13. KAPITEL
“Soll ich dieses Rollo offen lassen, Pfarrer Sean?”, fragte Shelly. “Oder blendet die Sonne Sie dann?”
Sean Macy sah von seinem Schreibtisch auf. Shelly befreite gerade die Jalousien an seinem Bürofenster vom Staub, während er die Papiere auf seinem Schreibtisch von einer Seite auf die andere räumte und vorgab, die Ablage zu machen. Sie hatte ihm irgendetwas erzählt, doch erst ihre Frage hatte ihn aus seinen Gedanken gerissen.
“Lass es ruhig auf”, antwortete er, obwohl ihn die Sonne tatsächlich blendete. “Ist gut so.”
“Auf jeden Fall”, sagte Shelly mit dem Staubwedel in der Hand, “finde ich, sie würden perfekt zusammenpassen.”
Perfekt zusammenpassen? Von wem redete sie bloß? Wer auch immer es war, dafür hatte er jetzt keinen Kopf.
Es war Freitagnachmittag, fast schon Zeit, die Beichte abzunehmen. Doch er war dermaßen mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt, dass er keine Ahnung hatte, wie er sich auf die Sünden seiner Gemeindemitglieder konzentrieren sollte. Er steckte in ernsthaften Schwierigkeiten – mit Gott und mit seinem eigenen Gewissen. Er blickte auf seine Hände, die auf einem Meer von Papierkram ruhten. Sie waren groß, wohlgeformt und mit feinen goldenen Härchen übersät. Die Hände eines Sünders.
“Kannten Sie ihn?”, wollte Shelly wissen. “Ich habe den Eindruck, jeder kannte ihn. Außer mir, weil ich noch zu klein war.”
“Kennen? Wen?”, fragte er, bemüht, in die einseitige Unterhaltung einzusteigen. Anscheinend war er heute nicht einmal in der Lage, ihr seine Aufmerksamkeit zu schenken. Normalerweise empfand er Shellys Anwesenheit als wohltuend, wenn er Probleme hatte. Dann teilte er seinen Ballast mir ihr und genoss ihr offenes Ohr – wohl wissend, dass sie nicht so schnell eins und eins zusammenzählen konnte. Ihr konnte er unbesorgt Dinge erzählen, die er einer anderen Seele nie und nimmer anvertrauen würde. Wenn er seine Probleme laut aussprach, war das irgendwie reinigend und es half ihm, die Angelegenheit klarer zu sehen. Selbstverständlich nannte er niemals Namen und bat sie stets eindringlich, das Gehörte unbedingt für sich zu behalten. Er war sicher, dass sie das auch tat. Wenn es einen aufrichtigen und verlässlichen Menschen gab, dann Shelly. Außerdem verband sie eine symbiotische Beziehung, denn er war auch der Hüter ihrer Geheimnisse.
“Rory”, sagte Shelly. Sie kehrte dem Fenster den Rücken zu und grinste ihn listig an. “Sie haben mir wohl gar nicht zugehört, Pfarrer Sean.”
Er gab sich Mühe, das Lächeln zu erwidern. “Da hast du recht”, gab er zu. “Tut mir leid, Shelly.”
“Halb so wild.” Sie setzte sich auf den Stuhl neben dem Fenster, den blauen Staubwedel auf den Knien. “Aber das Beste habe ich Ihnen noch gar nicht erzählt.”
“Und das wäre?” Entschlossen, ihr nun seine volle Aufmerksamkeit zu schenken, lehnte er sich in seinem Stuhl zurück.
“Rory will für mich herausfinden, wer meine richtige Mutter ist.” Der Ausdruck auf Shellys Gesicht war kindlich. Arglos. Erwartungsvoll. Und Sean spürte, wie der Boden unter seinen Füßen nachgab.
“Ich verstehe nicht ganz”, sagte er. Er war jetzt hellwach. “Wer ist … sprichst du von Rory Taylor?”
“Ja! Er will über mich bei 'True Life Stories' berichten. Ist das nicht cool?”
Pfarrer Macy spielte mit einem Füller, rollte ihn mit seinen großen goldenen Sünderhänden vor und zurück. “Und was halten deine Schwestern davon?”
“Das ist mir egal.” Sean meinte, auf Shellys Gesicht zum ersten Mal diesen rebellischen Ausdruck zu sehen. Er war sich sicher, dass die Cato-Schwestern von Rory Taylors investigativem Ausflug in die Vergangenheit alles andere als begeistert waren.
Shelly stöhnte plötzlich. “Das hätte ich ja fast vergessen. Ellen und Ted kommen heute Abend.”
“Wer?” Einen Moment lang war er von ihrem abrupten Themenwechsel irritiert, auch wenn er sich nach den zweiundzwanzig Jahren, die er Shelly nun kannte, eigentlich längst daran gewöhnt hatte. “Ach so, eure Cousine Ellen”, sagte er.
“Ja. Und ich mag sie immer noch nicht richtig, Pfarrer Sean. Ich versuche es ja, aber es klappt einfach nicht.”
“Aber du gibst dir ernsthaft Mühe, Shelly, und das ist es, was zählt.” Er sah auf die Uhr. “Ich mache mich besser wieder an den Papierkram hier”, sagte er. “Und du ans Staubwischen.”
“Jawohl!” Sie sprang auf und widmete sich wieder den Jalousien.
Sean sah auf die ausgebreiteten Zettel und schloss dann die Augen. Rory Taylor.
Seine Hände zitterten, als er die Kappe auf den Füller steckte und ihn auf den Tisch legte. Unter keinen Umständen könnte er jetzt die Beichte abnehmen.