93.

Als die Frau die Tür öffnete, sah Michelle, dass Viggie Turing tatsächlich nach ihrer Mutter kam.

»Sie hat Sie erwartet«, sagte die Frau und winkte das Paar herein.

»Sie sind Viggies Mutter?«, fragte Michelle.

»Nein, ich bin Helen, ihre Tante. Meine arme Schwester ist schon vor Jahren gestorben; aber die Leute haben schon immer gesagt, dass wir uns ähneln.« Sie führte Sean und Michelle ins Wohnzimmer. Kaum sah Viggie Michelle, begann sie Klavier zu spielen. Michelle setzte sich neben das Mädchen und drückte es an sich.

Helen sagte: »Ich wusste noch nicht einmal, dass sie in Virginia waren. Und ich habe auch nichts davon gewusst, dass Monk etwas passiert ist. Und dann ist Viggie plötzlich aufgetaucht. Ich wäre fast in Ohnmacht gefallen.«

»Dann hatte Monk also das Sorgerecht?«, fragte Michelle, die inzwischen wieder zu ihnen getreten war. Viggie saß nach wie vor am Klavier.

Helen senkte die Stimme, sodass Viggie sie nicht hören konnte. »Meine Schwester hatte ein schweres Leben. Drogen, eine psychische Erkrankung … Wir vermuten, dass sie Viggie sogar körperlich misshandelt hat. Monk hat sie schließlich weggeholt, aber vielleicht hätte auch ich mich schon früher einmischen sollen. Aber ich weiß, wie ich das wiedergutmachen werde. Ich werde Viggie adoptieren.«

»Das ist großartig, Helen«, sagte Michelle. »Sie ist wirklich ein ganz besonderes Mädchen.«

»Ich weiß, dass sie eine Therapie braucht. Zuerst habe ich mir Sorgen gemacht, denn die Behandlung, die sie benötigt, scheint sehr teuer zu sein. Doch dann, vor kurzem, habe ich erfahren, dass Monk als reicher Mann gestorben ist. Viggie wird mehr als genug Geld haben.«

Sean sagte: »Falls Sie einen guten Psychiater brauchen – da weiß ich jemanden. Und er hat Viggie schon gesehen.«

Viggie stand auf, nahm Michelles Hand und zog sie zum Fenster. Sie deutete hinaus und auf einen See in der Nähe. »Können wir wieder aufs Wasser?«

»Kannst du das denn? Nach dem, was letztes Mal passiert ist?«

»Das war nur, weil ich allein gegangen bin. Wenn ich mit dir gehe, ist alles okay, stimmt’s?«

»Stimmt.«

Später, auf dem Rückweg zur Limousine, sagte Michelle: »Es war wirklich sehr großzügig von dir, den Schatz wegzugeben, vor allem, weil du ihn gefunden hast.«

»Eigentlich hat Heinrich Fuchs ihn gefunden. Aber als ich den Schatz entdeckt habe, ist mir noch etwas anderes klar geworden, was mir die ganze Zeit Kopfzerbrechen bereitet hat.«

»Und das wäre?«, fragte Michelle.

»Erinnerst du dich noch daran, dass Monk rote Flecken an den Händen hatte?«

»Ja, Rostflecken vom Sicherheitszaun.«

»Nein. Der Zaun ist nagelneu. Da gibt es keinen Rost. Ich habe das gesehen, als ich ihn durchgeschnitten habe. Monk hat die Flecken von den Backsteinziegeln bekommen, als er nach dem Schatz gesucht hat. Bei mir war es genauso.« Sean schüttelte den Kopf. »Codes und Blut. Ich habe mich geirrt. Das hatte nichts mit Alan Turing und irgendwelchen Blutsverwandtschaften zu tun. Monk hat das im übertragenen Sinne gemeint. Seine Hände haben blutig ausgesehen, weil er sich durch die Ziegel zu dem Schatz gegraben hat.«

»Wie viele Male, glaubst du, hat Monk sich in Camp Peary eingeschlichen?«, fragte Michelle.

»Mindestens einmal zu viel. Er hat offensichtlich Dinge gesehen, die er nicht hätte sehen dürfen. Dass er eine verschlüsselte Nachricht in den Noten hinterlassen hat, lässt darauf schließen, dass er zuerst als Schatzjäger unterwegs war, dann aber versucht hat, dem illegalen Treiben in Camp Peary ein Ende zu bereiten.«

»Aber wie wollte er den Schatz bergen? Gold ist nicht leicht zu bewegen.«

»Vielleicht hat Monk das nur wegen der Herausforderung getan. Aber der Kerl war ein Genie. Vielleicht wollte er nur die Edelsteine. Die wären leicht zu transportieren gewesen.«

»Und als Monk zu Len Rivest gesagt hat, es sei eine Ironie …«, begann Michelle.

»Ja, es war Ironie, dass eine der größten Geheimorganisationen der Welt nicht die leiseste Ahnung von dem geheimen Schatz genau vor ihrer Nase hatte.«

Als sie die Limousine erreichten, sagte Whitfield: »Jetzt sollten wir den Deal abschließen.«

»Die Videokopien?«, fragte Sean, und Whitfield nickte.

Sean sagte dem Fahrer, wohin dieser fahren sollte. Er hatte sich die Kopien von Horatio besorgt und sie an verschiedenen sicheren Orten versteckt. Nachdem sie alle Kopien eingesammelt hatten, übergab er sie Whitfield. Der Mann schaute sie sich an und gab eine davon Sean zurück.

Sean sagte: »Ian, sie erwarten fünf Kopien. Wenn Sie nur vier abliefern, könnten Sie einen Unfall haben, ganz zu schweigen von dem, was mit uns geschehen würde.«

»Ich werde noch eine Kopie von den vier hier ziehen. Sie wissen das nicht von mir, aber wenn Sie es mit der CIA zu tun haben, ist es immer besser, ein Ass im Ärmel zu haben. Ich werde betonen, dass wir nicht wissen können, ob Sie nicht vielleicht noch weitere Kopien haben. Damit dürften wir beide auf der sicheren Seite sein.«

Die Limousine brachte sie zu ihrer Wohnung zurück, und sie stiegen aus. Sean drehte sich noch einmal um. »Ich weiß, dass wir Sie vermutlich nie wiedersehen werden, aber sollten Sie jemals Hilfe brauchen, haben Sie Freunde in Virginia.«

Whitfield schüttelte beiden die Hände. »Wenn ich bei der ganzen Sache irgendetwas gelernt habe, dann, dass echte Freunde selten sind.«

Im Takt des Todes
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