13.

Seans Schätzung zufolge hatte das riesige Ziegel- und Steinhaus, das drei Stockwerke in den bewölkten Himmel ragte, eine Länge von mindestens sechzig Metern. Es vereinte verschiedene architektonische Stilrichtungen: Es gab einen typisch britischen Wintergarten, eine Veranda im toskanischen Stil, einen Turm mit asiatischen Einflüssen und eine sakral anmutende kupferne Kuppel über einem der Seitenflügel. Joan zufolge war das Haus von Isaac Rance Peterman gebaut worden, der mit Fleischkonserven ein Vermögen gemacht hatte. Er hatte das Haus nach seiner Tochter benannt: Gwendolyn. Vor dem Haupteingang stand ihr Name noch immer auf den Säulen. Für Sean hätte der Name unpassender nicht sein können, denn Gwendolyn sah aus wie ein aufgetakeltes Fort mit einer Identitätskrise.

Vorne gab es einen gepflasterten Parkplatz, und der Hummer fuhr durch das von einem Uniformierten bewachte Tor auf einen freien Platz neben einen schwarzen Mercedes-Van.

Ein paar Minuten später waren Seans Koffer in seinem Zimmer, und er saß allein im Büro von Champ Pollion, dem Chef von Babbage Town. Der Raum war übersät mit Büchern, Laptops, Charts, elektronischen Geräten und Ausdrucken voller Symbole und Formeln, die Sean nie würde entziffern können, das sah er auf den ersten Blick. An der Innenseite der Tür hing ein weißer Karateanzug mit schwarzem Gürtel. Offenbar hat dieses Genie obendrein tödliche Hände, ging es Sean durch den Kopf. Na toll.

Einen Augenblick später öffnete sich die Tür, und Champ Pollion kam herein. Er war Ende dreißig und so groß wie Sean, aber nicht so kräftig. In seinem braunen, ordentlich gescheitelten Haar schimmerten graue Strähnen. Er trug eine khakifarbene Hose, Tweedjacke mit Lederflicken an den Ellbogen, weißes Hemd, Sweater mit V-Ausschnitt und eine Paisleyfliege. Fehlte nur noch eine Pfeife in der Hand dieses Mannes, um das Bild eines englischen Gelehrten aus den Vierzigerjahren zu vervollständigen.

Er setzte sich auf seinen Schreibtischstuhl, lehnte sich zurück, legte seine Slipper auf den von Büchern übersäten Tisch und schaute Sean nervös an.

»Ich bin Champ Pollion. Und Sie sind Sean King?« Sean nickte. »Möchten Sie Kaffee?«

»Danke.«

Champ bestellte den Kaffee und lehnte sich dann wieder zurück.

»Das FBI ist also in den Fall involviert?«, fragte Sean.

Champ nickte. »Es gefällt niemandem, dass überall Polizei und FBI herumlaufen.«

»Und Monk Turing wurde in Camp Peary gefunden, auf dem Grundstück der CIA

»Ja. Was um alles in der Welt wollte er dort? Die Männer da haben Gewehre, um Himmels willen.«

»Sie haben hier auch Bewaffnete«, erwiderte Sean.

»Wenn es nach mir ginge, hätten wir die nicht. Aber ich leite nur Babbage Town und habe nichts zu sagen, was solche Dinge angeht.«

»Und warum brauchen Sie hier bewaffnete Wachen?«

»Unsere Arbeit könnte enorme wirtschaftliche Auswirkungen haben. Wir stehen in einem Rennen gegen die Zeit. Wir haben Konkurrenten fast überall auf der Welt, die uns nur zu gerne schlagen würden. Deshalb sind hier Wachen. Überall.« Er winkte gedankenverloren. »Überall.«

»War die CIA schon hier?«

»Spione kommen nur selten zu einem und sagen: ›Hallo, wir sind von der CIA. Sagen Sie mir, was Sie wissen, oder wir bringen Sie um.‹« Champ holte etwas aus seiner Jackentasche, das wie ein dünnes Glasröhrchen aussah.

»Kommen Sie gerade aus Ihrem Labor?«, fragte Sean.

Champ schaute ihn misstrauisch an. »Warum?«

»Das kleine Ding, das Sie da halten, sieht wie eine Pipette für Augentropfen aus. Aber ich bin sicher, Sie haben einen technischen Ausdruck dafür.«

»Dieses kleine Ding, wie Sie es nennen, könnte die größte Erfindung aller Zeiten sein, gegen die sogar Bells Telefon oder Edisons Glühbirne blass aussehen.«

Sean sah ihn überrascht an. »Was zum Teufel ist das denn?«

»Es könnte der schnellste nichtklassische Computer in der Geschichte des Universums sein, wenn wir das verdammte Ding nur dazu bringen könnten, sein enormes Potenzial zu entfalten. Das hier ist natürlich kein funktionstüchtiges Modell, nur ein Prototyp für Konzeptstudien. Aber um darauf zurückzukommen, was hier geschehen ist – in letzter Zeit sind viele Leute durch Babbage Town gekommen. Das schließt auch die hiesige Polizei mit ein, und zwar in Gestalt eines sabbernden, alten, Cowboyhut tragenden Trottels namens Merkle Hayes, sowie mehrere stramme Mitarbeiter des FBI.« Er legte das Röhrchen ab und schaute zu Sean. »Wissen Sie, was ich annehme?«

»Was?«

»Ich nehme an, dass sich dahinter eine riesige Verschwörung verbirgt – allerdings ohne die CIA. Diese Typen wären viel zu offensichtlich. Nein, ich denke, es hängt mit dem so genannten militärisch-industriellen Komplex zusammen, vor dem Präsident Eisenhower die Öffentlichkeit kurz vor Ende seiner Amtszeit gewarnt hat.«

Sean bemühte sich, seine Skepsis zu verbergen. »Und was hat das damit zu tun, dass Monk Turings Leiche in Camp Peary gefunden worden ist?«

»Direkt neben Camp Peary liegt ein Marinewaffenlager, und Camp Peary hat mal der Navy gehört.«

»Hat das, woran Sie arbeiten, irgendeine militärische Bedeutung?«

»Ich fürchte, das kann ich Ihnen nicht sagen.«

»Aber Sie arbeiten nicht für die Regierung, oder?«

»Sieht das hier in Ihren Augen wie eine Anlage der Regierung aus?«

»Vielleicht.« Sean schaute zu dem Kampfanzug an der Tür. »Karate? Kung Fu?«

»Taekwondo. Mein Vater hat mich dazu gebracht, als ich in die Highschool gekommen bin. Er hat mich zum Training geschickt, damit ich mich in der Schule verteidigen konnte. Es wird Sie vielleicht erschrecken, Mr. King, aber ich war so etwas wie ein Nerd, ein Spinner, hochintelligent, aber eben ein Spinner, der nur in seiner Computerwelt lebt. Und wenn es eines gibt, was Teenager hassen – besonders, wenn ihre Schuhgröße ihren IQ übersteigt –, dann ist es ein Nerd.« Champ schaute auf seine Uhr und schnappte sich dann ein paar Papiere vom Tisch.

Rasch sagte Sean: »Ich werde die Einzelheiten des Falles durchgehen müssen. Wenn Sie das alles nicht noch mal wiederkäuen wollen, kann ich auch mit Len Rivest sprechen.«

In diesem Augenblick kam eine kleine, stämmige, grauhaarige Frau mit einem Kaffeetablett herein. Sie verteilte Tassen, Zucker und Löffel.

»Doris«, wandte Champ sich an sie, »würden Sie Len Rivest bitten, zu uns zu kommen?«

Nachdem die Frau gegangen war, sagte Sean: »Ohne Ihnen etwas Vertrauliches entlocken zu wollen … Was genau ist Babbage Town? Der Fahrer wusste nicht, wie er es mir erklären sollte.«

Champ schien nicht antworten zu wollen.

»Ich brauche nur ein paar Hintergrundinformationen«, hakte Sean nach.

»Haben Sie je von Charles Babbage gehört?«, fragte Champ.

»Nein.«

»Er war von größter Bedeutung bei den Entwicklungen, die zum modernen Computer führten. Nicht schlecht, wenn man bedenkt, dass der Mann 1791 geboren wurde, finden Sie nicht auch? Außerdem hat er das Tachometer erfunden, und als Liebhaber von Statistiken hat er Sterbetabellen erstellt – nach einem System, wie es noch heute von Versicherungen verwendet wird. Aber meiner Meinung nach war Babbages fantastischste Leistung, dass er den polyalphabetischen Vigenère-Chiffre entschlüsselt hat, der fast drei Jahrhunderte lang allen Dechiffrierungsversuchen widerstanden hat.«

»Den polyalphabetischen Vigenère-Chiffre?«

Champ nickte. »Blaise de Vigenère war ein französischer Diplomat, der diese Verschlüsselungstechnik im sechzehnten Jahrhundert entwickelt hat. Man bezeichnet ihn als polyalphabetisch, weil er mehrere Alphabete und nicht nur eins verwendet. Allerdings wurde er zweihundert Jahre lang nicht verwendet, da man ihn als zu komplex betrachtete, auch wenn er mit der üblichen Häufigkeitsanalyse nicht zu knacken war. Wissen Sie, was eine Häufigkeitsanalyse ist?«

»Ich habe keinen blassen Schimmer«, antwortete Sean.

»Die Häufigkeitsanalyse war der Heilige Gral der Codeknacker. Die Araber haben das Verfahren im neunten Jahrhundert erfunden. Häufigkeitsanalyse bedeutet genau das, was das Wort sagt: Man analysiert, wie oft bestimmte Buchstaben in einem Text vorkommen. Im Englischen ist der Buchstabe ›E‹ bei weitem der häufigste, gefolgt von ›T‹ und ›A‹. Das ist ungemein hilfreich, wenn man einen Code entschlüsseln will – oder zumindest war es das. Heutzutage basieren Verschlüsselungen auf der Länge geheimer Zahlenfolgen und der Geschwindigkeit und Leistung von Computern, diese Schlüssel zu errechnen. Also keine Spur mehr von linguistischer Romantik.

Vor tausend Jahren hat man den so genannten Cäsarschlüssel, einen einfachen Verschiebeschlüssel, für bombensicher gehalten, doch die Araber haben ihn förmlich auseinandergenommen. Deshalb war der Vigenère-Chiffre so revolutionär: Die Häufigkeitsanalyse war bei ihm nutzlos.«

Sean wand sich ein wenig auf seinem Stuhl ob dieser in die Länge gezogenen Geschichtsstunde.

»Bitte entschuldigen Sie, Mr. King«, sagte Champ. »Aber ich verspreche Ihnen, dass ich noch auf den Punkt kommen werde.«

»Nein, nein, das ist sehr interessant«, sagte Sean und unterdrückte ein Gähnen.

»Wie gesagt, war die Häufigkeitsanalyse nutzlos gegen das Vigenère-Monster, so kunstvoll und intelligent war es gemacht. Und doch ist es dem alten Charlie Babbage gelungen, ihm das Messer direkt ins numerische Herz zu stoßen.«

»Und wie?«, fragte Sean.

»Er hat den Code aus einer höchst originellen Richtung angegriffen und damit einen Kryptoanalysestandard für Generationen geschaffen. Allerdings hat er nie den Ruhm dafür geerntet, denn er hat seine Ergebnisse nie publiziert.«

»Wie ist Babbages Entdeckung dann bekannt geworden?«

»Als die Wissenschaftler im zwanzigsten Jahrhundert seine Aufzeichnungen durchgegangen sind, lange nach seinem Tod, haben sie entdeckt, dass er der Erste war, dem das gelungen ist. Und jetzt komme ich zum Punkt: Ich habe diesen Ort ›Babbage Town‹ getauft als Hommage an einen Mann mit brillantem Verstand, aber ohne jedes Talent zur Selbstvermarktung. Wie auch immer, sollten wir unsere Ziele hier erreichen, hege ich keinerlei Zweifel, dass wir sie laut herausschreien werden.« Champ lächelte. »Nachdem wir uns alle notwendigen Patente gesichert haben, werden wir im Geld schwimmen.«

»Dann bekommen also auch Sie ein Stück vom Kuchen?«

»Sonst wäre ich nicht hier. Aber selbst falls wir kein Vermögen verdienen sollten – die Arbeit hier ist bahnbrechend und unglaublich spannend.«

»Wem gehört Babbage Town eigentlich?«

Die Tür öffnete sich, und ein stämmiger kleiner Mann Anfang fünfzig kam ins Zimmer. Er trug einen zweiteiligen Anzug mit gedeckter Krawatte. Sein silbernes Haar war mit Gel zurückgekämmt, und seine blauen Augen schauten wachsam drein. Er blickte von Sean zu Champ.

Champ sagte: »Len, das ist Sean King.«

Und Champ nahm seinen raffinierten, nicht klassischen und nicht funktionstüchtigen Glasröhrchencomputer und ging hinaus. Jetzt erst wurde Sean klar, dass der Mann ihm viel erzählt, aber nichts gesagt hatte.

Im Takt des Todes
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