45. KAPITEL
Als Daria an diesem Abend von ihrer Unterrichtsstunde auf der Feuerwache zurückkam, fand sie Rory auf den Stufen zum Sea Shanty sitzend vor.
“Ist das nicht ein wunderschöner Abend?”, fragte er beim Aufstehen.
Sie hatte noch keine Notiz davon genommen. Wie in Trance hatte sie ihre Klasse unterrichtet. Jeder wollte über den Hurrikan und das Drama sprechen, das sich draußen an Andys Steg ereignet hatte, bei Weitem die spektakulärste Rettungsaktion der Nacht. Sie versuchte, die Diskussion auf den Bedarf an Notfallbereitschaft während eines Sturms zu lenken, doch niemand zeigte Interesse. Stattdessen wollten ihre Schüler wissen, wie sie es geschafft hatte, zwei Menschen aus einem umgekippten Boot zu retten, während das Wasser gestiegen und ihr um die Beine geschwappt war. Sie dachten, “Supergirl” sei zurück.
Jetzt sah sie zum Himmel und bemerkte, dass er mit Sternen übersät war.
“Komm mit mir zum Strand”, bat Rory sie. Er hatte eine Decke dabei. “Es soll heute Abend einen Meteoritenschauer geben. Wir könnten ihn uns ansehen.”
Ihr Herz sagte Ja, ihr Verstand Nein. “Besser nicht, Rory.”
“Ach komm”, bettelte er. “Nur kurz.”
Wider besseres Wissen ging sie mit ihm an den dunklen Strand, wo sie ihm half, die Decke auszubreiten. Sie legte sich neben ihn, und kaum dass ihr Kopf die Decke berührte, segelten drei Sternschnuppen quer über den Himmel.
“Ich habe doch gesagt, es würde sich lohnen”, triumphierte er.
Wie konnte er bloß glauben, sie könnte einfach so mit ihm da liegen? Nach allem, was in der vergangenen Nacht passiert war?
“Wie war es bei Cindy?”, fragte sie.
“Interessant. Sie sieht noch genauso aus wie früher. Sie trug sogar einen Bikini.”
“Hat sie Licht ins Dunkel deiner Geschichte bringen können?”
“Na ja, sie hat ihre Theorie, so wie jeder andere auch.”
“Und welche ist das?”
“Sie ist ziemlich verrückt, also lach nicht. Ihre Hauptverdächtige ist deine Cousine Ellen.”
Noch ein weißer Diamant, diesmal mit einem Schweif, schoss durch die Nacht. Doch Daria nahm ihn kaum wahr. Rorys Äußerung hatte sie zu sehr verblüfft. “Wie kommt sie denn darauf?”
“Na ja, ich hatte das Gefühl, dass Cindy Ellen nie besonders gut leiden konnte. Also darf man ihren Verdacht wohl nicht allzu ernst nehmen. Sie hat gesagt, Ellen hätte einmal auf ihre Cousinen aufgepasst und eines der Mädchen geschlagen. Deshalb traut sie Ellen zu, ein Baby am Strand zu 'entsorgen'. Kam mir ziemlich komisch vor.”
Daria schloss die Augen. Das war's. Der Augenblick der Wahrheit. “Cindy ist sehr scharfsinnig”, stellte sie fest.
“Was meinst du damit?”
“Ich meine, dass sie recht hat. Ellen ist Shellys Mutter.”
Abrupt setzte Rory sich auf und sah sie an. Sie konnte sein Gesicht in der Dunkelheit nur vage erkennen. “Bist du dir sicher? Wusstest du das schon die ganze Zeit?”
“Shelly war nicht das Einzige, was ich an jenem Morgen am Strand gefunden habe”, gestand sie. “Da war noch eine Muschelkette, von der ich wusste, dass sie Ellen gehört. Sie lag direkt neben dem Baby im Sand.”
“Mein Gott, Daria. Hast du das jemals jemandem erzählt?”
“Nein, nie. Ich war völlig verstört, als mir klar wurde, was Ellen getan hatte. Aber sie gehörte zur Familie, und sie war älter als ich. Nie im Leben hätte ich gewagt, irgendwem irgendwas über sie zu erzählen.”
“Hast du denn mit ihr mal darüber gesprochen? Weiß sie, dass du es weißt?”
Sie wandte ihm ihr Gesicht zu. “Ich habe noch nie ein Wort vor irgendjemandem darüber verloren – bis jetzt. Ellen hat nicht die leiseste Ahnung, dass ich davon weiß. Einer der Gründe, warum ich sie nur so schwer ertrage. Sie will mir immer vorschreiben, wie ich mit Shelly umzugehen habe, und gibt mir ständig das Gefühl, ich würde alles falsch machen. Aber ich glaube nicht, dass ihr Shelly wirklich am Herzen liegt. Manchmal ist sie sogar richtig grausam zu ihr. Und ihren eigenen Töchtern ist sie auch eine furchtbare Mutter, wenn du mich fragst.”
Rory starrte aufs Meer hinaus, die Arme auf seine Beine gestützt. Sie konnte sich vorstellen, wie er sich fühlen musste, nachdem sie ihm all das verschwiegen hatte. Sie legte ihm die Hand auf die Schulter.
“Entschuldige, dass ich dir nicht schon längst davon erzählt habe”, sagte sie. “Ich wollte einfach nicht, dass du es herausfindest. Ich wollte nicht, dass es jemals irgendwer erfährt.”
Rory stieß einen langen Seufzer aus. “Niemand wird es erfahren, Daria. Wenn ich die Tatsache enthüllen würde, dass Ellen Shellys Mutter ist, wäre keinem damit geholfen. Am allerwenigsten Shelly. Ich werde mich einfach damit zufriedengeben müssen, dass ich das Geheimnis für mich selbst gelüftet habe.”
Daria war erleichtert. “Danke für dein Verständnis.”
“Komm her.” Er grub seine Hand unter ihre Schulterblätter und zog sie zu sich her.
“Nein, Rory. Ich kann das nicht noch einmal.”
Er legte sich auf die Seite, stützte sich auf den Ellbogen und sah sie an. “Weißt du noch, als ich dich auf dem Dach gesehen habe?”
Sie nickte.
“Ich habe dich zuerst gar nicht erkannt. Ich wusste nur, dass ich diese Frau da oben wollte. Ich wollte sie unbedingt. Als ich merkte, dass du es bist, war ich völlig schockiert, dass ich so für dich empfinden kann. Du warst doch immer wie eine kleine Schwester für mich.”
“Ja, ich weiß.”
“Dieser Sommer war wunderschön, selbst ohne eine neue Geschichte für meine Sendung, weil ich dich neu kennengelernt habe.” Er lächelte sie an, und sie konnte nicht widerstehen und berührte mit den Fingerspitzen seine Lippen. Er drehte sogleich den Kopf und küsste ihre Hand. Dann sah er ihr wieder in die Augen. “Die gute alte Cindy hat heute Nachmittag etwas gesagt, was mir die Augen geöffnet hat. Du hattest recht, als du sagtest, ich hätte ein Helfersyndrom. Glorianne brauchte mich. Grace brauchte mich. Aber du nicht. Und ich glaube, es ist an der Zeit, dass ich aus diesem Beziehungsmuster ausbreche. Zeit für eine ebenbürtige Partnerin. Ich bin zwar nicht sicher, wie ich eine Beziehung mit einer Frau führen soll, die genauso stark ist wie ich – wenn nicht sogar stärker –, aber ich möchte es gern ausprobieren. Das heißt, wenn du es willst.”
Sie musste lächeln.
“Ich liebe dich auch, Daria. Die Gefühle haben sich angeschlichen, ohne dass ich es gemerkt habe. Es tut mir leid, dass ich so blind war.” Er zog sie an sich, und dieses Mal dachte sie gar nicht daran, sich zu wehren.