49. KAPITEL
“Mmmm”, machte Shelly, als sie durch die Hintertür hereinkam. “Du machst deine berühmten Bohnen.”
Daria sah vom Herd auf, wo sie gerade braunen Zucker zu den Bohnen kippte. “Wie war die Arbeit?”
“Ganz okay. Wo sind Ellen und Ted?”
Daria drehte den Herd etwas herunter. “Ted hat es geschafft, Ellen zum Angeln zu überreden.” Beinahe hätte sie hinzugefügt: Ist das nicht toll? Es war ihr die reinste Freude, wenn Ellen nicht den ganzen Tag im Haus herumwuselte, und sie wusste, dass es Shelly genauso ging – auch wenn keine von beiden es zugab.
Shelly setzte sich an den Küchentisch. “Seitdem Pfarrer Sean nicht mehr da ist, macht mir die Arbeit in St. Esther's keinen großen Spaß mehr. Niemand spricht so mit mir wie er. Ich habe gern mit ihm geredet.”
Daria lehnte sich gegen den Tresen. “Hat Pfarrer Macy eigentlich von dir und Andy gewusst?”
“Er wusste alles von mir.”
Daria wischte mit dem Schwamm einen Klecks Melasse vom Tresen. Sean Macy hatte also von den beiden gewusst und es weder ihr noch Chloe verraten. Zwar verspürte sie eine gewisse Wut auf den Priester, wusste jedoch, dass es nicht fair war. Shelly hatte mit ihren Schwestern nicht über Andy sprechen wollen, und es war gut, dass sie sich wenigstens dem Priester anvertraut hatte. Kein Wunder, dass sein Tod sie so schmerzte.
Sie legte den Schwamm hin, ging zum Tisch hinüber und nahm ihre Schwester kurz in den Arm und drückte sie sanft. “Er muss dir schrecklich fehlen.”
“Ja.”
Daria sah auf die Uhr, nahm dann ihre Tasche vom Tisch und wühlte nach ihrem Autoschlüssel. “Kannst du kurz ein Auge auf die Bohnen werfen, während ich ein paar Besorgungen mache?”, fragte sie mit dem Schlüssel in der Hand.
“Klar.”
“Ich muss nur schnell zur Drogerie und zum Autoschalter der Bank. Du hast doch heute deinen Lohn bekommen, oder? Wenn du willst, zahle ich deinen Gehaltsscheck ein.”
“Den habe ich gar nicht mehr.”
“Was soll das heißen?”
“Als ich von der Kirche nach Hause ging, traf ich dieses Mädchen. Sie war erst fünfzehn und hatte keine Familie.”
Darias Schultern verkrampften sich. Sie hatte eine dunkle Vorahnung; so etwas war schon einmal vorgekommen. “Woher weißt du, dass sie keine Familie hat?”, fragte sie.
“Na ja, eigentlich hat sie schon eine.” Shelly sah sie mit großen braunen Augen an. “Sie hat eine Mutter und einen Stiefvater, aber sie behandeln sie sehr schlecht. Deshalb ist sie ganz allein auf den Outer Banks. Und sie hatte kein Geld, Daria. Nicht einen Cent! Sie hatte schon den ganzen Tag nichts gegessen und gestern auch kein Abendessen gehabt. Also habe ich bei der Bank um die Ecke meinen Scheck eingelöst und ihr das Geld gegeben.”
Daria ließ ihre Tasche auf den Tisch fallen. “Shelly, so was kannst du doch nicht machen! Vielleicht hat dich das Mädchen ja angelogen. Vielleicht kauft sie sich mit deinem Geld jetzt Drogen.”
“Nein, das glaube ich nicht. Sie war spindeldürr. Ich glaube, ihre letzte Mahlzeit liegt schon …”
“Selbst wenn sie lange nichts gegessen hat, selbst wenn sie ein paar Dollar für ein Essen brauchte, du hättest ihr doch nicht gleich das ganze Geld geben müssen.”
“Daria, wenn du sie gesehen hättest … Du hättest ihr auch alles gegeben. Sie ist arm. Wir nicht. Sie brauchte das Geld viel dringender als ich.”
“Wir sind nicht so reich, wie du anscheinend glaubst”, erklärte Daria, auch wenn das eigentlich nicht das Thema war. “Außerdem erwartest du ein Kind. Und Kinder kosten Geld.”
Shelly sah bestürzt aus. “Dann verschenke ich ab jetzt kein Geld mehr. Aber wirklich, Daria, sie meinte, ihr Stiefvater würde sie schlagen und so. Du würdest doch auch nicht wollen, dass sie zurück in so ein Zuhause muss, oder?”
“Nein, natürlich nicht. Aber es gibt andere Wege, einem Menschen in so einer Situation zu helfen.” Frustriert sah Daria zur Decke. “Wir haben schon so oft darüber gesprochen. Du kannst nicht die gesamte Welt retten, Liebes.”
“Das weiß ich. Und ich wollte ja auch nur diesem einen Mädchen helfen. Ich glaube nicht, dass das so falsch war.”
“Das war sogar ziemlich … unvernünftig.” Sie hatte “dumm” sagen wollen, sich aber noch rechtzeitig gebremst. In Shellys Augen standen bereits Tränen. “Deshalb mache ich mir Sorgen um dich, Shelly”, sagte sie. “Deshalb glaube ich nicht, dass du reif genug für ein Baby bist. Dein Urteilsvermögen ist manchmal nicht gerade gut. Ich weiß, es tut weh, so was zu hören. Und ich weiß, dass du nicht richtig verstehst, was ich damit sagen will. Aber du bist einfach noch nicht so weit, zu heiraten und ein Kind zu bekommen.”
Shelly antwortete nicht. In ihre Augen trat plötzlich ein leerer Ausdruck, den Daria nur allzu gut kannte, jedoch schon seit Langem nicht mehr gesehen hatte. Gerade noch rechtzeitig hastete sie zu Shelly, bevor sich ihr Körper völlig versteifte und vom Stuhl rutschte.
Shelly begann sich zuckend zu winden. Blitzschnell drehte Daria sie auf die Seite, zog ein Kissen von einem der Küchenstühle und legte es ihr unter den Kopf. Während sie ihre Schwester festhielt und darauf wartete, dass die Krämpfe vorübergingen, fragte sie sich, ob der Anfall dem Baby schadete. Wenn es so war, wenn das Baby dadurch geschädigt werden konnte, würde Shelly dann einer Abtreibung zustimmen? Erschrocken über sich selbst und darüber, dass sie diesen Gedanken überhaupt zuließ, kniff Daria die Augen zusammen.
“Daria?”
Rory stand in der Tür zwischen Wohnzimmer und Küche.
“Ich glaube, es ist fast vorbei”, sagte sie und blickte hinab auf Shelly, deren Körper sich entspannt hatte. Vorsichtig bewegte sie Shellys Kopf auf dem Kissen, um sicherzugehen, dass sie gut Luft bekam.
Rory durchquerte den Raum und kniete sich neben Shellys Kopf. Stöhnend rollte sie sich wie ein Embryo zusammen und steckte ihren Daumen in den Mund. Rory streichelte ihr sanft übers Haar, und Darias Liebe zu ihm wuchs ins Unermessliche.
“Ob der Anfall ihrem Baby geschadet hat?”, fragte er.
“Schon möglich, aber er war nur ganz kurz. Ich glaube also nicht.”
“Ist das der erste Anfall in diesem Sommer?”
“Sogar der erste seit etwa einem halben Jahr. Und ich fürchte, ich bin nicht ganz unschuldig daran. Ich habe sie angeschrien.” Sie beugte sich hinunter und küsste Shellys Schläfe. “Es tut mir leid, meine Kleine.”
Shelly drehte sich auf den Rücken und öffnete die Augen. Sie nahm den Daumen aus dem Mund. “Anfall …?”, fragte sie.
“M-hm.” Daria nickte. “Wie fühlst du dich?”
“Wie geht es meinem Baby?”
“Es ist alles in Ordnung.”
Sie rollte sich wieder auf die Seite und schloss die Augen. “Müde”, murmelte sie.
“Du kannst nicht hier auf dem Küchenfußboden schlafen”, fand Daria. “Bleib nur noch eine Minute wach, dann können Rory und ich dich ins Wohnzimmer auf das Sofa bringen.”
Sie schafften es, Shelly aufzurichten, und mit ihrer Hilfe stolperten sie durch das Haus zum Sofa. Den Daumen wieder im Mund, legte Shelly sich hin.
“Lass uns raus auf die Veranda gehen”, flüsterte Daria.
Sie setzten sich nebeneinander in die Schaukelstühle. Rory streckte seinen Arm aus und griff nach ihrer Hand. “Geht es dir gut?”
Sie lächelte ihn an. “Jetzt schon.”
Shelly war noch nie so müde gewesen; trotzdem war sie wach. Wach genug, um die Stimmen zu hören, die durch das offene Fenster über dem Sofa zu ihr drangen. Ihre Augen waren noch geschlossen, ihr Kopf noch schwer, und sie brauchte einige Minuten, ehe sie die Stimmen erkannte: Daria und Rory. Sie sprachen leise. Daria erzählte Rory die Geschichte mit dem Gehaltsscheck. Es kam ihr vor, als wäre das Ganze schon vor Tagen passiert. Ihr war es richtig vorgekommen. War sie denn wirklich so unvernünftig gewesen? Hätte Andy ihr auch Vorwürfe gemacht?
“In letzter Zeit”, sagte Daria gerade, “denke ich oft, Pete hatte recht damit, dass Shelly mehr Beobachtung braucht, als ich ihr geben kann.”
Shelly runzelte die Stirn und konzentrierte sich auf die Worte, die von der Veranda kamen. Sie musste gut zuhören, vor allem, wenn es um sie ging. Aber sie musste noch mal eingeschlafen sein, denn als Nächstes hörte sie das Rauschen des Meeres – die Kulisse für Rorys Stimme.
“Ja, ich bin traurig”, sagte er.
“Warum?”
“Als du mich gestern Abend gefragt hast, wann ich nach Kalifornien zurückfahre, habe ich dich abgewürgt. Ich wollte einfach nicht daran denken. Aber ich weiß, dass ich es tun muss.”
“Also … wann?”, fragte Daria, und Shelly wusste, welch große Überwindung es sie kostete, diese Frage über die Lippen zu bringen. “Wann gehst du zurück?”
“Am dritten September. In weniger als zwei Wochen. Zack muss dann wieder zur Schule. Ich könnte mir in den Hintern treten, dass ich so viel Zeit ohne dich verschwendet habe, obwohl wir sie zusammen hätten verbringen können.”
“Das hätte den Abschied auch nicht leichter gemacht.”
“Ich weiß.”
Für ein paar Sekunden sprach keiner von beiden ein Wort, und Shelly konnte das Gekreische der Kinder am Strand hören. Dann ertönte wieder Rorys Stimme.
“Ich glaube zwar, dass ich ziemlich genau weiß, wie du darüber denkst, Daria, aber ich muss es trotzdem aus deinem Mund hören. Ich kann dir nur sagen, dass ich nicht möchte, dass es das Ende unserer Beziehung bedeutet. Ich muss zurückgehen – in Kalifornien sind mein Leben, meine Arbeit, mein Sohn. Aber ich finde, wir können trotzdem zusammen sein.”
Daria sagte ein paar Worte, die Shelly nicht verstand, doch Rory unterbrach sie und sprach weiter.
“Ich weiß, dass Fernbeziehungen für die Katz sind, und mir ist auch bewusst, wie frisch unsere Beziehung ist. Aber zugleich ist sie auch eine der ältesten und beständigsten Beziehungen, die ich je hatte. Ich muss dich das jetzt fragen: Besteht die Möglichkeit … irgendeine Möglichkeit, dass du nach Kalifornien ziehst? Mit Shelly natürlich. Auch wenn ich weiß, wie schwer es für sie wäre, die Outer Banks zu verlassen.”
Bei dem Gedanken beschleunigte sich Shellys Herzschlag. Rory sprach weiter, ohne Darias Antwort abzuwarten.
“Ich weiß, jetzt gibt es auch noch ein Baby, das man mit berücksichtigen muss. Aber ich will dich nicht verlieren, jetzt, wo ich dich gefunden habe. In Kalifornien könnten wir in die Nähe des Strandes ziehen. Vielleicht würde das Shelly ein Leben dort erleichtern.”
Shelly wagte nicht zu atmen, während sie auf Darias Antwort wartete. Was wäre dann mit Andy? Außerdem gab es in Kalifornien Erdbeben. Und sie bekäme dort keine Luft. Sie bekam ja noch nicht einmal in Greenville Luft.
Daria brauchte lange, um zu antworten. “Es ist unmöglich”, sagte sie endlich, und Shellys Körper schüttelte sich buchstäblich vor Erleichterung. “Shelly würde auf keinen Fall nach Kalifornien ziehen. Schon allein wegen der Erdbeben und weil … weil es einfach was anderes ist als die Outer Banks.”
“Und wenn wir Shelly mal für einen Moment unberücksichtigt lassen? Was willst du?”
Wieder ließ sich Daria mit der Antwort Zeit, und als sie sprach, hörte Shelly Tränen in ihrer Stimme. “Ich will bei dir sein. Aber ich liebe Shelly. Ich liebe sie über alles, und sie kommt an erster Stelle. Ich habe sie gefunden und ihr das Leben gerettet, und jetzt trage ich die Verantwortung für sie. Bald werde ich auch noch auf ein Baby aufpassen müssen. Sie wird es niemals aufgeben, und man kann nicht von ihr erwarten, dass sie sich ganz allein darum kümmert. Und … ich weiß einfach nicht, wie das gehen soll … auf Shelly achten und zugleich bei dir sein. Es ist das Gleiche wie mit Pete.”
Shelly drehte den Kopf zum Fenster. Was meinte sie damit, “das Gleiche wie mit Pete”?
“Nur, dass Pete Shelly nicht mit nach Raleigh nehmen wollte”, warf Rory ein. “Ich würde sie gern bei uns haben wollen. Das ist der Unterschied.”
“Ja, das ist einer der vielen Unterschiede zwischen dir und Pete. Aber das Resultat ist dasselbe: Shelly kann hier nicht weg, und deshalb kann ich es auch nicht.”
“Da liegt ein weiterer Unterschied: Pete hat sich von dir getrennt, weil du nicht von hier weg wolltest. Ich habe das nicht vor. Ich werde einen Weg finden, wie wir es schaffen. Wenn ich mich entscheiden muss, eine Fernbeziehung oder überhaupt keine Beziehung mit dir zu führen, dann ist die Antwort ein Kinderspiel.”
“Ich bin so froh, das zu hören.”
“Daria”, sagte Rory langsam, “ich will dich in dieser Sache wirklich nicht drängen. Aber vielleicht ist Shelly selbstständiger, als du denkst. Mit Andys Hilfe wäre sie vielleicht in der Lage, sich um das Baby zu kümmern.”
“Du kennst Andy nicht gut genug. Er ist fast genauso … unrealistisch wie sie. Er ist ein fantastischer Tischler, will aber unbedingt Sanitäter werden. Doch ich sehe keinen Weg, wie er die Prüfung bestehen soll. Und erinnerst du dich nicht mehr an den Unfall mit der Pilotin? Graces Tochter? Wenn Shelly die Situation während der Rettungsaktion nicht so falsch eingeschätzt hätte, könnte Graces Tochter noch leben. Wie kann ich sicher sein, dass ihr Urteilsvermögen nicht auch bei der Sorge für ihr eigenes Kind versagt?”
Was? Shelly stützte sich auf die Ellbogen, um besser hören zu können. Worüber sprach Daria denn da? Die Pilotin war Graces Tochter? Was hatte sie mit ihrem Tod zu tun? In Gedanken hetzte sie zu den schrecklichen Minuten im kalten Wasser zurück. Was hatte sie getan? Und was tat sie Daria an? Daria saß auf der anderen Seite des Fensters und weinte – wegen ihr. Sie war der Grund gewesen, warum Pete Daria verlassen hatte. Das hatte sie nicht gewusst. Sie war immer nur unbekümmert ihres Weges gegangen und hatte gedacht, Daria würde sich auf den Outer Banks ebenso wohl fühlen wie sie. Und jetzt stand sie auch noch ihrer Beziehung mit Rory im Weg. Aber sie konnte die Outer Banks auf keinen Fall verlassen. Nie und nimmer!
Hätte Daria mich damals nicht gefunden, wäre die Pilotin noch am Leben.
Irgendwie hatte sie die Pilotin getötet. Und ganz allmählich tötete sie auch ihre Schwester.