48. KAPITEL
Daria rollte sich auf den Rücken, sie war noch immer aus der Puste. Sie blickte an die Decke, während Rory ihr Profil mit den Fingerspitzen nachzeichnete.
Sie hatte laut geschrien. Das war ein Novum. Das hatte ihr zuvor noch niemand entlockt – schon gar nicht Pete –, und sie hatte sich stets gefragt, ob es Frauen jenseits von Literatur und Film gab, die diesen Sturm der Gefühle schon erlebt hatten. Jetzt wusste sie es. Sie hatte guten Sex nie irgendeinem Talent zugeschrieben, doch Rory besaß so ein Talent zweifellos, und sie war froh, dass sie bei dieser Entdeckung allein im Sea Shanty gewesen waren.
“Ich glaube, Zack ist uns auf die Schliche gekommen”, vermutete Rory. Sein Finger fuhr die Konturen ihrer Lippen entlang.
“Du meinst … er weiß, dass wir zusammen sind?” Bestimmt wusste Zack, dass sie und Rory sich in den letzten zwei Wochen häufiger gesehen hatten. Doch Rory war sorgfältig darauf bedacht gewesen, die körperliche Seite ihrer Beziehung vor seinem Sohn geheim zu halten.
“M-hm. Heute Morgen hat er mich gefragt, ob ich auch ein Kondom benutzt hätte, als ich gestern Abend mit dir weg war.”
Sie lachte. “Ein Punkt für ihn. Was hast du geantwortet?”
“Ich sagte, ich wäre ein Erwachsener in einer Erwachsenenbeziehung und fände es nicht gut, wenn er mir solche Fragen stellt. Dann hat er mich einen Heuchler genannt und ist zum Strand gegangen. Ich glaube nicht, dass ich richtig reagiert habe.”
“Ich finde schon. Er muss wissen, wo die Grenzen sind.”
Die vergangenen zwei Wochen waren eine Mischung aus Glück und Sorgen gewesen. Mit Rory zusammen zu sein und ihm endlich ihre Gefühle zeigen zu können war himmlisch gewesen. Jeder in der Straße wusste von ihnen beiden und freute sich für sie. Auch Shelly war entzückt. Nur Chloe schien wenig begeistert. “Er fährt in ein paar Wochen wieder”, hatte sie zu Daria gesagt. “Also stürz dich besser nicht Hals über Kopf in diese Sache.” Chloe versucht nur, mich vor einer Enttäuschung zu bewahren, sagte Daria sich. Trotzdem wurde sie das Gefühl nicht los, dass Chloe für ihre Ermahnung auch weniger edle Beweggründe hatte, und von Zeit zu Zeit fragte sie sich, ob sie vielleicht einfach nur eifersüchtig war. Immerhin war Chloes Freund tödlich verunglückt und ihr Leben in großer Unordnung.
Und an diesem Punkt kamen die Sorgen ins Spiel. Chloes Schweigen und Reizbarkeit waren Zeichen des Krieges, der in ihr tobte. Und obwohl Daria keine Möglichkeit sah, das Leid ihrer Schwester zu lindern, machte sie sich weiterhin Sorgen um sie. Dann war da noch Shelly, die jede Minute eine stärkere Bindung zu ihrem ungeborenen Baby aufbaute. Zu einer Abtreibung würde Daria sie nie und nimmer überreden können, das stand fest. Also müsste man andere Vorkehrungen treffen. Doch in dieser Hinsicht hatte sie es nicht eilig. Jetzt wollte sie sich erst einmal voll und ganz Rory widmen. Bei dem Tumult, den ihre Schwestern um sie herum erzeugten, hatte sie in Rorys Armen einen sicheren Hafen gefunden.
“Wann kommen Ellen und Ted noch gleich?”, fragte Rory.
Sie drehte sich auf die Seite und lehnte ihren Kopf an seine Schulter. “Morgen früh.” Dann fügte sie zynisch hinzu: “Ich kann es kaum erwarten. Eigentlich wollten sie an diesem Wochenende gar nicht kommen. Aber als ich dummerweise das Lagerfeuer morgen Abend erwähnte, haben sie es sich spontan anders überlegt.”
“Ich sehe Ellen jetzt in einem ganz anderen Licht.”
“Aber sie gehörte doch ohnehin nie zu deinen liebsten Freunden, oder?”
“Das stimmt. Shelly hat großes Glück, dass sie bei dir aufwachsen durfte und nicht bei Ellen.”
“Das habe ich auch schon oft gedacht. Und ich hatte auch Glück. Ich kann mir ein Leben ohne Shelly gar nicht vorstellen.”
“Bis jetzt hat sie mich noch nicht gefragt, ob ich schon mehr über ihre leibliche Mutter herausgefunden habe”, sagte Rory.
“Hast du Zack oder den Nachbarn erklärt, warum du deine Recherche so plötzlich eingestellt hast?”
“Nein, aber bislang hat mich auch niemand darauf angesprochen. Und wenn es so weit ist, sage ich einfach, ich hätte nicht ausreichend Informationen zusammenbekommen, als dass es sich lohnen würde weiterzumachen. Am schwierigsten wird es sein, es Shelly beizubringen.”
“Ich weiß.”
“Hast du dir überlegt, ob Shelly die Wahrheit erfahren soll? Ich glaube, ich an ihrer Stelle würde sie wissen wollen, egal wie hart sie ist.”
Daria streichelte ihm über die Brust. “Aber dann müsste ich zuerst Ellen damit konfrontieren, und darauf kann ich ehrlich verzichten. Ich habe immer gehofft, sie würde eines Tages selbst mit der Wahrheit herausrücken, doch das wird nie geschehen. Das ist nicht ihr Stil. Ellen interessiert sich nur für einen Menschen, und das ist: Ellen. Manchmal glaube ich, sie leugnet vor sich selbst, dass Shelly ihre Tochter ist. In einer anderen Welt mit einer anderen Mutter würde ich sagen, Shelly sollte die Wahrheit erfahren. Aber Ellen ist so ekelhaft zu ihr, dass ich nicht wüsste, was daran gut für Shelly sein sollte.”
“Vielleicht ist Ellen so ekelhaft zu ihr, wie du sagst, weil sie es ihr übel nimmt, geboren worden zu sein. Shelly war nicht gewollt. Die Schwangerschaft hat Ellens Pläne durchkreuzt.”
“Ich weiß es nicht, Rory. Ich habe jahrelang versucht, Ellen zu analysieren, und nie warf das Ergebnis ein besonders menschenfreundliches Licht auf sie. Ich versuche zu bedenken, dass sie erst fünfzehn war. Wenn mir so etwas mit fünfzehn passiert wäre, hätte ich vielleicht genauso gehandelt.”
“Daran habe ich meine Zweifel.” Rory rollte sich auf den Bauch und stützte sich auf die Ellbogen. Er lächelte sie an. “Nicht meine Daria. Du wärst viel zu gescheit gewesen, um schwanger zu werden. Aber wenn es doch passiert wäre, hättest du das Baby vermutlich ohne Hilfe zur Welt gebracht, die Nabelschnur mit den Zähnen durchgebissen, das Kind gestillt und nebenbei drei Schwimmer aus einer Rückströmung gerettet.”
Sie lachte. “Ich glaube, du idealisierst mich ein bisschen.”
Er war einen Moment lang still. “Du hast noch gar nicht über deine Arbeit bei der Rettung gesprochen. Nach dem Zwischenfall an Andys Steg dachte ich, du würdest dort vielleicht gern wieder anfangen.”
Sie atmete schwer. “Ich habe nicht mehr so viel Angst”, räumte sie ein. “Und seit einigen Wochen hatte ich auch keine Albträume von der Pilotin mehr. Aber ich habe trotzdem gelogen, Rory. Ich habe etwas vertuscht. Das kann ich nicht einfach ignorieren und weitermachen.”
“Was würde passieren, wenn du es zugibst?”
“Darüber habe ich auch schon nachgedacht. Nach dem Motto: auf vorübergehende Unzurechnungsfähigkeit plädieren und um Gnade flehen. Aber so einfach ist das nicht. Es müsste eine Untersuchung geben. Solche Dinge werden sehr ernst genommen, und das ist auch gut so. Ich habe es getan, um meine Schwester zu schützen, und wir beide wissen, dass sie es nicht mit Absicht gemacht hat und meinen Schutz auch wirklich brauchte. Aber wenn ich damit ungeschoren davonkomme, ist es beim nächsten Mal jemand, der seinen Bruder vor irgendwas anderem schützen muss, und dann ist dieses Irgendwas vielleicht nicht mehr so harmlos. Man kann die Sache also nicht einfach ausradieren und vergessen. Irgendwann werde ich mich stärker damit auseinandersetzen müssen, weil ich wirklich gern wieder als Sanitäterin arbeiten möchte. Aber für den Rest des Sommers will ich das alles einfach vergessen und heißen Sex mit dir haben. Okay?”
Er lachte. “Freut mich, wenn ich dir bei deiner Flucht aus der Realität helfen kann.”
Daria legte sich wieder auf den Rücken. “Ich muss heute noch die Zutaten für meine Baked Beans kaufen”, sagte sie. “Was bringst du denn zum Lagerfeuer mit?” Traditionell bereitete jeder aus der Straße etwas zu essen zu.
“Jill hat vorgeschlagen, ich könnte Pappteller, Servietten und Plastikbesteck mitbringen. Wahrscheinlich hält sie mich für keinen besonders guten Koch.”
Daria konnte den Duft des Lagerfeuers schon fast riechen. Sobald die Mehrzahl der Strandbesucher gegangen wäre, würden Jill, ihr Mann und ihre Kinder zwei Feuer entfachen – eins für die Erwachsenen und eins für die Kinder. Allmählich kämen dann alle Anwohner der Sackgasse an den Strand, um gemeinsam zu essen, zu trinken und um zu bedauern, dass der Sommer fast vorbei war. Das Lagerfeuer war Jahr für Jahr der Auftakt zum Sommerende.
Rory sah auf die Uhr auf dem Nachttisch. “Ich gehe lieber wieder rüber. Zeit, mich weiteren unverschämten Fragen meines halbwüchsigen Sohnes über mein Liebesleben zu stellen.”
Er setzte sich auf die Bettkante und zog sich an. Daria fuhr mit der Hand über die warme Kuhle im Bett, die sein Körper hinterlassen hatte.
Das Lagerfeuer. Das Ende des Sommers.
“Rory?”
“M-hm.”
“Ich habe dir diese Frage bisher nicht gestellt, weil ich Angst vor der Antwort habe. Aber wann genau fährst du zurück nach Kalifornien?”
Er warf ihr über die Schulter einen Blick zu und zögerte kurz. Dann sagte er: “Lass uns nicht jetzt darüber reden, ja?”
Bereitwillig akzeptierte sie diese Antwort, denn eigentlich wollte sie es auch gar nicht wissen.