sich von der Theke abwandte. “Danke für den Kaffee.” Graces erleichterten Blick im Rücken, steuerte sie einen kleinen Tisch am Fenster an, von wo aus sie einen herrlichen Blick über die Pamlico-Bucht hatte.

Das “Beachside Café and Sundries” war klein, stets überfüllt und bei Einheimischen wie Touristen gleichermaßen beliebt. Vor acht Jahren hatten sie und Eddie es mit dem Geld eröffnet, das seine Mutter ihm hinterlassen hatte. Sie führten einige Schreibwaren und anderen Schnickschnack, doch im Grunde waren sie für ihren Kaffee und die Sandwiches bekannt. Hier gab es die ganze Palette von Avocado- und Käse- bis zu italienischen Sandwiches. Für jeden Geschmack etwas. Das Café war einst ein Werk der Liebe, ein Spiegelbild ihrer Liebe gewesen, und die Leute hatten stets das warme und innige Verhältnis bestaunt, das sie und Eddie auch nach zwanzig Jahren Ehe noch vereinte. Jetzt staunte niemand mehr.

Grace belegte zwei Sandwiches für ein ihr unbekanntes Pärchen. In letzter Zeit umgab sie sich lieber mit Fremden, mit Menschen, die sie nicht kannten und die nichts von alldem wussten, was sie in den letzten Monaten durchgemacht hatte. Sie wollte kein Mitleid. Und am wenigsten wollte sie darüber reden. Denn wenn sie reden müsste, würde sie in winzige Stücke zerspringen. Und das konnte sie sich nicht erlauben.

Ihre Stammkunden sorgten sich um sie. Darüber, wie dünn sie geworden war und wie zerbrechlich sie schien, körperlich wie seelisch. Sie kommentierten ihre Blässe und ihre Zerstreutheit. Wenige Wochen zuvor hatte sie eine Unterhaltung zwischen zwei ihrer Kunden mit angehört. Einer hatte gesagt: “Grace ist gerade einfach nicht sie selbst”, und das war inzwischen ihr Mantra geworden. Wann immer sie sich dabei ertappte, etwas für sie Untypisches zu denken oder zu tun – was in letzter Zeit häufig vorkam –, hörte sie die Stimme in ihrem Kopf: Grace ist gerade einfach nicht sie selbst.

Sie hörte Eddie in dem kleinen, hinter dem Tresenbereich gelegenen Büro am Computer schreiben und dachte darüber nach, wie viele der Stammgäste wohl von ihren Beziehungsproblemen wussten. Man musste es einfach merken. An die Stelle der einst fröhlichen Atmosphäre des “Beachside Café” war eine fast greifbare Spannung zwischen Eddie und ihr getreten. Vielen Kunden war auch bekannt, dass sie das Apartment über der Garage bezogen hatte, das die beiden für gewöhnlich an Sommertouristen vermieteten. Wie genau die Leute davon Wind bekommen hatten, konnte sie sich zwar nicht erklären. Doch da es in dem Touristenort Rodanthe nur wenige Einheimische gab, erfuhr man eben schnell und detailliert von den Angelegenheiten der anderen. Und natürlich kannte jeder die Gründe für die Veränderungen, die in ihr und ihrer Ehe vorgegangen waren.

“Grace?” Eddie steckte den Kopf durch die Tür. “Telefon.”

Grace trocknete sich die Hände am Handtuch unter der Theke ab und ging ins Büro. Sie nahm ihm den Hörer aus der Hand.

“Ich passe so lange vorne auf”, sagte er im Rausgehen.

Sie nickte, sah ihm jedoch nicht in die Augen. Als er draußen war, hob sie den Hörer ans Ohr. “Hallo?”

“Hallo Grace, hier ist Bonnie.”

“Bonnie!” Es gab nur einen Menschen, mit dem Grace zurzeit sprechen konnte, und das war Bonnie, ihre älteste und liebste Freundin. Doch Bonnie rief nur selten an. Sie lebte in San Diego und schrieb ein-, zweimal im Monat einen Brief oder eine E-Mail. Zum Telefon griff sie so gut wie nie, und genau deshalb war Grace beunruhigt. “Ist alles in Ordnung?”, fragte sie.

“Hier ist alles bestens”, antwortete Bonnie. “Aber ich wollte mal hören, wie es bei dir so aussieht.”

“Ach, weißt du …” Grace setzte sich auf den Schreibtischstuhl und fuhr sich mit der Hand durchs Haar. “Die letzten Wochen waren anstrengend.”

“Ich würde dir so gern irgendwie helfen. Und ich befürchte, dass mein Anruf alles nur noch verschlimmert. Aber ich wollte, dass du …”

“Ich weiß wirklich nicht, wie du die Sache noch verschlimmern könntest, Bon”, unterbrach Grace sie.

Bonnie zögerte. “Sagt dir der Name Rory Taylor was?”, fragte sie endlich.

“Aber sicher. 'True Life Stories'.”

“Genau. Nun ja, ich habe in einem dieser Käseblätter aus Hollywood geschmökert, und da stand so ein winziger Artikel – den hätte ich fast übersehen. Darin hieß es, dass er diesen Sommer in Kill Devil Hills verbringt.”

Grace zog die Stirn kraus. Was in aller Welt ging sie das an? “Und?”, fragte sie.

“Er ist dort …” Bonnie atmete schwer. “Er ist dort, um dem Geheimnis um das Baby auf den Grund zu gehen, das vor zweiundzwanzig Jahren am Strand von Kill Devil Hills gefunden wurde. Er will darüber in seiner Sendung berichten.”

Grace schwieg. Ein Schauder jagte ihr über den Rücken. “Wozu?”, fragte sie. Obwohl sie sich um Haltung bemühte, bebte ihre Stimme.

“Genau weiß ich das nicht”, antwortete Bonnie. “Aber normalerweise lüftet er in seiner Show Geheimnisse. Zum Beispiel, wer die Mutter des Babys ist.”

Grace schloss die Augen. “Ich habe in letzter Zeit wirklich oft an dieses Baby gedacht.”

“Das weiß ich doch”, säuselte Bonnie.

“Warum ausgerechnet jetzt?” Grace schnürte es vor Wut die Kehle zu. “Warum muss jemand nach so langer Zeit darin herumwühlen …”

“Ich weiß. Das ist der falsche Moment. Nicht, dass es je einen richtigen Moment dafür gäbe. Gracie, wie geht es dir sonst? Was sagt der Arzt?”

Grace ignorierte die Frage. “Weißt du, wen ich hasse?”, fragte sie. “Wen ich aus tiefster Seele verachte? Selbst nach all den Jahren noch?”

Bonnie zögerte kurz, ehe sie fragte: “Wen?”

“Die Krankenschwester. Schwester Nancy. Diese Frau würde ich gern mal in die Finger kriegen.”

“Ich weiß.” Bonnie sprach mit beruhigender Stimme. “Mir geht es genauso. Sieh mal, Grace, ich mache mir Sorgen um dich. Vielleicht hätte ich es dir nicht erzählen sollen. Aber ich wollte nicht, dass du es auf andere Art erfährst. Soll ich zu dir kommen? Vielleicht kann ich dir irgendwie helfen.”

“Nein, nein. Es geht schon.”

“Ich bin sicher, Eddie wäre gern für dich da, wenn du ihn nur lassen würdest. Aber er hat gesagt, du schließt ihn völlig aus.”

“Er hat sich selbst ausgeschlossen”, sagte Grace, obwohl sie wusste, dass es nicht stimmte – und dass Bonnie das vermutlich auch wusste. Eddie wäre für sie da, doch zurzeit ertrug sie nicht einmal seinen Anblick. Aus dem Café hörte sie seine tiefe Stimme, die sie einst anziehend gefunden hatte. Er lachte mit einem Kunden. Lachte. Sie presste den Hörer fester ans Ohr, um das Geräusch auszublenden.

Bonnie äußerte noch ein paar Worte der Anteilnahme, Worte des Trostes, doch Grace hörte sie kaum. Sie war zu sehr mit dem Gedanken an Rory Taylor beschäftigt, der auf der Jagd war nach Anhaltspunkten zum Schicksal dieses Findelkindes. Und als sie nach dem Gespräch den Hörer auf die Gabel legte, hatte sie bereits einen Plan.