20. KAPITEL
Rory erhöhte den Widerstand bei seinem Indoor Bike und sah zur Seite, wo Zack wild in die Pedale trat und dabei die aktuelle Ausgabe der “Sports Illustrated” las. Er war sicher, dass Zack gegen einen noch größeren Widerstand antrat, und dennoch radelte er schneller und schwitzte weniger als er. Ich würde auch noch ein paar Stufen mehr schaffen, versuchte er sich einzureden. Aber wozu sich quälen? Diese Geschwindigkeit war genau richtig. Er hatte vor, Darias Rat zu befolgen und während des Sports mit Zack zu reden. Und wenn er dabei nicht aus der Puste kommen wollte, war es besser, den Schwierigkeitsgrad nicht zu erhöhen.
Er ärgerte sich über seinen Drang, sich mit Zack messen zu wollen, den er seit Neuestem verspürte. Hoffentlich war er mit seinen sechsunddreißig Jahren nicht schon auf direktem Weg in die Midlife-Crisis.
“Kannst du dich lange genug von der Zeitschrift losreißen, um zu reden?”, begann er die Unterhaltung.
Zack sah zu ihm rüber. “Ich trainiere”, antwortete er.
“Ob du dich im richtigen Trainingsbereich befindest, weißt du aber erst, wenn du dich dabei noch unterhalten kannst.”
“Das ist eine veraltete Theorie, Dad.”
War es das? “Trotzdem”, fuhr Rory fort, “ich würde gern mit dir über Kara sprechen.”
“Was ist mit ihr?” Zack warf ihm einen wachsamen Blick zu.
Dazu hast du auch allen Grund, dachte Rory. “Na ja, es geht nicht direkt um Kara, sondern um euch beide. Um dich und ein Mädchen.” Hier geriet er ein wenig ins Stocken.
Zack verdrehte die Augen. “Wird das jetzt eins von diesen Sexgesprächen zwischen Vater und Sohn?”
Rory musste an den Moment denken, als Zack im Alter von sieben oder acht wissen wollte, wie Babys gemacht werden. Er hatte die Gelegenheit genutzt, seinem Sohn die Wahrheit über die Bienchen und Blümchen zu erzählen, und sich dabei – nach eigener Einschätzung – auch ziemlich gut geschlagen. Aber das war im Vergleich zu diesem Gespräch ein Klacks gewesen.
“Ich finde einfach, wir sollten mal von Mann zu Mann darüber sprechen”, sagte er.
“Wieso werde ich nur das Gefühl nicht los, dass dies kein Mann-zu-Mann-Gespräch wird, sondern eins von Mann zu Junge?”
“Wie auch immer, genug der Vorrede”, meinte Rory. “Ich bin nur beunruhigt, dass du und Kara euch ein bisschen … zu nahe kommt. Ich habe nichts gegen sie. Ehrlich, ich mag sie.” Eigentlich kannte Rory sie immer noch nicht gut genug, um sich so ein Urteil erlauben zu können. Kara war für ihn ein Buch mit sieben Siegeln. “Ich wollte einfach nur ein wenig mit dir … darüber reden. Ich meine, ich war auch mal in deinem Alter und kenne die Versuchung weiterzugehen, als gut ist.”
“Dass du fünfzehn warst, ist schon Urzeiten her. Die Dinge sind heute anders.”
“Och, sie sind gar nicht so anders, wie du denkst. Testosteron gibt es auch heute noch. Und der Einfluss, den es auf den gesunden Menschenverstand haben kann, hat sich auch nicht verändert.”
“Sag es doch einfach und fertig: 'Schlaf nicht mit Kara.' Das ist es doch, worauf du hinauswillst. Ich habe es gehört. Du hast die Beratung gewissenhaft durchgeführt. Danke für das Gespräch.” Zack sprach laut. Eine junge Frau auf dem Fahrrad neben ihm sah kurz zu ihnen herüber, vertiefte sich dann jedoch schnell wieder in ihr Buch.
“Nein, das ist nicht alles, worum es mir geht.” Rory senkte die Stimme. Zugegeben, das war der zentrale Punkt, doch dabei konnte er es nicht einfach belassen. Er war schließlich auch mal fünfzehn gewesen und wusste, dass seine Worte bisher dieselbe Wirkung erzielt hatten wie der sprichwörtliche Tropfen auf den heißen Stein. “Ich will nur sicher sein, dass du … Also, wenn du doch mal Sex hast, dass du dann verhütest.”
“Ich weiß alles darüber, Dad.”
“Na ja, du kannst alles darüber wissen, und es trotzdem nicht tun. Denk an Shelly. Sie war ein ungewolltes Baby, das zum Sterben am Strand ausgesetzt wurde. Ihre Mutter war vermutlich ein Mädchen in Karas Alter. Hätte der Junge damals ein Kondom benutzt, wäre sie nicht schwanger geworden und das Baby wäre nicht auf diese Weise 'entsorgt' worden.”
“Du willst also, dass ich mit Kara Schluss mache.”
Rory runzelte die Stirn. “Nein, davon ist doch überhaupt nicht die Rede.” Er brauchte einen Moment, um zu merken, dass Zack sich absichtlich dumm stellte. “Ich glaube, du verstehst mich schon ganz richtig”, sagte er dann.
“Du und Grace, ihr macht es wahrscheinlich jedes Mal, wenn ich weg bin”, provozierte Zack ihn.
“Nur zu deiner Information: Grace und ich haben gerade ein Mal Händchen gehalten”, erwiderte er, als wäre diese vornehme Zurückhaltung auf seinem Mist gewachsen. “Und außerdem sind Grace und ich erwachsen.”
“Was hat das denn damit zu tun?”
“Du kennst die Antwort.”
Zack hörte auf zu treten. Mit dem Handtuch um seinen Hals wischte er sich das Gesicht ab. “Sieh mal, Dad. Du hast mich in dieses dämliche North Carolina geschleift, und ich versuche bloß, das Beste daraus zu machen. Okay?” Er stieg von seinem Fahrrad. “Ich mache noch ein bisschen Kickboxen. Ich gehe dann zu Fuß nach Hause. Du brauchst also nicht auf mich zu warten.”
Rory sah ihm nach. Kickboxen. Zack hatte sich an den einzigen Ort im Fitnessstudio verdrückt, an den Rory ihm nicht folgen könnte. Und vermutlich wusste er das ganz genau.
Nach Verlassen des Fitnessstudios fuhr Rory zur Sackgasse, parkte den Wagen in seiner Auffahrt, ging jedoch nicht ins Haus. Lindas große Golden-Retriever-Hündin Melissa wartete auf der Treppe zur Eingangstür auf ihn, und er wertete das als Zeichen. Er sollte sich endlich einmal Lindas Erinnerungen an den Sommer '77 anhören.
Mit Melissa an seiner Seite ging er die Sackgasse hinauf zu dem Cottage, das der Strandstraße am nächsten war. Der Hund stürmte vor ihm die Stufen zur Veranda hoch, und als Rory an die Fliegengittertür klopfte, löste er ein vielstimmiges Hundegebell aus.
Sofort erschien eine Frau mit kinnlangen roten Haaren an der Tür. Um ihre Beine wuselte eine Masse goldenes Fell. Mindestens vier Hunde. Die Frau sah ihn an, und nach wenigen Sekunden verzog sich ihr Mund zu einem strahlenden Lächeln.
“Hallo Rory Taylor”, sagte sie.
“Hi … Jackie, richtig?”
“Genau.” Sie öffnete die Tür gerade so weit, dass sie ihm die Hand schütteln konnte. Dann blickte sie nach unten auf Melissa, die nicht von seiner Seite gewichen war. “Mir ist zu Ohren gekommen, dass Melissa Ihr kleines Groupie geworden ist. Ich schätze, sie ist unsere Ausreißkünstlerin.”
“Ich habe sie eigentlich ganz gern um mich.” Rory kraulte Melissa hinter den flauschigen Ohren.
“Wollen Sie zu Linda?”
“Wenn sie Zeit hat.”
“Sie hat schon auf Ihren Besuch gewartet. Ich nehme an, Sie sprechen mit jedem, der hier gewohnt hat, als Shelly Cato gefunden wurde, stimmt's?”
“Ich spreche mit jedem, der auch mit mir reden will.”
“Warten Sie einen Moment.” Jackie verschwand im Haus, und kurze Zeit später erschien Linda mit drei Flaschen Bier in den Händen und vier Hunden auf den Fersen auf der Terrasse.
“He, Rory!” Sie schenkte ihm ein breites Grinsen, das ihre weißen Zähne entblößte. “Lass uns auf die Dachterrasse gehen.”
Für einen Moment war er von ihrem überschwänglichen Empfang überrascht, obwohl ihre Begrüßung bei ihrer ersten Begegnung am Strand genauso herzlich gewesen war. Das stille, furchtbar schüchterne Mädchen von damals schien längst nicht mehr zu existieren.
Er folgte Jackie, Linda und ihren großen blonden Retrievern über eine hölzerne Wendeltreppe auf die kleine Dachterrasse. Linda reichte ihm ein Bier und bot ihm mit einer Handbewegung einen gemütlichen Sessel an. Um ihn herum wuselten die freudig mit dem Schwanz wedelnden Hunde, und Melissa legte den Kopf auf seinen Oberschenkel.
“So, so.” Linda stützte sich mit den Ellbogen auf den Knien ab, das Bier hielt sie in der rechten Hand. “Du versuchst also herauszufinden, wer Shelly am Strand ausgesetzt hat.”
“So ist es”, antwortete Rory. “Ich weiß, es ist schon lange her, aber ich wollte mal hören, woran du dich noch erinnerst.”
“Eigentlich habe ich mich ernsthaft bemüht, diese Zeit komplett zu vergessen”, sagte Linda, immer noch mit einem Lächeln. “Sie war ziemlich hart für mich.”
Er nickte verständnisvoll. Er selbst hatte homosexuelle Freunde und wusste, dass es die meisten als Jugendliche nicht leicht hatten. “Aber jetzt scheint es dir fantastisch zu gehen”, meinte er. “Als was arbeitest du?”
“Du meinst, außer viel zu viele Hunde aufzuziehen? Als Dozentin. Jackie und ich lehren beide an der Duke-Universität.”
“Ich gebe Mathe”, fügte Jackie hinzu. “Und Linda Literaturwissenschaften.”
Bei der Kombination verzog Rory das Gesicht. “Und ihr vertragt euch?”
“Meistens schon”, erwiderte Linda lachend.
“Na dann”, sagte Jackie und schlug die Beine übereinander, “erzähl mir doch mal, wie Linda als Mädchen war.”
Wieder lachte Linda. “Wir sprechen hier aber nicht über mich, Jack. Wir reden von all diesen rauflustigen Kindern, die früher in der Straße gewohnt haben.”
“Rauflustig?”, wiederholte Rory. “Ich finde nicht, dass sie so ungewöhnlich waren.”
“Ja, weil du eines von ihnen warst”, sagte Linda. “Ich stand immer nur stumm daneben und sah das Leben an mir vorbeiziehen.”
“Dann bist du vermutlich genau die richtige Gesprächspartnerin für mich”, meinte Rory. “Vielleicht bist du objektiver als alle anderen.”
“Ich wette, es war keine, die wir kannten. Ich meine, natürlich könnte ich jetzt wilde Vermutungen darüber anstellen, wer es gewesen sein könnte. Aber Tatsache ist doch, dass Sommer war und Kill Devil Hills vor Touristen gebrummt hat. Es könnte ohne Probleme jemand gewesen sein, der nur für eine Woche hier unten war. Oder für einen Tag.”
“Das stimmt. Aber zunächst werde ich mich auf unsere Straße konzentrieren. Und von hier aus möglichen Verästelungen nachgehen.”
“Also, da war ja immer diese Cindy Trump.” Linda wandte sich an Jackie: “Die Leute hier haben sie Cindy Tramp genannt.”
“Aha”, machte Jackie.
“Die war doch einfach unglaublich, oder?”, fragte Linda Rory. “Also, ehrlich. Diese Möpse. Ich weiß noch genau, dass sie nicht älter als zehn war, als sie ihr gewachsen sind. Und dann hat sie immer diesen Badeanzug getragen – da war sie vielleicht zwölf –, und wenn der nass wurde, wurde er auch durchsichtig. Man konnte ihre Schambehaarung sehen, was mich damals völlig aus der Bahn geworfen hat. Schließlich war ich erst neun und hatte kaum eine Ahnung, welcher Anblick sich mir da bot. Ihre Nippel zeichneten sich auch ab. Man sah einfach alles.”
Rory musste lachen. Im Nacken spürte er die Hitze der Erinnerungen. “Diesen Badeanzug hatte ich total vergessen, aber da du ihn jetzt erwähnst, sehe ich ihn wieder genau vor mir. Er war pink, oder?”
“Lila, glaube ich. Ist ja auch egal.”
“Und ich erinnere mich auch noch an die Bikinis, die sie später trug.”
“Mein Gott, ja.” Linda stöhnte, und ihm wurde klar, dass sie damals beim Anblick von Cindys sinnlichem Körper dasselbe Kribbeln im Unterleib verspürt hatte wie er. “Sie hat immer diese gehäkelten Bikinis getragen”, erklärte Linda ihrer Freundin. “Ihre Haut war stets stark gebräunt, und sie tänzelte immer am Strand umher und ließ haufenweise männliche Wesen in ihrem Kielwasser zurück. Und mittendrin ich, die ich mich sabbernd hinter meinem Buch versteckt habe.”
“Das habe ich nie gemerkt, Linda.” Rory schüttelte den Kopf. “Ich habe nie gewusst, dass wir zwei damals so viel gemeinsam hatten.”
Linda lachte.
“Chloe war damals auch ziemlich heiß”, sagte sie. “Sie war so … heißblütig mit dem langen dicken Haar und diesen Wahnsinnswimpern.”
“Schwester Chloe?”, fragte Jackie.
“Oh ja”, antwortete Linda. “Chloe und ihre Cousine Ellen. Weißt du, wen ich meine? Sie kommt hin und wieder mit ihrem Ehemann hierher. Diese stämmige Frau.”
Jackie nickte.
“Ja, Chloe war scharf”, stimmte Rory ihr zu. “Aber sie war eine richtige Bohnenstange, abgesehen von ihren …” Er brach mitten im Satz ab. Es war seltsam, mit einer Frau so über Chloes Körper zu sprechen. Noch dazu, da es der Körper einer Nonne war.
“Ich weiß, was du meinst.” Glucksend führte Linda seinen Gedanken zu Ende.
“Für mich hört es sich so an”, mischte sich nun Jackie ein, “als könnte es diese Cindy Tramp nicht gewesen sein. Ich meine, wenn sie ständig im Bikini am Strand herumgehopst ist, wie hätte sie da eine Schwangerschaft verbergen sollen?”
“Aber genau das ist ja der Punkt”, sagte Linda. “Daria hat Shelly gleich zu Beginn des Sommers gefunden, und die Woche davor war es kühl und regnerisch. Es hat sich also niemand im Bikini oder Badeanzug am Strand gezeigt. Wir haben uns alle warm eingepackt.” Auf einmal beugte sie sich noch weiter zu Rory hinüber, ihr Gesicht war ernst. “Rory, ich habe ein bisschen Angst davor, dir zu sagen, wer meiner Meinung nach Shellys Mutter war.”
Er zog die Augenbrauen hoch. “Warum? Wer?”
“Ich habe immer gedacht, es wäre Polly.” Ihre Stimme klang entschuldigend.
“Wer war Polly?”, wollte Jackie wissen.
Rory lehnte sich zurück und vergrub seine Finger in Melissas Nackenfell. “Meine Schwester”, antwortete er. Dann wandte er sich an Linda: “Und warum glaubst du das?”
“Es erschien mir logisch. Ich meine, hast du es nie in Erwägung gezogen?”
“Nein”, widersprach er vehement, “nicht eine Sekunde.” Er sah zu Jackie. “Meine Schwester hatte das Downsyndrom.”
“Und genau deswegen”, meinte Linda. “Es wäre ein Leichtes gewesen, Polly auszunutzen. Und wenn sie wirklich schwanger geworden sein sollte, hatte sie wahrscheinlich keine Ahnung, was da mit ihrem Körper geschah. Vielleicht wusste sie keinen anderen Ausweg, als zu versuchen, das Baby loszuwerden.”
Rory lächelte nachsichtig. “Selbst Polly hätte gewusst, wie grausam und unmenschlich so was ist.” Es störte ihn, dass Linda das offenbar anders sah.
“Na ja”, sagte sie und lehnte sich ebenfalls in ihrem Stuhl zurück. “Ich kann dir versichern, dass ich es nicht war. Und wenn es auch nicht Polly, aber auf jeden Fall jemand aus unserer Straße war, dann solltest du wohl schleunigst Cindy Trump ausfindig machen.”