22. KAPITEL
“Meine Waden bringen mich noch um”, jammerte Kara, als sie neben Daria die riesige Sanddüne im Jockey's-Ridge-Staatspark erklomm.
Kara war ein niedlicher Quälgeist. Sie gehörte zu den hübschesten Mädchen, die Daria je gesehen hatte, doch von dem Moment an, als sie von der Sackgasse auf die Strandstraße gebogen waren, hatte sie nicht aufgehört zu nörgeln. Im Auto betrachtete sie ihre French Manicure und machte einen schüchternen Eindruck. Und wenn keine Beschwerde aus ihrem Mund kam, dann sagte sie gar nichts – trotz Darias Bemühungen, ein Gespräch anzufangen.
Rory und Zack hatten sie eingeladen, sich ihre Drachenflugstunde anzusehen, und obwohl Daria annahm, dass sie nach einer Absage von Grace nur die zweite Wahl war, hatte sie bereitwillig zugesagt. Da es ein gewöhnlicher Donnerstag war, musste sie eher von der Arbeit nach Hause fahren und Andy ihren gemeinsamen Auftrag in einem der älteren Häuser in Southern Shores allein erledigen lassen. Doch er redete ihr noch zum Gehen zu.
Es war schon eine Weile her, dass sie auf die Dünen in Jockey's Ridge geklettert war. Das letzte Mal vor mehreren Jahren, als sie sich zusammen mit ihren Schwestern den Drachenflieger-Wettkampf angesehen hatte, aus dem Sean Macy als Sieger hervorgegangen war. Ein Phänomen, dass man die interessantesten und nächstgelegenen Attraktionen der eigenen Wohngegend am seltensten besuchte.
“Da sind sie.” Kara zeigte auf eine Gruppe, die auf dem Dünengipfel im Kreis um einen einzelnen Hängegleiter stand.
Daria erkannte Rory und Zack, die mit dem Rücken zu ihr und Kara standen, sofort. Sie hatten beide diesen unverkennbaren v-förmigen Oberkörper.
“Lass uns noch ein Stückchen näher rangehen”, sagte sie.
Sie stiegen noch etwas höher, und Kara beschwerte sich bei jedem Schritt, dass der heiße Sand ihre Füße verbrenne. Daria hatte ihr geraten, Schuhe zu tragen, doch ihre Warnung war auf taube Ohren gestoßen.
In der Nähe der Gruppe setzten sie sich. Rory erspähte sie und winkte. Er ist bestimmt ziemlich nervös, dachte Daria. Sie selbst hatte vor Jahren eine Stunde genommen, und das hatte ihr gereicht. Obwohl sie durchtrainiert und mutig war, bevorzugte sie, wann immer möglich, Bodenkontakt.
Es machte Spaß, die Gruppe zu beobachten. Jeder Schüler nahm am Seitenhang der Düne mehrmals Anlauf. Dabei lastete der Hängegleiter so lange schwer auf seinen Schultern, bis ihn die Luft zu einem gleichmäßigen Gleiten über dem Sand anhob. Einigen Schülern gelang ein längerer Flug als anderen; einige flogen ziemlich hoch, während andere nah am Boden blieben; wieder andere kamen nicht einmal von der Düne hoch, weil die Nase ihres Drachens sich im Sand vergrub, noch ehe er eine Chance zum Abheben hatte.
Beim ersten Versuch flog Rory recht tief, doch schon der zweite trug ihn hoch über die Köpfe der beiden Lehrer hinaus, die unter ihm die Dünen entlangrannten.
“Los, Dad!”, feuerte Zack ihn an, die Hände hatte er in die Hüften gestemmt. “Whoo-hoo!”
Daria konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen. Endlich schien Zack seinen Vater einmal nicht für einen kompletten Versager zu halten. Und tatsächlich befand sich Rorys Körper in der idealen Ausrichtung zum Drachen; sein Flug war weich wie Watte. Er lernte wirklich schnell.
Kara ließ Zack nicht aus den Augen und lächelte dabei unentwegt. Sie war bis über beide Ohren in ihn verschossen, was Daria sehr gut verstehen konnte. Zacks Erscheinung glich der seines Vaters als fünfzehnjähriger Teenager auf erstaunliche Weise: dieser gebräunte athletische Körper, die grünen Augen und das sonnengebleichte Haar, das gerade von einem Helm verdeckt wurde. Als Mädchen hatte Daria gedacht, in Rory verliebt zu sein; heute wusste sie es. Sie hatte schon viele Leute beim Drachenfliegen beobachtet, aber zum ersten Mal zog nicht der Flug, sondern der Pilot ihre Aufmerksamkeit auf sich.
Gut, dachte sie, wenigstens hast du ihn als Freund. Sie konnte sich gut mit ihm unterhalten und sicher sein, dass er ehrlich zu ihr war. Auch wenn sie sich wünschte, er würde ihr nichts über seine Gefühle für Grace erzählen. Er war der erste und einzige Mann, der die Verantwortung, die sie für Shelly fühlte, voll und ganz verstand und respektierte. Vielleicht war er etwas verbohrt, wenn es um die Untersuchung von Shellys Herkunft ging. Doch wenigstens machte er Daria gegenüber daraus kein Geheimnis.
Er war ohne Frage viel aufrichtiger zu ihr als sie zu ihm.