51. KAPITEL

Rory fror. Irgendwer – er hatte keine Ahnung, wer – hatte ihm ein trockenes Sweatshirt gegeben, doch seine Shorts waren immer noch feucht, und die Klimaanlage des Krankenhauses erzeugte eine Kälte, die ihm bis in die Knochen kroch.

Daria versuchte, ihn zu wärmen, indem sie ihren Arm um ihn legte, doch es war zwecklos. Ihr war genauso kalt wie ihm, und ihr Körper zitterte neben seinem. Sie saßen auf einem Vinylsofa in dem kleinen Wartezimmer der Notaufnahme, schräg gegenüber dem Behandlungszimmer, wo die Ärzte gerade fieberhaft versuchten, Shellys Leben zu retten. Chloe, Andy und Zack waren bei ihnen. Rory vermutete, dass Grace, Ellen und einige der Nachbarn in dem größeren, öffentlichen Warteraum saßen, doch er war sich nicht sicher. Er war sich vieler Dinge nicht mehr sicher. Nicht einmal, wie lange sie schon dort saßen und auf Informationen über Shellys Zustand warteten.

Seitdem man sie in den Raum geführt hatte, saßen sie schweigend da. Es gab so vieles, worüber sie reden mussten, doch keiner wusste, wo er anfangen sollte. Andy saß reglos und mit gesenktem Blick auf einem der harten Kunststoffstühle. Das einzige Lebenszeichen, das von ihm ausging, waren die hastigen Auf- und Abwärtsbewegungen seines Brustkorbs. Zack saß neben Rory, der ihm über den Rücken strich. Er hatte im Jeep auf der Fahrt zur Notaufnahme hemmungslos geweint. “Es ist meine Schuld”, hatte er wieder und wieder gesagt. “Ich hätte merken müssen, dass irgendwas ganz und gar nicht mit ihr stimmt, so seltsam, wie sie sich benommen hat.”

Rory hatte ihn immer wieder beruhigt: Es sei nicht seine Schuld; niemand sei schuld. Doch bei sich dachte er, dass jeder von ihnen ein bisschen Schuld trug.

Er ließ seinen Blick durch den kleinen Raum zu Chloe schweifen, die auf einer Doppelsitzbank saß – ebenfalls aus Vinyl. Sie hatte die Augen geschlossen, die dunklen Wimpern lagen lang und flach auf ihren Wangen. Vermutlich betete sie. Als sie unvermittelt aufsah, trafen sich ihre Blicke.

“Ich muss mit euch reden.” Ihre Stimme durchschnitt die Stille wie ein Messer.

Die anderen wandten ihr in Zeitlupe die Gesichter zu, als wären sie nicht sicher, ob sie tatsächlich gesprochen hatte.

Chloe sah Daria an. “Es tut mir so leid, Daria. Es tut mir leid, dass ich es dir nie gesagt habe.”

“Ich dachte, es wäre Ellen”, erklärte Daria. “All die Jahre dachte ich, sie wäre es. Ihr hätte ich so eine Tat zugetraut. Dir nicht.”

Chloe nickte. “Es fällt mir selbst schwer, es zu glauben. Irgendetwas ist damals mit mir geschehen. Ich habe für Stunden den Verstand verloren. Das ist meine einzige Entschuldigung. Du weißt doch, wie ich damals war, Daria. Ich war ein anständiges Mädchen. Ich ging jeden Sonntag zur Kirche. Ich war gehorsam.” Sie lachte bitter. “Ich habe sogar jeden Abend einen Rosenkranz gebetet. Ich wollte nichts lieber als rein und heilig sein. Stattdessen war ich schon immer fasziniert von Sex. Ich wusste, dass vorehelicher Sex eine Sünde ist, aber ich war magisch davon angezogen. Ich war von Jungs angezogen.”

“Ja, ich erinnere mich”, bestätigte Daria.

“In der Highschool habe ich mit verschiedenen Jungs geschlafen. Danach bin ich immer nach Hause gegangen und habe zu Gott gebetet, er möge mir vergeben. Ich habe mir hoch und heilig geschworen, es nie wieder zu tun. Aber natürlich ist es wieder passiert. Mit siebzehn wurde ich dann schwanger.”

Daria nahm den Arm von Rorys Schultern und beugte sich vor. “Wer war es?”, fragte sie. “Wer ist Shellys Vater?”

Rory hielt die Luft an. Doch als Chloe noch nicht einmal in seine Richtung sah, wusste er, sie würde ihn nicht verraten.

“Das spielt jetzt keine Rolle. Irgendein Junge.” Chloe knabberte an ihrer Oberlippe. “Ich war zu Tode erschrocken”, fuhr sie fort. “Auf keinen Fall konnte ich es Mom und Dad sagen, und eine Abtreibung kam für mich nicht infrage. Ich war weg von zu Hause, in meinem ersten Jahr am College, aber ich hatte kaum Freunde. Ich war jünger und unerfahrener als die meisten anderen, doch vor Mom und Dad tat ich, als hätte ich einen riesigen Freundeskreis, auf den ich während der Ferien unmöglich verzichten könnte. Offiziell bin ich deshalb nicht nach Hause gekommen. In Wirklichkeit hatte ich eine Heidenangst, Mom würde sonst von meiner Schwangerschaft erfahren.” Chloe kratzte sich an der Wange. “Ich weiß wirklich nicht, mit welchem Plan ich in jenem Sommer ins Sea Shanty fuhr. Ich trug übergroße Kleidung, aber ich wusste, dass ich das nicht den ganzen Sommer über machen konnte. Ich erinnere mich noch, wie froh ich über das schlechte Wetter in der ersten Woche war, da es so nicht allzu merkwürdig wirkte, weite Sweatshirts zu tragen. Ich hatte mich während der Schwangerschaft nicht einmal untersuchen lassen. Ich wusste nicht, im wievielten Monat ich war. Rückblickend würde ich sagen, im achten.”

Jetzt sah sie Rory an, richtete ihren Blick jedoch schnell auf einen beliebigen Punkt am Boden, und er wünschte, er müsste sich das nicht anhören. Andererseits muss ich es nur hören, dachte er. Chloe musste es durchleben.

“Eines Nachts wachte ich auf und lag in den Wehen”, erzählte Chloe weiter. “Ich hatte schreckliche Angst. Ich wusste nicht, was ich machen sollte. Ich konnte ja nicht einfach zu Mom und Dad ins Schlafzimmer gehen und sagen: 'He, Mom, weißt du was? Ich bekomme gerade ein Baby.' Ich weiß, das klingt verrückt …”, sie sah Daria an, “… aber ich glaube, ich habe es nie wirklich realisiert. Nicht einmal, als ich diese höllischen Schmerzen hatte. Man hört viel von diesen jungen Mädchen, die Babys zur Welt bringen, ohne zu wissen, dass sie überhaupt schwanger waren. Und so verrückt es sich auch anhört – ich kann das verstehen. Ich hatte es irgendwie geschafft zu ignorieren, was mit mir geschah. Und … es ist nicht leicht zu erklären, aber selbst in jener Nacht fühlte ich mich losgelöst von allem. Als würde ich nur zusehen. Trotzdem war mir klar, dass ich aus dem Haus verschwinden musste. Also ging ich zum Strand.” Chloe senkte den Kopf. Sie atmete durch den Mund. Ihre Nase war rot, und als sie wieder aufsah, quollen ihre Augen vor Tränen über. Rory verspürte den Drang, zu ihr zu gehen, sie in die Arme zu schließen und ihr zu sagen, wie leid ihm tue, was sie hatte durchmachen müssen – und wie leid ihm seine Rolle bei dem ganzen tue. Stattdessen stand er auf, zog ein Taschentuch aus dem Spender, der auf einer Seite des Tischs stand, und reichte es ihr. Dann nahm er wieder zwischen Daria und Zack Platz. “Es war ein Albtraum”, sagte Chloe und verbarg dabei ihre Augen hinter dem Taschentuch.

Daria durchquerte den Raum und setzte sich neben ihre Schwester. Sie legte eine Hand auf Chloes Rücken. “Du musst furchtbare Angst gehabt haben”, meinte sie.

Andy starrte die beiden Frauen an, und Rory hatte das Gefühl, Chloes seelische Verfassung sei ihm gleichgültig und er wolle nur, dass Shelly durchkäme.

“Ich dachte, ich müsste sterben”, erzählte Chloe. “Ich dachte, ich hätte es verdient zu sterben, und ich hatte keine Möglichkeit, irgendwen um Hilfe zu bitten. Ich lag nur weinend und verängstigt am Strand. Und dann … Das war das Sonderbarste: Das Baby kam einfach aus mir heraus. Ich wusste nicht mal, ob es lebte. Es war so dunkel da draußen, und das Baby hat nicht geschrien. Dann war ich sicher, dass es tot ist. Und, um ehrlich zu sein, ich war erleichtert. Wenn es tot war, müsste niemals jemand davon erfahren. Ich habe mich im Wasser gewaschen, ohne auch nur ein Mal nachzusehen, was da aus mir herausgekommen war – ja, so habe ich es empfunden: nicht als Baby, sondern als einen Fremdkörper, der zuvor in mir und jetzt, zu meiner Erleichterung, draußen war. Ich ging zurück ins Haus, legte mich ins Bett und schlief ein. Ich habe bis zum nächsten Morgen geschlafen, als du Shelly gefunden hast.” Sie sah Daria an. “Ich kann gar nicht beschreiben, wie ich mich gefühlt habe, als ich hörte, dass du das Baby am Strand gefunden hast und dass es lebte. Die Selbstverleugnung war mir noch so vertraut, dass ich mir sogar in jenem Augenblick erfolgreich einredete, dass es sich bei dem Findelkind vielleicht gar nicht um mein Baby handelte. Irgendein anderes Baby war irgendwie an den Strand geraten. Doch tief in meinem Herzen wusste ich, dass es – dass sie – von mir war. Ich war so erleichtert, dass sie lebte, und zugleich fühlte ich mich so schuldig, weil ich sie dort draußen sich selbst überlassen hatte. Und natürlich konnte ich auch jetzt weder Mom noch Dad noch sonst wem gestehen, dass es mein Kind war. Außer Sean. Ich habe mich an jenem Nachmittag mit ihm getroffen. Damals war er noch Pfarrer Macy für mich. Ein Priester und nicht der Mann, den ich liebte.”

Rory fragte sich, wie das in Zacks Ohren klingen musste. Er wusste ja noch nichts von Chloes und Sean Macys Beziehung. Doch Zack saß nur still und zusammengekauert auf dem Sofa und atmete kaum merklich.

“Ich weinte und verfluchte mich selbst”, fuhr Chloe fort, “und Sean sagte mir, Gott würde den wahrhaft reumütigen Sünder lieben. Wir sprachen lange miteinander, und ich spürte, dass ich ihm vertrauen konnte. Er gab mir ein Gefühl von Vergebung und Sicherheit, und in dem Moment wurde mir klar, dass ich für immer ein Teil der Kirche sein wollte. Ich hoffte, das Keuschheitsgelübde würde meine sexuelle Seite irgendwie ausradieren. Natürlich war das reines Wunschdenken, aber ich war noch jung. Ich wusste es nicht besser.”

Sie schnäuzte sich. Dann stützte sie – Darias Hand noch immer auf dem Rücken – die Unterarme auf ihre Knie, und Rory wusste, dass es nun an ihm war. Chloe hatte schon die Schwangerschaft allein durchgemacht. Er würde sie nicht auch noch diese Last allein tragen lassen.

“Chloe hat einen wesentlichen Punkt ausgelassen”, begann er.

Chloe hob ruckartig den Kopf und sah ihn an.

“Es fällt mir nicht leicht, das zu sagen.” Er schaute Daria direkt in die Augen und bemühte sich, ihrem Blick standzuhalten. “Ich glaube, ich bin Shellys Vater.”

Was?”, brach Andy endlich sein Schweigen.

“Du musst das nicht tun, Rory”, sagte Chloe sanft.

“Doch, das muss ich. Es ist Zeit für die Wahrheit.”

“Du bist …” Daria schüttelte den Kopf und legte die Stirn in Falten. “Hast du das die ganze Zeit über gewusst?”, fragte sie.

“Nein. Ich hatte keine Ahnung. Nicht bis zum Lagerfeuer heute Abend. Als Chloe gestand, Shellys Mutter zu sein, ahnte ich … Sie übermittelte mir eine wortlose Botschaft …” Er schaute Chloe an, und sie lächelte fast. “Und da wusste ich es.”

“Aber sie war sechzehn”, warf Daria ein. “Und du warst erst …”

“Dreizehn”, gestand er. Wie konnte er jetzt noch mehr sagen, ohne Chloe in ein noch schlechteres Licht zu rücken? “Ich war dreizehn”, wiederholte er, “und verrückt danach, jede Erfahrung zu machen, die ich nur machen konnte.” Er erinnerte sich noch lebhaft an jene Nacht. In den Dünen von Jockey's Ridge war es frisch gewesen, der Sand war kalt. Es war Oktober, das Wochenende um den Kolumbus-Tag, an dem die meisten Hauseigner der Sackgasse für einen dreitägigen Kurzurlaub an den Strand kamen. Er war naiv, aber bereit – nein begierig – gewesen zu lernen, und Chloe war eine hervorragende Lehrerin gewesen.

Rory lächelte seinen Sohn schief an. “Ich muss mich bei dir entschuldigen, Zack. Ich habe dich wegen deiner Beziehung mit Kara ziemlich angegriffen.” Er hatte sogar Shellys Geburt und Verstoßung als Beispiel für das unverantwortliche Verhalten eines jungen Paares herangezogen. Nun wartete er darauf, dass Zack es ihm unter die Nase reiben würde.

Doch Zack überraschte ihn. “Ist schon gut, Dad.” Seine Stimme klang heiser, und er legte unsicher den Arm um Rorys Schultern. “Jeder macht mal Fehler.”

“Daria.” Chloe wandte sich ihrer Schwester zu und nahm ihre Hände. “Es tut mir so unendlich leid, dass du die gesamte Verantwortung für Shelly übernehmen musstest. Nach Moms Tod hätte ich das vermutlich tun sollen, doch dazu hätte ich meinen Orden verlassen müssen, und dazu fehlte mir die Kraft. Außerdem hatte ich nie den Eindruck, dass es dir etwas ausgemacht hat, für sie zu sorgen.”

“Es hat mir nie etwas ausgemacht”, erwiderte Daria mit tonloser Stimme. Rory hatte nicht die leiseste Ahnung, wie sie mit der Wahrheit umging, die soeben in diesem kleinen Raum enthüllt worden war. Sie musste sich von ihm und Chloe verraten fühlen. Doch vermutlich waren ihre Gedanken jetzt ganz bei Shelly. Nichts sonst – keine Geständnisse, keine Offenbarungen – konnten diese Sorge in den Hintergrund drängen.

“Wenn Shelly überlebt …” Chloe presste das Taschentuch auf ihre Augen und brauchte einen Moment, ehe sie weitersprechen konnte. “Wenn sie überlebt, werde ich mich um sie kümmern, Daria. Ich werde bei ihr in Kill Devil Hills bleiben. Es wird Zeit, dass du dein eigenes Leben führen kannst. Geh mit Rory nach Kalifornien, wenn du möchtest.”

Daria sagte nichts. Sie mied Rorys Blick, und er konnte es ihr nicht verübeln.

Unvermittelt sagte Andy: “Was meintest du vorhin am Lagerfeuer, Daria, als du sagtest, Shelly hätte ein Gespräch zwischen dir und Rory auf der Veranda mitbekommen?”

Daria stützte den Kopf in ihre Hände und massierte sich mit den Zeigefingern die Schläfen. “Ich glaube, Shelly hat gehört, wie wir über Pete gesprochen haben. Darüber, dass er sich ihretwegen von mir getrennt hat. Und sie hat mitbekommen, wie wir über …” Ihre Stimme versagte. “Erinnerst du dich noch an den Flugzeugabsturz im April, Andy?”

Er nickte.

“Und daran, wie Shelly zu uns herausschwamm, um zu helfen? Die Pilotin war dieses achtzehnjährige Mädchen”, erklärte sie Chloe und Zack. “Später stellte sich heraus, dass sie Graces Tochter war. Doch zum Zeitpunkt des Unfalls wusste das keiner von uns.”

“Graces Tochter?”, fragte Andy. “Warum hast du mir das nie erzählt?”

“Das ist jetzt unwichtig. Wichtig ist vielmehr, dass Pete versucht hat, die Pilotin zu befreien. Sie war durch den Sicherheitsgurt an ihren Sitz gefesselt. Pete musste wieder und wieder abtauchen, um an ihren Gurt zu gelangen. Und dann hat er plötzlich Shelly angeschrien. Shelly sollte das Flugzeug eigentlich über Wasser halten, aber stattdessen hat sie sich auf die Flugzeugnase gelehnt und die Maschine nach unten gedrückt. Sie war …”

Was?”, unterbrach Andy sie. “Hat Pete dir das erzählt?”

Daria starrte ihn an. “Ja. Er …”

“Dieser Hurensohn.” Andy sprang auf. Seine Augen funkelten vor Wut. “Shelly hat überhaupt nichts falsch gemacht. Für wie dumm hältst du sie eigentlich? Es war Pete, der das Flugzeug runtergezogen hat. Ich habe es genau gesehen. Natürlich war es keine Absicht, aber er stand ein paar Sekunden lang auf dem Schwimmer. Als ihm bewusst wurde, was er tat, schrie er Shelly an. Ich habe gar nicht verstanden, wieso. Sie trat doch nur beharrlich Wasser; und sie hatte auch keinen Schimmer, warum er sie so anbrüllte. Pete ist ein elender Feigling. Er wollte dich nur irgendwie dazu bringen, Shelly abzuschieben. Nur, damit er mit dir nach Raleigh gehen konnte.”

“Mein Gott, Andy.” Darias Gesicht war aschfahl, und Rory wusste, dass sie keinerlei Zweifel an Andys Worten hegte. “Hättest du mir das nur eher erzählt.”

“Das hätte ich auch, wenn ich gewusst hätte, dass er Shelly die Schuld gegeben hat.”

“Arme Shelly”, meinte Daria. “Sie hat wahrscheinlich mitbekommen …” In dem Moment hörte sie ein Geräusch an der Tür und drehte sich um. Shellys behandelnde Ärztin betrat das Zimmer. Rory stand auf, und die anderen taten es ihm gleich, während sie ängstlich auf gute Nachrichten hofften.