38. KAPITEL

Daria und Chloe liefen den Strand südwärts hinunter, Rory und Zack nach Norden. “Wenn Shelly hier draußen ist, werden wir sie finden”, hatte Rory ihr versichert. Daria hatte ihnen von Shellys Verschwinden erzählt, nachdem sie das Sea Shanty von oben bis unten durchsucht hatte. In der Werkstatt, in den Schränken und unter den Betten hatte sie nachgesehen, doch Shelly war nicht zu finden gewesen. Pete hatte recht, dachte sie. Shellys Urteilsvermögen war eine Katastrophe. Sie brauchte mehr Beaufsichtigung, als Daria ihr geben konnte.

Am Strand hielten sich noch einige wackere Gestalten in Windjacken auf. Die Haare flatterten wild um ihre Gesichter, während sie aufs Meer hinausblickten und sich den dunkler werdenden Himmel und die peitschenden Wellen ansahen. Daria und Chloe sprachen kein Wort. Es war zu anstrengend: Der Wind würde die Worte verschlucken, kaum, dass sie den Mund verlassen hätten. Schon das Gehen war mühsam, und der Gedanke an Shelly, die irgendwo da draußen den Dingen allein trotzen wollte, trieb Daria an den Rand der Verzweiflung. Doch nachdem sie, Chloe, Rory und Zack den Strand in beide Richtungen sorgfältig abgesucht hatten, war sie sicher, dass sich ihre Schwester doch nicht am Meer aufhielt. Auch die Sturm-schaulustigen waren verschwunden. Vermutlich hatten sie den Rat des Wetterdienstes befolgt und befanden sich bereits auf dem Weg aufs Festland.

Nochmals suchte Daria jeden Winkel ihres Hauses ab, sah sogar in ihrem Wagen nach sowie in den Autos von Chloe und Rory – doch nichts. Es war fast Mittag, und Jill und ihre Familie, Linda, Jackie und die Hunde hatten die Sackgasse schon längst verlassen. Allein die Wheelers waren noch da. Sie packten ihren Geländewagen und den Kombi mit Koffern und Kindern voll.

Daria stand mit Rory auf der leer geräumten Veranda. Sie hatte eine Heidenangst. Das volle Haar wirbelte um ihren Kopf, und sie zog den Anorak enger um den Körper. “Du und Zack müsst jetzt auch weg von hier”, sagte sie.

“Und was hast du vor?”

“Ich fahre nicht ohne Shelly.” Das Zucken um ihren Mund verriet ihren Kummer, und Rory drückte zärtlich ihren Arm.

“Dann bleibe ich auch.” Er sah zum Wheeler-Cottage hinüber. “Ich will nur schnell fragen, ob Zack mit ihnen fahren kann; der wird ausrasten vor Freude. Dann kann ich bei dir bleiben.”

“Du solltest besser mitfahren”, riet Daria, obwohl es ihr das Herz brach. “Vielleicht können wir später nicht mehr weg, und dann könnte es gefährlich werden. Und wartet Grace nicht auch im Motel auf dich?”

“Ja, aber wenigstens ist sie dort in Sicherheit. Ich kann nicht einfach fahren, wenn ich weiß, dass Shelly hier noch irgendwo ist.” Wieder warf er einen Blick zur Auffahrt der Wheelers. “Ich bin gleich zurück.”

Sie sah ihm nach, als er zu den Nachbarn hinüberging und mit Ruth Wheeler sprach. Die Tränen brannten in ihren Augen, so sehr wünschte sie sich, dass er blieb. Nur wenige Momente später lief er zum Poll-Rory, vermutlich, um Zack vorzuschlagen, mit den Wheelers zu fahren. Daria stand immer noch auf der Veranda, als Zack mit einem Seesack über der Schulter in der Tür erschien. Auf dem Weg zu den Wheelers winkte er ihr zu. Fast zeitgleich kam Rory wieder auf die Terrasse. “Alles klar”, sagte er. “Ich gehöre dir, solange du mich brauchst.”

Chloe betrat die Veranda. “Wie ich Shelly kenne, hat sie sich in einem der leeren Cottages verkrochen”, meinte sie. “Wir sollten überall nachsehen.”

Chloe könnte recht haben. Genau das hatte Shelly schon vor einigen Jahren während eines Sturms gemacht. Sie war raffiniert genug, um irgendwo hineinzukommen. Aber war sie auch klug genug, ein Haus auszusuchen, das möglichst weit vom Wasser entfernt stand? Doch das alles war nichts als Spekulation. Sie könnte überall sein. “Nur – wenn sie tatsächlich in einem der Cottages ist, wird sie nicht öffnen, wenn wir klopfen”, gab Daria zu bedenken.

“Deshalb werden wir ja auch nicht anklopfen”, sagte Chloe. “Wir schleichen nur um die Häuser herum und sehen nach, ob wir sie irgendwo entdecken.”

“Ich fange bei Jill an”, meinte Rory. “Danach teilen wir uns auf und suchen die Straßen auf der anderen Seite der Strandstraße ab.”

“Achtet auf Licht”, riet Daria ihnen, als sie gemeinsam auf die Sackgasse traten. Sie setzte die Kapuze auf und hielt sie unter ihrem Kinn mit der Hand zusammen. Inzwischen war es so dunkel geworden, dass sie die Gesichter von Rory und ihrer Schwester kaum noch erkennen konnte. Shelly liebte die Dunkelheit nicht gerade. Wenn sie tatsächlich eines der Cottages in Beschlag genommen hatte, würde sie das Licht einschalten.

Nur leider brannte nirgendwo Licht. Sie hielten an Jills und Lindas Haus Ausschau und durchforsteten danach sechs Straßen westlich der Strandstraße. Doch auch dort lagen die Häuser allesamt einsam im Dunkeln. Es könnte auch Winter sein, so ausgestorben wie alles ist, dachte Daria. Nicht einmal Autos standen an der Straße. Hin und wieder pustete sie der Wind förmlich um und trieb ihr die Tränen in die Augen. Auf ihrem Weg flogen ihr einzelne Schilder sowie ein Spielzeugeimer und ein Mülltonnendeckel entgegen – Geschosse, die durch die düstere Luft sausten.

Es hatte zu regnen angefangen, und während sich Daria zurück zum Sea Shanty kämpfte, schossen ihr die Tropfen wie Pfeile ins Gesicht. Als sie ankam, waren Rory und Chloe schon da, und jede Hoffnung, dass einer von ihnen Shelly gefunden hätte, zersprang beim Anblick ihrer niedergeschlagenen Gesichter in tausend Stücke. Sie fing an zu weinen und war überrascht, als Rory sie in den Arm nahm.

“Es geht ihr bestimmt gut”, beruhigte er sie. “Chloe und ich glauben, sie könnte in der Kirche sein.”

Auf einmal löste Daria sich aus der Umarmung. St. Esther's!

“Ich wollte gerade dort anrufen”, fügte Chloe hinzu. “Bin gleich zurück.”

Während Chloe im Haus telefonierte, malte sich Daria aus, wie Shelly sich in der Kirche versteckte. Dort würde sie sich ohne Zweifel sicher fühlen. Natürlich war sie dort! Sie hatte sogar einen Schlüssel. Der Gedanke, dass sie gesund und wohlbehalten in dem Gotteshaus war, beruhigte sie.

In dem Moment bog ein Auto in die Sackgasse ein, und in der irrationalen Hoffnung, Shelly könnte darin sitzen, ging Daria ihm entgegen. Als das Auto vor dem Sea Shanty hielt, musste sie sich breitbeinig hinstellen, um nicht umgeweht zu werden. Sie erkannte das Emblem des Sheriff-Büros an der Fahrertür, und wenig später mühte sich auch schon Deputy Don Tibble ab, die Wagentür gegen den Wind zu öffnen. Er war allein. Daria wusste, dass er vermutlich eine Kontrollfahrt durch Kill Devil Hills machte, um sicherzustellen, dass alle Einwohner ihre Häuser verlassen hatten.

“Daria?”, fragte er. “Sind Sie das?”

Die Kapuze ihres Anoraks verhüllte beinahe ihr Gesicht. “Ja”, antwortete sie. “Haben Sie Shelly irgendwo gesehen?”

Don lehnte sich gegen den Wagen, der Wind zerrte an seiner Uniform. “Sagen Sie nicht, sie ist schon wieder verschwunden!”

“Doch, und diesmal können wir sie einfach nicht finden.”

“Menschenskind, dieses Mädchen. Aber Sie wissen, dass Sie schnellstens hier wegmüssen, nicht wahr, Daria? Sonst lässt Sie der Wind nicht mehr über die Brücke. Ihnen bleiben höchstens noch dreißig Minuten.”

“Ich kann nicht ohne sie fahren.”

Don stemmte die Hände in die Hüften und blickte an ihr vorbei zum Sea Shanty. “Ist Schwester Chloe bei Ihnen?”

“Ja. Und Rory Taylor.”

“Dann gehen Sie wenigstens in ein höher gelegenes Haus.”

“Ich bleibe lieber hier, falls Shelly zurückkommt. Ich kenne die Gefahren.”

“Das weiß ich. Hören Sie, ich werde nach ihr Ausschau halten, okay? Und ich werde auch die anderen Deputies dazu anweisen.”

“Danke, Don.”

Er warf einen Blick auf die beiden Wagen in der Auffahrt. “Bringen Sie zumindest die Autos an eine höher gelegene Stelle.”

Daran hatte sie noch keine Sekunde gedacht. Ein sicheres Zeichen, dass ihr Gehirn nicht normal funktionierte. “Ja, gut”, sagte sie.

Chloe trat auf die Veranda. “Hi Don”, rief sie.

“Hallo Schwester. Ich habe Daria gerade gesagt, dass Sie wirklich besser verschwinden sollten.”

“War jemand in der Kirche?”, fragte Daria ihre Schwester.

“Nein, keine Antwort.”

Daria wandte sich an Don. “Besteht die Möglichkeit, dass Sie die St.-Esther's-Kirche kontrollieren? Shelly könnte dort sein. Aber sie wird sich bestimmt vor jedem verstecken, der versucht, sie zu finden.”

“Bruce fährt in der Gegend Streife. Ich funke ihn gleich mal an, um das abzuklären.”

Nachdem Don weggefahren war, brachten Daria, Chloe und Rory ihre Autos zur westlichen Seite der verlassenen Strandstraße. Auf dem Rückweg zum Sea Shanty durchpflügten sie Wind und Regen, und am Cottage angekommen, schafften Rory und Daria es nur mit vereinten Kräften, die Verandatür zu öffnen. Daria wusste, dass sie, einmal im Haus, nirgends mehr hingehen würden – und dass die Wahrscheinlichkeit, Shelly noch in dieser Nacht wiederzusehen, gleich null war. Sie konnte nur hoffen, dass ihre Schwester sicher und friedlich auf einer Kirchenbank schlief.

Sie öffneten die Sturmläden etwa einen Fingerbreit und sammelten dann für den Fall eines Stromausfalls Kerzen und eine Sturmlaterne zusammen. Im Wohnzimmer sahen sie sich gemeinsam im Wetterbericht die Entwicklung des Hurrikans an. Der Reporter war durchnässt und vom Wind zerzaust, obwohl er und sein Team mittlerweile nicht mehr von den Outer Banks, sondern vom Festland aus berichteten. Das Auge des Sturms steuere auf Hatteras Island zu, berichtete er. Wenigstens würde Kill Devil Hills nicht die volle Wucht abbekommen. Trotzdem – der wirbelnde Wolkenstrudel kreiste auf der Wetterkarte direkt über ihnen.

Nur die Uhr sagte ihnen, dass es Zeit zum Abendessen war. Weder hatte irgendwer besonders großen Hunger, noch war viel zu essen im Haus. Doch Daria fand noch ein wenig Käse und zwei Dosen Suppe in der Vorratskammer.

“Ich habe noch etwas Brot drüben”, bot Rory an.

“Du kannst da unmöglich rausgehen.” Daria warf einen Blick zum Fenster. Zwar konnte sie durch die Sturmläden nichts sehen, wusste jedoch, dass draußen pechschwarze Dunkelheit herrschte. Auch die Geräusche des Windes und der See klangen bedrohlich. “Du wirst weggeweht.”

“Ich glaube, wir haben noch Brötchen im Gefrierschrank”, meinte Chloe.

Sie stückelten ein Abendbrot aus Käsebrötchen und Linsensuppe zusammen und aßen gemeinsam am Küchentisch.

“Wir sind verrückt hierzubleiben”, sagte Daria. In Gedanken war sie der Zeit schon voraus. Woher sollten sie wissen, wie hoch das Wasser steigen würde? Sollten sie besser nach oben gehen, für alle Fälle? Ja, sie hatte Vertrauen in Bauweise und Fundament des Sea Shanty. Aber sie konnte sich auch noch gut an das Bild des Trump-Cottage erinnern, wie es aufs Meer hinausgetrieben war. Das war ein Wintersturm, rief sie sich ins Gedächtnis. Dieser Sommerhurrikan würde wohl kaum dieselben Ausmaße annehmen.

Sie hatten gerade den letzten abgetrockneten Teller zurück ins Regal geräumt, als das Licht zweimal flackerte und dann erlosch. Nun standen sie buchstäblich im Dunkeln.

Daria tastete auf dem Tresen nach der Taschenlampe und schaltete sie ein. “Wo auch immer Shelly jetzt sein mag, sie muss schreckliche Angst haben”, sagte sie.

“Dann ist sie beim nächsten Mal hoffentlich klüger.” Chloes Worte klangen harsch, doch der Ton ihre Stimme verriet Daria, dass sie sich genauso um Shelly sorgte wie sie selbst.

“Wo hast du das Sturmlicht hingestellt?”, fragte Rory Daria.

“Ins Wohnzimmer. Lasst uns alle rübergehen. Da steht auch das Radio.”

Im Wohnzimmer zündeten sie die Laterne und einige Kerzen an. Chloe setzte sich aufs Sofa, Rory auf einen Stuhl neben dem Radio. Nur Daria stand am Fenster und versuchte, durch die Spalte in den Sturmläden einen Blick nach draußen zu werfen. Sie wünschte, Don hätte sich gemeldet. Keine Nachrichten waren schlechte Nachrichten.

“Setz dich, Daria”, forderte Chloe sie auf. “Wir können jetzt ohnehin nichts für Shelly tun.”

Daria ließ sich auf einen Stuhl fallen. Chloe hatte recht. Sich verrückt zu machen würde auch nicht helfen.

Über dem Cottage donnerte es, und Lichtblitze drangen durch die Ritzen der Sturmläden. Eine Zeit lang lauschten sie trotz der atmosphärischen Störungen den Radioberichten, doch schon bald gaben sie es auf. Sie waren ohnehin dichter am Sturm als jeder Nachrichtensprecher. So schalteten sie das Radio aus, saßen einfach nur da und hörten dem Sturm zu.

Die Atmosphäre im Haus veränderte sich auf eigentümliche Weise. Trotz der wütenden Geräusche, die von draußen hereindrangen, war die stickige Wärme drinnen merkwürdig heimelig. Die Flammen der Kerzen durchbohrten die Dunkelheit, und trotz ihrer Sorge um Shelly entspannte sich Daria allmählich.

“Ich denke darüber nach, meinen Orden zu verlassen”, sagte Chloe unvermittelt.

In der besonderen Stimmung des Wohnzimmers klang ihre Stimme fremd und geisterhaft, und Daria verstand nicht recht.

“Du meinst … du willst in einen anderen Orden eintreten?”, fragte sie.

“Nein. Dann würde ich nirgendwo mehr eintreten.” Chloe sprach langsam. “Ich will damit sagen, ich wäre dann nicht länger Nonne. Ich würde darum bitten, mir den Dispens zu erteilen.”

Chloe.” Daria war verblüfft. “Ich dachte immer, du liebst deine Arbeit. Ich dachte, du liebst es, Nonne zu sein.”

“Oh ja, das habe ich. Das habe ich wirklich. Aber … ich glaube nicht, dass ich so weitermachen kann.”

Wie weitermachen?”

Wie hypnotisiert starrte Chloe in die Flamme der Sturmlampe. “Sean …” Sie zögerte. Dann setzte sie erneut an: “Sean hat sich in dem törichten Versuch, mich vor der Verlockung zu bewahren, das Leben genommen.”

“Ich verstehe nicht.” Daria war sich nicht sicher, ob sie es überhaupt verstehen wollte.

“Ich hatte schon immer Schwierigkeiten mit dem Keuschheitsgelübde”, gestand Chloe unverblümt. “Armut war kein Problem. Gehorsam war kein Problem.” Sie schüttelte den Kopf. “Aber es ist mir immer sehr schwergefallen, diesen Teil von mir zu verleugnen: diesen sinnlichen, sexuellen Teil. Als junge Schwester bin ich im Kloster manchmal aufgewacht und habe gemerkt, dass ich im Schlaf einen Orgasmus hatte – wohl während eines Traums –, und habe mich übel dafür beschimpft. Was stimmt nicht mit mir, habe ich mich gefragt, dass, obwohl meine Tage voll von reinen Gedanken sind, nachts noch immer dieser erbärmliche … lustvolle Teil von mir hervorkommt? Immer wenn ich es nicht kontrollieren kann. Ich habe mich deswegen oftmals selbst kasteit. Doch dann …”, Chloe sah Daria an, “… dann fing ich an zu denken, dass mein Kummer über diese Art von Gefühlen albern ist. Ich hatte nichts Verbotenes getan. Was ich fühlte, rührte von einem normalen, gottgegebenen Teil meines Selbst; einem Teil, dessen Existenz ich zu leugnen versuchte. Aber er existierte nun mal. Und ich konnte daran einfach nicht länger etwas Falsches finden.”

Daria fehlten die Worte. Sie hatte Chloe noch nie so offen über sexuelle Gefühle sprechen hören. Nicht über die eines anderen, und schon gar nicht über ihre eigenen. Sie war davon ausgegangen, dass Chloe diese Bedürfnisse einfach nicht verspürte, dass sie irgendwie darüberstand. Sie hatte sich geirrt. Chloe war fast vierzig und hatte diesen Teil von sich all die Jahre verleugnet. Diese Erkenntnis ließ Daria die Tränen in die Augen steigen. Sie konnte den Schmerz ihrer Schwester quer durch den Raum spüren.

“Was hast du damit gemeint: Sean hat dich vor der Verlockung bewahren wollen?”, wagte Rory zu fragen.

Wieder starrte Chloe auf die Sturmlampe. Das Grollen des Donners hatte sich in die Ferne zurückgezogen, und nun erfüllte nur noch ihre Stimme das Zimmer.

“Er hat sich umgebracht, um mich zu retten. Niemand weiß davon, aber es ist an der Zeit, dass ich es ausspreche.” Sie stieß einen tiefen Seufzer aus. Die Hände lagen gefaltet in ihrem Schoß. “Sean und ich waren ein Liebespaar.”

“Oh Chloe”, sagte Daria.

“Es hat schon vor Jahren angefangen. Wenn ich im Sommer hier war, haben wir uns jedes Mal gesehen. Am Anfang unterhielten wir uns nur – über die Bedeutung, die das Leben als Nonne für mich hatte; über das Keuschheitsgelübde und wie schwer es uns fiel, es zu erfüllen. Er hatte genauso große Schwierigkeiten damit wie ich, und das machte mir Mut. Doch je mehr wir darüber sprachen, umso stärker fühlten wir uns zueinander hingezogen.”

Chloes Stimme brach plötzlich, und Daria ging zum Sofa hinüber und legte die Hand auf die ihrer Schwester.

“Ich hatte einen Punkt erreicht, an dem ich es gar nicht mehr so schlimm fand, das Gelübde zu brechen”, fuhr sie fort. “Ich war wütend auf die Kirche, weil sie es uns so unnachgiebig auferlegte. Das war eine vom Menschen gemachte Vorschrift, kein Gesetz Gottes. Ich kam zu der Überzeugung, dass man sich dem religiösen Leben hingeben und dennoch mit einem Partner die irdische Liebe teilen kann. Das finde ich immer noch. Absolut. Und ich fühlte mich gut mit dem, was wir taten. Aber für Sean war es nicht so einfach, und so haben wir vor ein paar Jahren den körperlichen Teil unserer Beziehung ausgeblendet. In ihm tobte ein verheerender Kampf der Gefühle, und ich wollte ihn nicht länger leiden sehen.” Wieder brach ihre Stimme, und dieses Mal zog sie ihre Hände unter Darias hervor und verbarg ihr Gesicht dahinter. Daria streichelte ihr zärtlich über den Rücken. Sie sah zu Rory hinüber, dessen Gesicht im Schein der Sturmlampe düster wirkte.

Chloe hob den Kopf wieder. “Ich habe mich bemüht, ihn nicht zu drängen. In seiner Nähe habe ich versucht … geschlechtslos zu sein. Und es hat funktioniert – zumindest bis zu diesem Sommer. Ich glaube nicht, dass ich irgendetwas Bestimmtes getan habe, aber wir fühlten uns stark zueinander hingezogen und sind uns wieder sehr nah gekommen.” Jetzt schluchzte sie laut. “Für Sean war es eine Qual. Er nannte sich selbst einen Sünder – oh, wie ich dieses Wort hasse! – und dachte, er würde mich in Versuchung führen, ebenfalls zu sündigen. Er dachte, er wäre für meinen Untergang verantwortlich. So hat er es immer genannt, obwohl ich ihm widersprach. Ich habe versucht, ihm diese Gedanken auszureden, aber offensichtlich ohne Erfolg.” Chloes Körper wurde von Schluchzern geschüttelt, und Daria nahm sie in den Arm.

“Er fehlt mir so”, sagte Chloe.

“Es tut mir so leid”, meinte Daria. “Und es tut mir leid, dass du das alles die ganze Zeit mit dir herumgeschleppt hast.” Sie machte sich Sorgen um Chloe. Nicht nur wegen dem, was sie ihnen gerade anvertraut hatte, sondern weil sie es ihnen erzählt hatte. Sie befürchtete, ihre Schwester würde ihre Offenheit schon bald bereuen. Sie wusste, dass dieses Geständnis nie über Chloes Lippen gekommen wäre, wenn nicht der schützende Mantel der Dunkelheit und die einzigartige Atmosphäre dieser Sturmnacht über ihnen gelegen hätten.

Chloe atmete tief durch und riss sich zusammen. “Ich werde in den nächsten Tagen wohl tief in mich gehen müssen. Und viel beten. Ich kann den Gedanken, keine Nonne mehr zu sein, kaum ertragen. Doch zugleich kann ich nicht länger nach diesen Regeln leben … und ich kann nicht damit leben, was diese Regeln Sean angetan haben.”

“Kann ich dir irgendwie helfen?”, fragte Daria.

Chloe lächelte fast. “Sei einfach nachsichtig, wenn ich gedanklich öfter … abwesend bin.” Dann presste sie plötzlich die Hände gegen die Schläfen. “Ich kann nicht glauben, dass ich euch das alles erzählt habe.” Sie schaute verlegen drein. “Es tut mir leid, dass ich diesen ganzen Müll auf euch abgeladen habe.”

“Ich bin froh darüber, dass du dich uns anvertraut hast, Chloe”, erwiderte Rory, und Daria war von dem zärtlichen Ton in seiner Stimme berührt.

Chloe sah Rory an. “Ich möchte mich dafür entschuldigen, dass ich dich neulich so angefahren habe”, sagte sie. “Es tat nur so schrecklich weh, diese Gerüchte zu hören. Und als du dann auch noch damit angefangen hast … Aber ich hätte meinen Schmerz nicht an dir auslassen sollen.”

“Und ich hätte dich nicht unmittelbar nach Seans Tod darauf ansprechen sollen”, erwiderte Rory. “Ich wusste doch, dass du um ihn trauerst. Mir war nur nicht klar, wie sehr.”

“Ich würde gern nach oben gehen”, meinte Chloe und schlang die Arme um den Oberkörper. “Ich will den Rest des Sturms nur noch verschlafen. Und morgen will ich aufwachen und Shelly …” Sie schluckte. “Ich will sie einfach gesund und munter zurückhaben.”

“Ich weiß”, sagte Daria und fasste sie an der Schulter. “Morgen früh, wenn der Sturm vorbeigezogen ist, werden wir sie sicher finden.”

Chloe stand auf, und Daria drückte ihr eine der Taschenlampen in die Hand. “Nimm die besser mit.”

Daria und Rory blieben schweigend sitzen, als Chloe die Treppe hinaufging. Es verstrichen noch ein paar Minuten, ehe Daria ihre Stimme wiederfand. “Wie furchtbar.”

“Ja, das ist wirklich traurig”, sagte Rory leise.

Dann schwiegen sie wieder. Sie versuchten noch immer, das Gesagte zu verinnerlichen, als ein krachender Donnerschlag sie zusammenfahren ließ.

Daria zog die Beine an und schlang die Arme um die Knie. “Oh Gott, Rory. Wo steckt Shelly bloß?”