46.
Kaum waren sie in Michelles Wagen gestiegen, ließ Sean das Fenster herunter und atmete tief durch. »Ich kann mich erinnern, dass du deinen Wagen mal extra für mich saubergemacht hast, damit ich auch ohne Sauerstoffmaske atmen konnte.«
»Damals habe ich dich auch noch gemocht«, sagte Michelle und legte den Gang ein. »Okay, wohin jetzt?«
Sie fuhren den Fluss hinunter. Ungefähr jede halbe Meile kamen sie an einem verfallenen Herrenhaus oder einer Plantage vorbei; von den meisten Gebäuden standen nur noch die gemauerten Kamine.
»Das dritte kleine Schweinchen hatte recht: Nur Gemauertes hat Bestand«, bemerkte Michelle.
Schließlich hielten sie vor einem Grundstück und stiegen aus. Sean ging die überwucherte Einfahrt hinauf, Michelle folgte ihm. Auf einer der steinernen Eingangssäulen stand in verwitterter Bronze der Name »Farleygate«.
Sean sagte: »In Babbage Town habe ich ein Buch über die Lokalgeschichte gelesen. Farleygate hat dem Sohn eines berühmten Erfinders gehört.«
»Und was ist passiert?«, fragte Michelle.
»Wie so mancher reiche Erbe hat er das Geld verprasst. Die meisten alten Herrenhäuser hier in der Gegend sind verfallen – Brandonfield, Tuckergate und wie sie alle heißen.«
»Oder man hat sie in Geheimlabore verwandelt, wo Menschen sterben«, fügte Michelle hinzu.
Ein kühler Wind wehte über den Rasen vor dem Haus, der bald von Unkraut verschlungen sein würde.
»Ich wette, es war mal sehr schön hier«, sagte Michelle, schlang die Arme um die Brust und schaute zum Dach hinauf. Anders als bei den meisten verlassenen Herrenhäusern in der Gegend standen Farleygates Wände noch. Nur die große, doppelte Eingangstür war verrottet, die meisten Fenster geborsten und das Schindeldach voller Löcher. »Vermutlich war es ein schöner Ort, um hier aufzuwachsen«, sagte Michelle mit wehmütigem Beiklang.
Sean schaute sie überrascht an. »Du hast selbst nie ein eigenes Heim besessen. Ich wusste gar nicht, dass dir so viel daran liegt.«
»Ich bin auch nie verheiratet gewesen. Deshalb kann ich mich aber trotzdem umschauen.«
Geräusche drangen aus dem Haus.
»Das hört sich an wie Stimmen«, sagte Michelle. Sie zog ihre Waffe und ging auf das Haus zu; Sean folgte ihr dichtauf. Drinnen holte Michelle eine Taschenlampe aus dem Rucksack und leuchtete umher.
Der Gang, in dem sie sich befanden, war lang, die Bodenbretter verrottet, und von den Wänden bröckelte der Putz. Die Luft war feucht und moderig, und Sean musste husten. Die Geräusche setzten erneut ein; es klang wie Flüstern. Dann ertönte ein leiser Schrei, scheinbar unmittelbar neben ihnen. Beide erschraken, und Michelle lenkte das Licht und die Mündung der Waffe in die entsprechende Richtung. Sie starrten auf eine leere Wand, und doch hörten sie noch immer etwas, das wie ein Summen klang.
Michelle schaute Sean fragend an. »Ein Hornissennest?« Verwirrt zog er die Augenbrauen zusammen, trat dann auf die Wand zu und klopfte. Das Geräusch verstummte augenblicklich.
Sean drehte sich wieder zu Michelle um und schüttelte den Kopf. »Ein Menschennest.« Seine Finger tasteten die Wand ab, bis sie gefunden hatten, was sie suchten: einen kleinen Metallring. Sean zog daran, und die Wand öffnete sich.
Irgendetwas traf ihn an den Beinen und knallte ihm dann gegen die Brust. Er fiel nach hinten und landete auf dem verlängerten Rücken. Schnelle Schritte bewegten sich den Gang hinunter.
Als Sean sich aufrappelte, hörte er andere Geräusche: Schreie und Lachen.
Er schaute über die Schulter. Die Schreie stammten von einem kleinen, ungefähr achtjährigen Jungen. Michelle hatte ihn sich gepackt. Das Lachen wiederum kam von Michelle, und es war eindeutig auf Sean gerichtet.
Nachdem Sean sich den Staub von den Kleidern geklopft hatte, sagte Michelle in gespielt strengem Tonfall zu dem Jungen: »Okay … Name, Rang und Dienstnummer, Mister.«
Der Junge schaute sie ängstlich an, und Michelle bemerkte, dass sie noch immer die Waffe gezückt hatte. »Oh! Tut mir leid.« Sie steckte die Pistole weg und sagte: »Okay, Kleiner. Was machst du hier?«
»An einem Ort wie diesem kannst du dich leicht verletzen, Sohn«, sagte Sean.
»Wir kommen oft hierher«, erwiderte der Junge trotzig, »und wir tun uns niemals weh.«
Sean spähte in den Geheimgang. »Wie habt ihr dieses Versteck gefunden?«
»Das war mein Bruder Teddy. Der is’ immer mit seiner Bande hergekommen, als er so alt war wie ich. Jetzt ist das hier meins. Es gibt solche geheimen Plätze in fast allen alten Häusern.«
Sean versteifte sich und schaute zu Michelle. Dann zückte er seine Brieftasche und gab dem Jungen einen Zehndollarschein. »Danke, Sohn.«
Als der Junge davongerannt war, gingen sie nach draußen und setzten sich auf eine alte Steinbank.
»Sollen wir auch in Babbage Town nach so einem Geheimraum suchen?«, fragte Michelle.
»Ja.«
»Darf ich fragen, warum?«
»Weil wir dann etwas zu tun haben. Und falls es wirklich einen Spion in Babbage Town gibt …« Sean ließ den Satz unvollendet.
»Du glaubst wirklich, dass ein Spion so einen Geheimraum benutzen würde? Schleicht er sich vielleicht nachts heraus, um seinem verräterischen Geschäft nachzugehen? Jetzt mach aber halblang.«
»Was weißt du über Camp Peary?«
»Abgesehen von dem, was ich dir bereits erzählt habe, nicht viel«, erwiderte Michelle.
»Wenn man online nach dem Ort sucht, findet man so gut wie nichts. Man stößt immer nur auf die gleiche Hand voll Artikel.«
»Und das überrascht dich?«, fragte Michelle.
»Der Bursche, der mich vom Flugzeug abgeholt hat, sagte mir, das Land hier habe im Zweiten Weltkrieg der Navy gehört. Dort sind die Seabees ausgebildet worden, die Bautruppen der Marine. Dann ist die Navy abgezogen, kam in den Fünfzigern aber wieder und hat alle rausgeworfen.«
»Alle wer?«
»Da drüben gab es mal zwei Städte, Magruder und noch eine, deren Namen ich mir nicht merken kann. Die Häuser und alles andere stehen offenbar noch.«
»Was hat das mit unserer Untersuchung zu tun?«
»Nichts. Ich vertreibe mir nur die Zeit, bis mir etwas Wichtiges einfällt«, gab Sean zu.
»Da wir gerade von wichtig reden … Wie gut hat Rivest Monk Turing gekannt?«, fragte Michelle.
»Rivest zufolge nicht sehr gut. Doch als wir an dem Abend ein paar Gläser getrunken haben, ist er ein wenig offener geworden und hat etwas Interessantes gesagt.«
»Und was?«
»Er sagte, dass er und Monk mal gemeinsam im York River angeln waren. Sie sind in einem kleinen Boot hinausgefahren, haben Bier getrunken und ihre Köder ausgeworfen, ohne wirklich etwas fangen zu wollen.«
»Und?«
»Und Monk hat zu Camp Peary hinübergeschaut und sinngemäß gesagt: ›Es ist wirklich eine Ironie, dass sie die größten Sammler von Geheimnissen auf der ganzen Welt sind.‹«
»Was hat er damit gemeint?«, hakte Michelle nach.
»Als Rivest ihn danach gefragt hat, hat Monk geschwiegen.«
»Ich sehe nicht, wie uns das weiterhelfen soll.«
»Ich habe Monk Turing nie kennen gelernt, aber ich glaube nicht, dass er so etwas ohne guten Grund gesagt hätte. Komm.«
»Wohin?«
»Erinnerst du dich, dass ich dir gesagt habe, es gäbe nur ein paar Artikel über Camp Peary im Internet?«
»Ja. Und?«
»Nun, zwei von ihnen stammen von einem Kerl mit Namen South Freeman, der hier in der Nähe in einer kleinen Stadt mit Namen Arch lebt. Er ist der Herausgeber des hiesigen Lokalblättchens und zugleich der hiesige Heimathistoriker. Falls es jemanden gibt, der uns Informationen über Camp Peary liefern kann, dann er.«
Michelle schlug sich auf den Schenkel und stand auf. »South Freeman? Monk Turing? Champ Pollion? Was, zum Teufel, hat es mit diesen verrückten Namen auf sich?«