5. KAPITEL

Allmählich besserte sich Darias Laune. Als sie in ihrem Wagen auf Shelly und Chloe wartete, um mit ihnen die Sonntagsmesse zu besuchen, fühlte sie sich so unbeschwert wie seit zwei Monaten nicht mehr. Schon als sie am Morgen mit einem breiten Lächeln auf den Lippen aufgestanden war, hatte sie diese Veränderung gespürt, und sie brauchte nur zum Poll-Rory hinüberzusehen, um den Grund dafür zu erfahren. Allerdings bekam ihr Frohsinn durch Rorys Vorhaben, in Shellys Vergangenheit herumzuschnüffeln, einen gehörigen Dämpfer. Nichts würde dadurch gewonnen … und zu viel verloren.

In der benachbarten Auffahrt stiegen Ruth und Les Wheeler gerade in ihren Geländewagen. Auch einige ihrer Enkelkinder kletterten hinein. Sie waren ebenfalls auf dem Weg zum Gottesdienst nach Nag's Head. Daria winkte, und Ruth Wheeler rief ihr einen Gruß zu.

Chloe und Shelly kamen die Holztreppe herunter. Shelly setzte sich auf den Beifahrersitz, Chloe nach hinten.

“Heiliger Christophorus”, betete sie, “behüte und beschütze uns auf unserer Fahrt.”

So lange Daria denken konnte, hatte Chloe dieses Gebet jedes Mal gesprochen, wenn sie in ein Auto gestiegen war – selbst nachdem dem Heiligen Christophorus seine Heiligkeit aberkannt worden war. Sie war und blieb eben eine kleine Rebellin.

“Da ist Rory Taylor.” Shelly zeigte zum Haus gegenüber, wo Rory und sein Sohn mit Strandstühlen und Badetüchern bewaffnet gerade den kleinen Vorplatz überquerten.

Daria hupte im Vorbeifahren, und Rory winkte ihnen lächelnd zu. Sein Sohn rief in Daria Erinnerungen an den Teenager wach, den sie vor vielen Jahren gekannt hatte – ein gut aussehender blonder Junge mit breiten Schultern, die ihm später auf dem Footballfeld gute Dienste erweisen sollten. Ihr fiel wieder ein, was für ein guter Schwimmer Rory früher gewesen war und wie gern sie ihm zugesehen hatte, wenn er im Meer weit nach draußen schwamm, bis ihn die Strandwächter wieder zurückpfiffen. Einen Sommer lang arbeitete er selbst als Rettungsschwimmer und rettete einem älteren Herrn, der in eine Rückströmung geraten war, das Leben. Er war damals siebzehn gewesen, und zu dem Zeitpunkt hatte er Darias Existenz zweifelsohne vergessen. Nach der Rettungsaktion erschien in der Lokalzeitung ein Bild von ihm, das sie jahrelang mit sich herumtrug – auch als er schon längst auf dem College war und nicht mehr nach Kill Devil Hills kam.

“Deine Wangen sind ganz rot, Schwesterchen”, neckte Chloe sie von der Rückbank.

“Sind sie nicht.” Sie reckte das Kinn, um sich im Rückspiegel anzusehen, denn sie befürchtete, Chloe könnte recht haben. Sie konnte regelrecht spüren, wie sich eine heiße Welle von ihrem Bauch bis zu den Ohren ausbreitete.

“Wie? Was meinst du?” Shelly sah sich Darias Gesicht genau an. “Warum sollte sie denn rot sein?”

“Weil Daria was an Rory findet”, sagte Chloe.

Bei diesen Neuigkeiten blühte Shelly förmlich auf. “Wirklich?”, fragte sie.

“Ich habe keine Ahnung, wovon Chloe redet”, verteidigte sich Daria.

“Ein neuer Mann für dich!”, rief Shelly.

“Oh nein”, protestierte Daria. “Auf keinen Fall.” Sie warf Chloe im Rückspiegel einen vielsagenden Blick zu. “Vielen Dank auch.”

Chloe lachte.

“Ich bin nicht auf diese Art an Rory Taylor interessiert”, sagte Daria zu Shelly. “Chloe schwelgt nur in Erinnerungen. Als Mädchen war ich in ihn verknallt, das stimmt. Aber das ist schon lange her, also mach dir keine Hoffnungen.”

Seit dem Scheitern von Petes und ihrer Beziehung war Shelly besorgt um sie, das wusste Daria. Natürlich hatte Shelly keine Ahnung, welche Rolle sie bei Petes Entscheidung gespielt hatte, und dabei wollte Daria es auch belassen.

“Ich finde ihn wirklich nett”, sagte Shelly.

“Ja, das ist er auch”, stimmte Daria ihr zu. Die natürliche und warmherzige Art, mit der er auf Shelly zugegangen war, hatte sie nachhaltig berührt. Das war ein sicherer Weg zu ihrem Herzen.

Seit dem Tag, als Daria und ihre Mutter für das Findelkind Opferkerzen angezündet hatten, war die Kirche zwar vergrößert worden. Die Atmosphäre war jedoch noch immer dieselbe – sauber und leicht und erfüllt vom Duft des Meeres. Und wie im Sommer üblich, platzte St. Esther's auch an diesem Junisonntag vor Besuchern fast aus allen Nähten. Auch Daria, die ganz im Gegensatz zu Shelly das restliche Jahr über eher selten zur Messe ging, war Teil dieser sommerlichen Menschenmasse. Shelly besuchte den Gottesdienst fast jede Woche. Entweder ging sie zu Fuß, fuhr mit dem Fahrrad oder ließ sich von anderen Gemeindemitgliedern im Auto mitnehmen. Während des Sommers fühlte sich Daria jedoch zum Kirchgang verpflichtet, allein schon aus Respekt Chloe gegenüber. Offenbar hatte sie von den gläubigen Genen, die in ihrer Familie schon seit Generationen vererbt wurden, keins abgekriegt. Vielleicht hatte Chloe ihren Anteil bekommen.

Die Kommunion stellte in diesem Sommer ein Problem für sie dar. Obwohl sie mit den Dogmen und Ritualen der Kirche längst abgeschlossen hatte, würde sie das Abendmahl nicht guten Gewissens empfangen können, solange sie nicht die Wahrheit über den Flugzeugabsturz gebeichtet hätte. Doch ihr würde nichts anderes übrig bleiben, da Chloe sonst wüsste, dass sie eine Sünde in ihrem Herzen trug. Daria sagte sich, dass sie in der Unfallnacht ihr Bestes gegeben hatte, genau wie alle anderen. Dennoch – sie hatte ihr menschliches Versagen vertuscht. Und darin bestand die eigentliche Sünde.

Nach der Messe fielen ein paar Kinder vor der Kirche über Chloe – Schwester Chloe – mit Fragen zum Ferienprogramm der kommenden Woche her. Daria beobachtete Chloe gern mit Kindern. Sie ging fröhlich und liebevoll mit ihnen um, ganz anders als die Nonnen auf Darias katholischer Schule damals.

Auf dem Weg zum Auto gesellte sich Sean Macy zu ihnen, und die drei begrüßten ihn.

“Hallo Shelly”, sagte der Pfarrer. “Schwester.” Er nickte Chloe zu und sah dann zu Daria. “Schön, dich in der Kirche zu sehen, Daria.” Er zwinkerte ihr verschmitzt zu, und Daria lächelte ihn an. Seit Pfarrer Macy ihren Eltern bei Shellys Adoption geholfen hatte, war in ihrem und den Herzen der anderen Catos ein ganz besonderer Platz für ihn reserviert. Er hatte Shelly auch zu ihrer Stelle als Haushälterin verholfen und arbeitete während des Ferienprogramms Hand in Hand mit Chloe.

“Ich muss Daria mal kurz allein sprechen”, erklärte er ihnen. Dann nahm er sie beim Arm und führte sie einige Schritte vom Auto weg. Sie wartete, bis er wieder das Wort ergriff. “Man hat mich gebeten, mit dir zu reden, Daria.”

Sie zog die Augenbrauen hoch. “So? Worüber denn?”

“Dass du deine Arbeit beim Rettungsdienst wieder aufnimmst.”

Sie stöhnte. Jemand aus dem Rettungsteam musste Pfarrer Macy in den Ohren gelegen haben. “Wer hat Sie darum gebeten?”, fragte sie.

“Verschiedene Leute. Du wirst schmerzlich vermisst. Und der Gemeinde geht es schlechter ohne dich, das weißt du doch.”

“Danke für das schlechte Gewissen.”

“Im Ernst, Daria.” Das Lächeln wich aus seinem Gesicht. Er sah immer noch gut aus, sein Haar war noch von demselben Haferblond wie früher. Aber ohne ein Lächeln auf den Lippen wirkte er müde. “Ich weiß nicht, mit welchen Dämonen du zurzeit kämpfst”, sagte er, “aber du sollst wissen, dass ich für dich da bin. Wann immer du darüber reden möchtest.”

“Danke, Pfarrer Macy. Aber es gibt nichts, worüber ich reden müsste. Ich brauchte einfach mal eine Auszeit.”

“Das verstehe ich gut.” Sein Lächeln war zurückgekommen. “So geht es mir manchmal auch.” Er drückte zärtlich ihre Hand und verabschiedete sich. Dann schlenderte sie zurück zum Wagen.

Natürlich hatte sie schon in Erwägung gezogen, einen Seelsorger aufzusuchen. Das hätte sie auch jedem anderen geraten, der plötzlich wegen eines schrecklichen Erlebnisses seine Sanitäterpflichten nicht länger erfüllte. Aber es würde ihr nicht helfen. Sie würde den Seelsorger anlügen müssen. Was also sollte das bringen?

Als Daria ins Auto einstieg, hatten Shelly und Chloe die Plätze getauscht. Sie startete den Motor.

“Worüber wollte Pfarrer Sean mit dir unter vier Augen sprechen?”, fragte Shelly.

Daria fuhr aus der Parklücke und bog auf die Straße ab. “Er wollte wissen, ob ich dieses Jahr bei der Wohltätigkeitsauktion aushelfen kann”, schwindelte sie.

“Ach so”, sagte Shelly zufrieden und lehnte sich zurück, doch Chloe warf Daria einen finsteren Blick zu.

“Bei so einer Lüge”, zischte sie, “gehst du lieber noch zur Beichte, bevor du nächsten Sonntag die Kommunion empfängst.”

Und Daria fürchtete, dass Chloe keinen Scherz machte.