43. KAPITEL
Daria brach die Fassung eines der Fliegengitter heraus, während Chloe das Meerwasser auf der Veranda aufwischte. Sie hatten an diesem Morgen noch nicht miteinander gesprochen – zumindest über nichts Wichtiges –, als wüssten sie, dass sie beide noch Zeit brauchten, um von der emotional aufwühlenden Nacht auf diesen sonnigen neuen Tag umzuschalten. Ihre Energie bündelte sich in der körperlichen Arbeit, die Verwüstung rund um das Sea Shanty zu beseitigen und die Sturmläden zu öffnen. Daria hatte Chloe von der Rettungsaktion bei Andys Nachbarn erzählt und gesagt, dass Shelly dort sei und es ihr gut gehe. Mehr hatte sie nicht berichtet – schon gar nicht von ihrem Abenteuer mit Rory.
Auf der anderen Straßenseite entfernte Rory die Sperrholzplatten von seinen Fenstern. Er winkte. Sie winkte zurück. Ihre Kehle war wie zugeschnürt.
Als Chloe mit dem Wischen fertig war, stellte sie den Aufnehmer in den Eimer, stemmte die Hände in die Hüften und sagte: “Wie wäre es mit einer Pause?” Seit Tagesanbruch hatten sie ununterbrochen geschuftet.
“Gute Idee”, meinte Daria. “Möchtest du Limonade?”
Auf Chloes Nicken hin ging Daria in die Küche und holte die Getränke. Sie musste Chloe von Shelly erzählen, und zwar jetzt.
Daria stellte die Gläser auf den Picknicktisch und setzte sich. Sie war überrascht, als Chloe neben ihr Platz nahm und einen Arm um sie legte.
“Du bist heute Morgen genauso durcheinander wie ich, Schwesterherz”, sagte Chloe und drückte sie. “Ich hoffe, es ist nicht wegen dem, was ich dir gestern Abend erzählt habe. Vielleicht hätte ich dich damit nicht belasten sollen.”
Daria war gerührt und nahm ihre Schwester in den Arm. “Ich bin froh, dass du mit mir gesprochen hast, und es tut mir leid, dass du so viel durchmachen musstest.” Sie löste sich aus der Umarmung und rutschte ans Ende der Bank, sodass sie Chloe direkt in die Augen schauen konnte. “Ehrlich gesagt, Chloe, habe ich heute Morgen noch ganz andere Sorgen.”
Chloe streckte ihren Arm aus und nahm Darias Hand. “Was ist denn noch?”
“Ach, so einiges”, antwortete Daria. Sie sah ihre Schwester fragend an. “Findest du es nicht seltsam, dass Shelly letzte Nacht bei Andy war?”
Chloe nickte. “Doch, aber vermutlich hat sie irgendwie herausbekommen, dass er noch auf den Outer Banks war, und dachte sich, bei ihm wäre sie in Sicherheit.”
“Es ist mehr als das. Anscheinend sind sie schon seit zwei Jahren ein Paar.”
Chloe riss die Augen auf. “Andy und Shelly? Seit zwei Jahren? Hast du denn nie was davon mitbekommen?”
“Kein bisschen. Du hast sie ja auch schon zusammen erlebt. Sie verhalten sich, als würden sie einander kaum kennen. Jetzt wird mir klar, dass sie das nur gemacht haben, damit wir keinen Verdacht schöpfen.”
“Glaubst du, er benutzt sie nur?”
Daria schüttelte den Kopf. “Das habe ich zuerst auch gedacht, aber das passt nicht zu Andy.” Sie zuckte die Achseln. “Obwohl – im Moment bin ich nicht sicher, ob ich überhaupt einen von beiden wirklich kenne. Trotzdem glaube ich, dass Andy ein guter Mensch mit guten Werten ist, und nach dem bisschen zu urteilen, was ich gestern von ihnen mitbekommen habe, muss ich zugeben, dass sie einander sehr gern zu haben scheinen. Es macht mich nur traurig, dass sie es die ganze Zeit vor mir geheim gehalten haben. Andy und ich arbeiten fast jeden Tag zusammen, und er hat nie ein Wort darüber verloren.”
“Sie hatten sicher nur Angst, dass du sie auseinanderbringen willst.”
Daria seufzte. “Ich wusste gar nicht, dass man mich für so eine Hexe hält.”
“Du bist keine Hexe. Du gehörst nur zu den Frauen, die zu sehr lieben.”
“Da ist noch etwas.” Daria konnte es nicht fassen, dass sie im Begriff war, ihrer Schwester davon zu erzählen.
“Spuck es aus.”
“Ich … Rory und ich haben letzte Nacht miteinander geschlafen.”
Chloe zuckte förmlich zusammen. “Oh Daria, warum tust du dir das an?”
“Die Ereignisse des gestrigen Abends haben so viele Gefühle geweckt, und …” Warum Ausreden erfinden? “Ich wollte ihn einfach. Und ich will ihn immer noch.”
Durch das ungeschützte Verandafenster schaute Chloe zum Poll-Rory. Sie hörte, wie Rory an den Fenstern arbeitete, konnte ihn jedoch nicht sehen. Er stand wohl hinter dem Haus. Einen Augenblick später richtete sie ihren Blick wieder auf Daria. “Na ja”, sagte sie mit einem betrübten Lächeln, “ich bin wohl die Letzte, die den ersten Stein werfen sollte.” Dann sah sie plötzlich zur Strandstraße. “Ist das nicht Andys Van?”
Daria sah den Van in die Sackgasse einbiegen und stand auf, als Andy in ihre Auffahrt fuhr. Er ging um den Wagen herum und öffnete die Beifahrertür. Daria war gerührt von seiner Galanterie. Dann stieg Shelly aus, und zum ersten Mal bemerkte Daria, wie gut die beiden zusammenpassten – zumindest optisch: Beide hatten langes blondes Haar und waren schlank und hochgewachsen. Als sie auf die Veranda traten, hielt sie ihnen die Tür auf.
“Julie und ihr kleiner Junge sind im Krankenhaus in Elizabeth City”, berichtete Andy. “Jim sagt, sie sind bald wieder auf den Beinen. Danke noch mal, dass du gekommen bist, Daria.”
“Ich bin erleichtert, das zu hören”, erwiderte Daria. Sie sah in Chloes Richtung. “Wollt ihr euch vielleicht setzen?” Mit einer Handbewegung deutete sie auf die Bänke am Picknicktisch. “Ich habe Chloe bereits erzählt, dass ihr ein Paar seid. Aber wir würden beide gern … besser verstehen, was da los ist.”
Andy und Shelly setzten sich händchenhaltend auf die Bank, als wären sie eins. Shellys Nervosität weckte zwar Darias Mitgefühl, doch sie war auch immer noch wütend auf die zwei wegen ihrer Unaufrichtigkeit.
“Es ist so, wie ich gestern Abend gesagt habe”, meinte Andy. “Shelly und ich sind seit zweieinhalb Jahren zusammen. Ich entschuldige mich dafür, dass ich es dir nicht erzählt habe, Daria. Ich habe es einige Male versucht, aber du hast immer angefangen, mir zu erklären, dass man Shelly vor Männern beschützen muss, und ich hatte Angst vor dem, was du sagen würdest. Oder was du tun würdest.”
Daria setzte sich in einen der Schaukelstühle, die Chloe inzwischen geholt hatte. In Gedanken ließ sie die letzten zwei Jahre Revue passieren. Hatte sie irgendwelche Hinweise übersehen? Sie konnte sich an einige Gespräche erinnern, in denen Andy ihr gesagt hatte, Shelly brauche mehr Freiheit. Sie hatte ihm daraufhin geantwortet, er kenne sie nicht gut genug, um das zu verstehen.
“Ich bin wirklich sauer auf dich, Andy”, sagte sie und beugte sich vor. “Du hast mich angelogen.”
“Nein, ich habe nie gelogen. Ich habe nur nie davon gesprochen.”
“Shelly ist … sie ist verletzlich. Weißt du, was das heißt?” Sie war sich nicht sicher, ob einer von beiden die Bedeutung dieses Wortes kannte. “Sie muss beschützt werden.”
“Aber nicht so sehr, wie du glaubst”, entgegnete Andy.
“Ich kann sehr gut selbst auf mich aufpassen”, ergriff nun Shelly das Wort. “Du machst dir zu viele Sorgen um mich, Daria.”
“Außerdem”, meinte Andy, “würde ich niemals zulassen, dass ihr etwas Schlimmes zustößt. Ich liebe sie. Ich …”
“Wenn ich dir von mir und Andy erzählt hätte … Du hättest doch nur versucht, uns auseinanderzubringen”, fiel Shelly ihm ins Wort. “So wie bei meinen früheren Freunden.”
“Das war etwas anderes”, verteidigte sich Daria. “Egal was du denkst, Shelly, aber diese Kerle hätten dir nur das Herz gebrochen.” Stimmt das? Kannte ich die beiden Jungs wirklich gut genug, um mir dieses Urteil erlauben zu können?
“Es gibt noch was, das du wissen musst”, sagte Andy. Er sah Shelly an. “Shelly ist schwanger, und wir werden heiraten.”
Chloe stöhnte auf, und Daria riss der Geduldsfaden. “Ich dachte, du würdest nie zulassen, dass ihr etwas Schlimmes zustößt”, fuhr sie ihn an, unfähig, den sarkastischen Tonfall in ihrer Stimme zu unterdrücken.
“Es ist nichts Schlimmes”, meinte Shelly. “Ich bin glücklich darüber. Ich will das Baby. Und ich will Andy heiraten.”
“Du kannst kein Baby bekommen”, sagte Daria. “Shelly, Süße, es tut mir leid. Aber du bist einfach nicht in der Lage, für ein Kind zu sorgen. Du musst … über Alternativen nachdenken.” Sie hätte eine Abtreibung vorgeschlagen, fühlte sich in Chloes Anwesenheit jedoch nicht wohl dabei. Chloe mochte gegen die Kirche rebellieren, doch Daria wusste, dass sie sich dennoch vehement gegen Abtreibung aussprach.
“Wir sollten bei dieser Sache nichts überstürzen”, meinte Chloe. “In der wievielten Woche bist du?”
“Noch ganz am Anfang”, antwortete Shelly.
“Ihre Regel ist ein Mal ausgeblieben”, meinte Andy. “Aber sie wird das Kind nicht abtreiben.”
“Gut, dann haben wir ja noch Zeit”, fuhr Chloe fort. “Zeit, um nach Möglichkeiten zu suchen und herauszufinden, was das Beste für euch zwei und das Baby ist.”
Chloe sprach weiter und beeindruckte Daria mit ihrer ruhigen Herangehensweise. Daria war klug genug, sich aus der Unterhaltung herauszuhalten, denn momentan konnte sie nicht klar denken. Ihre Gedanken waren zerrissen zwischen dem, was gerade auf ihrer Veranda vor sich ging, und Rory, der auf der anderen Straßenseite an seinen Fenstern werkelte. Was dachte er wohl?
Schon bald würde Zack mit den Wheelers zurückkommen, und auch Grace würde wieder im Poll-Rory auftauchen. Ihre ältere Schwester trauerte um eine verbotene Liebe und stand vor dem Ende ihres Lebens als Ordensschwester. Ihre jüngere Schwester trug ein Kind in sich, das sie unmöglich allein aufziehen konnte. Und keine von beiden hatte sich ihr anvertraut.
Und auf einmal fühlte sich Daria mutterseelenallein.