3. KAPITEL
Im Wäschekorb türmte sich ihre saubere Arbeitskleidung – mehrere Shorts und ein Dutzend T-Shirts –, und Daria kippte alles auf ihr Bett, um sich ans Zusammenlegen zu machen. Das Fenster stand weit offen, und eine warme Meeresbrise streichelte die blauweißen Vorhänge, sodass sie sich wie die Flügel einer müden Möwe in den Raum hineinreckten. An Sommertagen wie diesem hatte sie sich sonst immer beschwingt und sorglos gefühlt, doch anscheinend war sie zu derlei Empfindungen nicht mehr in der Lage.
Sie trug den Stapel gefalteter Wäsche durchs Zimmer und legte ihn auf die Kommode. Aus der geöffneten Schublade nahm sie das Foto, das sie unter ihren T-Shirts versteckt hielt. Sie ging näher ans Fenster, um es sich genauer anzusehen, so wie jedes Mal, wenn sie die Kommode öffnete. Das Foto zeigte Pete, wie er am Haus eines Freundes in Manteo an einem rudimentären Holzzaun lehnte – ein Bier in der Hand, den nachmittäglichen Anflug von Bartstoppeln im Gesicht und ihr, der Fotografin, ein strahlendes Lächeln schenkend. Sein dunkles Haar, das so fein und glatt war wie ihres dick und gewellt, fiel ihm in die Stirn. Der Anblick dieses Bildes quälte sie, und dennoch tat sie es sich immer wieder an. Sechs Jahre lang war er Teil ihrer Gegenwart und Zukunft gewesen. Nun war er nur noch ein Teil ihrer Vergangenheit, und sich daran zu gewöhnen dauerte länger, als ihr lieb war.
Daria legte das Bild zurück, verteilte ihre T-Shirts darüber und ging wieder zum Wäschekorb, doch mit ihren Gedanken war sie noch immer bei dem Foto. In ihrem Kopf waren Pete und seine Gleichgültigkeit Shelly gegenüber untrennbar mit der Nacht des Flugzeugabsturzes verbunden, bei dem die Pilotin ums Leben gekommen war. Seit zwei Monaten drehten sich Darias Albträume nun schon um die letzten Minuten dieser jungen Frau. Sie konnte sich von der Erinnerung an ihren flehenden Blick einfach nicht befreien.
Am Morgen hatte sie vom Leiter des Freiwilligen Rettungsdienstes einen Anruf erhalten. Einen Anruf, den sie ebenso erwartet wie befürchtet hatte. Sie entließen sie aus ihrem Amt als Notfallseelsorgerin, sagte er, und sie zuckte zusammen, als hätte er sie ins Gesicht geschlagen. Fünf Jahre lang arbeitete sie nun schon im Kriseninterventionsdienst. Bei traumatischen Ereignissen im gesamten Bezirk rief man sie, damit sie verzweifelten Rettungskräften helfen konnte, das Erlebte zu verarbeiten. Und nun war sie so eine verzweifelte Rettungskraft. Ihr Chef brachte es auf den Punkt, als sie ihn anflehte, es sich noch einmal zu überlegen: “Wenn du deinen eigenen Stress nicht bewältigen kannst, wie um alles in der Welt willst du dann anderen dabei helfen?”
Sie legte gerade das letzte Paar Shorts zusammen, als ihr Blick unwillkürlich nach draußen auf die andere Straßenseite wanderte, wo die dieswöchigen Urlauber gerade das Poll-Rory bezogen. Irgendetwas veranlasste sie, näher ans Fenster zu gehen, den aufgeblähten Vorhang zur Seite zu halten und die Neuankömmlinge genauer ins Visier zu nehmen. Ein Mann und ein Junge luden Gepäck aus einem roten Jeep aus. Trotz der Entfernung und obwohl sie ihn seit fast zwanzig Jahren nicht gesehen hatte, erkannte sie in dem Mann sofort Rory Taylor. Als er noch Footballspieler bei den Rams gewesen war, hatte sich Daria jedes Spiel im Fernsehen angesehen, und nun war sie seit Jahren eine treue Zuschauerin von “True Life Stories”. Sie hatte jegliche Hoffnung aufgegeben, dass er ins Poll-Rory zurückkehren würde – vor allem nach dem Tod seiner Eltern. Vermutlich gab es in seinem Leben viel glamourösere Ferienorte, wo er seine freie Zeit verbringen konnte. Dennoch war er jetzt hier. Und der Junge war bestimmt sein Sohn. Sie hatte in der Zeitung von Rorys Scheidung gelesen.
Aus irgendeinem Grund erinnerte sie sich sofort an die Heuwagenfahrt, die sie einst mit einigen Nachbarskindern und ihrem Vater als Begleitperson unternommen hatten. Rory, der damals um die zwölf und voller schmutziger vorpubertärer Späße war, riss einen derben Witz nach dem anderen, doch Daria wagte in Anwesenheit ihres tiefreligiösen Vaters nicht, darüber zu lachen. Rory war sich ihrer misslichen Lage natürlich bewusst gewesen und hatte sie mit noch lauter erzählten Geschichten geneckt. Bei dieser Erinnerung musste sie lächeln. In Kindertagen waren sie und Rory die besten Freunde gewesen. Als sie zehn oder elf war, hatte sich ihre Freundschaft in Verliebtheit gewandelt. Zumindest von ihrer Seite. Rory hingegen hatte zeitgleich begonnen, sie links liegen zu lassen, und seine Zeit lieber mit den Älteren verbracht. Sie wusste genau, dass sie nie aufgehört hatte, ihn attraktiv zu finden. Wenn sie sich “True Life Stories” ansah, war sie nicht einfach nur aufgeregt, weil ein Bekannter eine Berühmtheit geworden war. Nein: Sie war seinetwegen nervös.
Als Rory einen Koffer quer über den sandigen Vorplatz und dann die Stufen zur Veranda hinauftrug, nahm Daria in seinem Gang ein leichtes Hinken wahr, und ihr fiel ein, dass er sich beim Football eine Verletzung zugezogen hatte und seine Laufbahn deshalb hatte beenden müssen.
Sie beobachtete Rory und den Jungen, bis sie den letzten Koffer hineingetragen hatten und im Haus verschwunden waren. Dann ging sie nach unten auf die Veranda. In einem der drei blauen Schaukelstühle saß Chloe und las ein Buch mit dem Titel “Sommerspaß für Kinder von 5-15”. Shelly hatte es sich am blau lackierten Picknicktisch bequem gemacht und bastelte eine Kette aus Muscheln. Das lange blonde Haar fiel ihr über die Schultern.
“Habt ihr gesehen, wer gerade ins Poll-Rory eingezogen ist?” Daria richtete die Frage eher an Chloe als an Shelly. Shelly wusste zwar, dass der Moderator und Produzent von “True Life Stories” früher einmal in ihrer Straße gewohnt hatte. Doch sie war Rory das letzte Mal als kleines Mädchen begegnet, und es war unwahrscheinlich, dass sie sich noch an ihn erinnern konnte.
Chloe warf einen Blick auf die andere Straßenseite. “Ich habe nicht richtig hingeschaut”, sagte sie. “Waren es ein Mann und ein Junge?”
Einen Moment lang fragte sich Daria, ob nur der Wunsch Vater ihrer Wahrnehmung gewesen war. Doch dann sah sie wieder den hinkenden Gang, die breiten Schultern und das sandfarbene Haar des Mannes vor sich.
“Das war Rory Taylor”, sagte sie.
“Wirklich?”, fragte Shelly. “Der von 'True Life Stories'?”
Chloe sagte nichts. Sie blickte immer noch auf die Straße.
“Ich bin mir ganz sicher”, meinte Daria.
“Warum sollte der denn herkommen?”, fragte Chloe.
“Na, immerhin gehört ihm noch das Cottage”, erwiderte Daria.
Chloe ließ ihren Blick noch einen Moment lang auf dem Poll-Rory ruhen, ehe sie sich wieder ihrem Buch zuwandte. Rorys Rückkehr interessiert sie vermutlich nur am Rande, dachte Daria. Chloe war älter als Rory, sie kannte ihn nicht besonders gut. Sie hatte sich als Kind nicht Sommer für Sommer jeden Tag darauf gefreut, mit ihm zusammen zu sein.
“Lasst ihn uns begrüßen.” Shelly machte Anstalten aufzustehen.
Sogleich fühlte Daria sich verschüchtert. Wahrscheinlich würde er sich kaum an sie erinnern. Wie ereignisreich sein Leben gewesen sein musste, seit sie sich zuletzt gesehen hatten. Sie hingegen war noch immer hier – noch immer fest verwurzelt in Kill Devil Hills.
“Wir lassen ihm besser erst mal Zeit anzukommen”, sagte sie und warf noch einen letzten Blick über die Straße, bevor sie ins Haus zurückging, um sich wieder der Wäsche zu widmen.