14. KAPITEL
Daria erwachte an jenem Samstagmorgen mit knurrendem Magen. Sonnenlicht durchflutete ihr freundliches weißblaues Schlafzimmer, und in ihr machte sich die freudige Erkenntnis breit, dass sie weder arbeiten noch unterrichten musste, sondern den lieben langen Tag nur faulenzen könnte. Vielleicht würde sie ins Fitnessstudio gehen. Vielleicht wäre Rory auch da. Dann fiel ihr plötzlich ein, dass Ellen und Ted zu Besuch waren, und ihre Stimmung absolvierte einen Sturzflug.
Sie waren am Abend zuvor angekommen, und schon als Daria ihr Auto in der Auffahrt gehört hatte, war es mit ihrer guten Laune vorbei gewesen. Seit einem Jahr hatte sie ihre Cousine nicht gesehen, und erst jetzt wurde ihr klar, wie himmlisch diese Zeit ohne Ellens ständige Einmischungen gewesen war. Daria hatte die beiden Gäste nur kurz begrüßt und war dann, Müdigkeit vorschützend, zu Bett gegangen – mit einem schlechten Gewissen, weil sie Chloe und Shelly mit der Gastgeberrolle alleingelassen hatte.
Bis zu ihrer Hochzeit mit Ted hatte Ellen gemeinsam mit Tante Josie jeden Sommer im Sea Shanty verbracht. Seitdem kamen sie und Ted mit ihren zwei Töchtern während des Sommers gelegentlich übers Wochenende vorbei. Dazu warteten sie noch nicht einmal auf eine Einladung. Für gewöhnlich kündigte Ellen ihren Besuch einfach telefonisch an, und nach all den Jahren brachte Daria es einfach nicht übers Herz, Nein zu sagen. Außerdem ließe Chloe es nie und nimmer zu, dass Daria ihre Cousine abwies. Chloe schaffte es, Ellen aus einer vollkommen anderen Perspektive zu betrachten. “Wir müssen verstehen, warum Ellen so ist, wie sie ist”, pflegte sie zu sagen. “Ihr Vater starb, als sie noch klein war. Und Tante Josie war nicht gerade der herzlichste und mütterlichste Mensch auf Erden. Wir müssen Verständnis für Ellen haben. Wir müssen ihr Liebe und Mitgefühl schenken.” Doch es war nicht leicht, jemandem Liebe und Mitgefühl zu schenken, wenn man nichts als Sarkasmus und Ungehobeltheit erntete.
Daria stand auf, und während sie sich Shorts und T-Shirt überzog, versuchte sie, ihre positiven Gefühle wieder auszugraben. Sie schaute aus dem Fenster zum Poll-Rory und fragte sich, ob Rory um diese Zeit wohl schon auf war. Dann ging sie nach unten, um sich der Begegnung mit ihren Gästen zu stellen.
Ellen war auf der Veranda und füllte die Gläser auf dem Picknicktisch gerade mit Orangensaft. Als Daria in der Mitte des Tischs eine Platte mit Waffeln und Würstchen stehen sah, wusste sie gleich, dass Shelly sich den Morgen über mit Kochen beschäftigt hatte; vermutlich, um Ellen zu entwischen.
“Na ja”, sagte Ellen, als sie ihren Blick von den Gläsern auf Daria richtete. Daria bemerkte die silbergrauen Strähnen im Haar ihrer Cousine sofort. Die Farbe war richtig hübsch – besonders im Sonnenlicht, das auf die Veranda fiel –, doch der Rest ihrer Frisur wirkte, als hätte sich ein Fünfjähriger mit einer stumpfen Schere daran ausgelassen. “Immerhin siehst du heute Morgen ein wenig freundlicher aus.”
Sofort spürte Daria ein Kribbeln auf der Haut. “Tut mir leid, dass ich gestern so schnell verschwunden bin”, sagte sie und setzte sich in einen Schaukelstuhl. “Es war ein langer Tag. Gab viel zu tun.”
“Tja, es hat dich niemand gezwungen, einen körperlich so anstrengenden Job zu machen, oder?” Ellen setzte den Krug ab und platzierte die Gläser vor den einzelnen Tellern.
“Stell dir vor, ich bin einfach eine Masochistin”, erwiderte Daria, die sich eigentlich auf keinen Kampf einlassen wollte. Besser als eine Sadistin, dachte sie und erinnerte sich an die Mammografie im letzten Jahr. Der Arzt hatte in einer Brust eine kleine Zyste gefunden und die Untersuchung angeordnet, um eine ernsthafte Erkrankung auszuschließen. Die Mammografie war einfach, schnell und schmerzlos vonstatten gegangen, doch Daria war davon überzeugt, dass es auch anders hätte ablaufen können – wenn nämlich eine MTA wie Ellen die kalten Plexiglasplatten zusammengedrückt hätte.
Chloe kam auf die Veranda und sah zum Tisch. “Wieso ist denn nur für vier gedeckt?”, fragte sie.
“Rate mal”, antwortete Ellen. “Ted geht Angeln.”
Wie aufs Stichwort kam Ted auf die Terrasse, in der einen Hand die Angelrute, in der anderen einen Eimer. “Was beißt denn zurzeit?”, fragte er Daria.
Daria versuchte, sich den letzten Angelbericht ins Gedächtnis zu rufen. Es war unmöglich, auf den Outer Banks zu leben und nicht zu wissen, was gerade biss.
“Adlerfisch, glaube ich”, sagte sie. “Bring uns was Schönes zum Abendessen mit, ja?” Eigentlich mochte sie Ted. Er war übergewichtig, und jedes Jahr quoll sein Bauch ein bisschen mehr über den Hosenbund. Seine braunen Augen blickten freundlich, und sein graues Haar wich immer weiter zurück. Er war farblos und zurückhaltend, und obwohl seine Frau ihn als Fußabtreter benutzte, lag in seinem Verhalten keine Spur von Verteidigung. Seit Daria ihn kannte, machte sich Ted bei der erstbesten Gelegenheit auf zum Angelsteg, und sie konnte ihm seine Flucht nicht übel nehmen.
Er gab Ellen einen flüchtigen Kuss auf die Wange. “Bis heute Abend, Liebes”, sagte er. “Sieh zu, dass der Grill heiß ist, wenn ich zurück bin.”
“Warum?”, fragte Ellen. “Kaufst du auf dem Rückweg noch ein paar Steaks?”
“Sehr komisch”, brummte er, als er sich auf den Weg von der Terrasse zu seinem Auto machte.
Shelly brachte eine Schüssel mit Obst auf die Veranda. “Lasst uns essen”, schlug sie vor, und die vier Frauen setzten sich an den Tisch.
“Wie geht es deinen Mädchen in Frankreich?”, fragte Daria, während sie Ellen ein paar Obststücke auf den Teller schaufelte.
“Ach, sie sind ganz begeistert. Allerdings habe ich das Gefühl, dass sie mehr Zeit ins Einkaufen und in die Männerjagd investieren als ins Lernen.” Ellen lachte.
“Sie werden mir diesen Sommer fehlen”, sagte Daria und meinte es ehrlich. Ellens Töchter waren anders als ihre Mutter und gaben sich immer Mühe, Shelly in ihre Unternehmungen einzubinden – und das, obwohl sie fünf Jahre jünger waren.
“Ich kann nicht gerade behaupten, dass ich sie vermisse”, gestand Ellen. “Endlich ist es still in unserem Haus. Keine laute Musik, keine Teenager, die Tag und Nacht ins Haus und wieder raus rennen.” Auf einmal sah sie auf die Uhr. “Wieso arbeitest du heute denn gar nicht?”, fragte sie. “Du arbeitest samstags doch immer bei der Freiwilligen Rettung, oder?”
“Stimmt, aber ich mache gerade eine kleine Pause.”
Ellen war überrascht. “'Supergirl' wird wohl langsam zu alt für die Herrschaft, was?”, fragte sie.
“So ähnlich”, sagte Daria, froh darüber, so leicht davongekommen zu sein.
“Und wo ist Pete?”, fragte Ellen weiter. “Irgendwie seltsam, dass er nicht hier herumlungert.”
“Wir haben uns getrennt.”
“Du machst Witze.” Ellen sah ehrlich betroffen aus. “Ihr wart wie füreinander geschaffen”, sagte sie. “Ich dachte immer, er wäre genau dein Typ. Du als Sportskanone brauchst doch so einen supermaskulinen Mann. Nur neben einem Mann wie Pete wirkst du weiblich.”
“Tja, es sollte wohl einfach nicht sein”, antwortete Daria. Ellen hatte es geschafft, sogar ihre Mitleidsbekundung in eine Beleidigung zu verwandeln.
Auf der anderen Seite der Straße fiel die Verandatür ins Schloss, und Daria wandte sich sogleich in die Richtung, aus der das Geräusch kam – als hätte sie nur darauf gewartet. Rory überquerte den Vorplatz. Er ging zu seinem Auto. Daria zwängte sich aus der Bank des Picknicktischs und öffnete die Fliegengittertür der Terrasse.
“He!”, rief sie. “Gehst du später noch ins Fitnessstudio?”
Rory blieb stehen und sah zu ihr herüber, die Autotür stand halb offen. “Ich bekomme heute Besuch”, antwortete er.
“Ach so, verstehe. Dann mach's gut.” Sie schloss die Tür und setzte sich wieder, darum bemüht, ihre Enttäuschung zu verbergen. Sie fragte sich, ob “Besuch” Grace bedeutete?
Ellen starrte auf die Straße. “Ist das …?”
“Rory Taylor”, beendete Shelly ihren Satz.
“Na, sieh mal einer an”, wunderte sich Ellen. “Ist das lange her.”
“Er wird meine richtige Mutter finden”, sagte Shelly.
“Er will es versuchen, Süße”, korrigierte Daria sie. “Du weißt, dass er es möglicherweise nicht schafft.”
“Das ist doch nur abstruse Zeitverschwendung”, polterte Ellen.
“Was bedeutet 'abstrus'?”, fragte Shelly.
“Ach komm, Shelly, du kennst das Wort”, sagte Ellen. “Hör auf, dich dumm zu stellen.”
“Ich kenne es nicht”, protestierte Shelly.
“Es bedeutet: Wozu um alles in der Welt soll er versuchen, deine Mutter zu finden?”, antwortete Ellen. “Was willst du denn mit ihr machen, wenn du sie erst gefunden hast? Vielleicht zu so einer niveaulosen Talksendung wie der 'Jerry Springer Show' gehen und sie anschreien, dass sie dein Leben vermurkst hat?”
“Ellen.” Chloe machte ein sehr un-nonnenhaftes Gesicht. “Bleib bitte freundlich.”
“Das würde ich niemals tun”, sagte Shelly.
Wenn die Stimme ihrer jüngeren Schwester diesen blechernen Klang annahm, war das ein sicheres Zeichen dafür, dass sie gleich in Tränen ausbrechen würde, das wusste Daria. “Wir fänden es alle besser, wenn Shelly der Sache nicht nachginge”, wandte sie sich an Ellen, “aber es ist ihr nun mal wichtig.”
Diese unerwartete Unterstützung tröstete Shelly. “Danke”, sagte sie.
“Schon gut”, meinte Ellen. “Shelly darf also endlich einmal selbst eine Entscheidung treffen. Nachdem du ihr zweiundzwanzig Jahre lang gesagt hast, wann sie sich die Nase putzen darf.”
Daria fiel keine passende Retourkutsche ein, die Chloe nicht bestürzt hätte, also hielt sie den Mund. Schon immer hatte Ellen Darias überfürsorgliche Art Shelly gegenüber kritisiert. Sie hatte von Anfang an versucht, ihre Vorgehensweise zu ändern. Ihrer Meinung nach hätte Shelly auf eine normale Schule gehen sollen. Sie hätte schon gelernt mitzuhalten. Man müsse sie zwingen, allein zu leben und einer ganz normalen Arbeit nachzugehen, so wie jeder andere es auch tue, hatte Ellen stets gesagt. Daria verhätschle sie zu sehr. Shelly habe nie gelernt, auf eigenen Beinen zu stehen. Und so weiter und so fort.
Ellen hatte für Shellys Ängste kein Verständnis. Sogar bei Sue Catos Beerdigung, als Shelly vor lauter Kummer vollkommen neben sich gestanden und – ausgelöst durch den plötzlichen Tod ihrer Mutter – mit einem Haufen neuer Ängste zu kämpfen gehabt hatte, selbst da musste Ellen sie quälen. Nach der Bestattungszeremonie gingen alle zurück ins Sea Shanty, um ein paar Sandwiches und Salat zu sich zu nehmen. Shelly saß im Wohnzimmer in einem Polstersessel, und Ellen, die um die schreckliche Angst ihrer Cousine vor Erdbeben genau wusste, schlich sich von hinten an und rüttelte am Sessel, woraufhin die damals achtjährige Shelly panisch aus dem Zimmer flüchtete. Die damals neunzehnjährige Daria verpasste ihrer älteren Cousine eine saftige Ohrfeige, was zu einer Rauferei führte, bei der sich zwar niemand verletzte, die jedoch für böses Blut gesorgt hatte.
Auf einmal stand Chloe auf. “Ich muss rüber in die Kirche”, sagte sie. “Ist es in Ordnung, wenn du hier aufräumst?” Sie sah Daria an.
“Klar, kein Problem.” Ganz schön mutig von Chloe, mich hier mit Ellen allein zu lassen; dabei muss sie doch wissen, dass ich ihr nur zu gern an die Gurgel springen würde, dachte Daria. Doch irgendwie schaffte sie es, ohne weitere Zwischenfälle zu spülen und abzutrocknen, und flüchtete dann ins Fitnessstudio. Allein.