71.

Die Sonne ging gerade auf, als Sean und Michelle zu Horatio ins Herrenhaus gingen. Sie meldeten sich beim Sicherheitsposten am Eingang und stiegen die Treppe hinauf.

Sean hatte vorher angerufen, und so öffnete Horatio die Tür sofort. Der Psychiater war angezogen, nur hatte er sich nicht die Mühe gemacht, sein Haar zum üblichen Pferdeschwanz zu binden, mit dem Ergebnis, dass es nun in Wellen über seine Schultern fiel.

Er wollte etwas sagen.

»Nicht hier«, kam Sean ihm zuvor. »Lass uns eine Spazierfahrt machen.«

Zwanzig Minuten später standen sie neben Michelles SUV, der unter ein paar Bäumen am Ufer des York parkte. Das Sonnenlicht kroch über die Wasseroberfläche, während Sean und Michelle Horatio dabei beobachteten, wie er Brief und Foto studierte.

»Okay, der Brief kommt also aus Wiesbaden in Deutschland. Zum Glück ist er auf Englisch, obwohl die Schrift offenbar von einer älteren Person stammt, deren Muttersprache eine andere ist. Und er ist an Monk Turing adressiert von …« Horatio kniff die Augen zusammen, um die Unterschrift besser lesen zu können, und rückte seine Lesebrille zurecht.

»Henry Fox«, kam Michelle ihm zu Hilfe.

Sean erklärte: »Im Wesentlichen dankt dieser Fox Monk dafür, dass er ihm geholfen hat, wieder zurück nach Deutschland zu kommen.«

Horatio schaute sich den Briefkopf an. »Er ist fast ein Jahr alt, stammt also aus einer Zeit, bevor Monk nach England und Deutschland gefahren ist.«

»Zumindest war das das letzte Mal, dass er dort gewesen ist. Jetzt schau dir die letzten beiden Zeilen an«, sagte Sean.

Horatio las: »›Da Sie mir geholfen haben, werde ich den Gefallen wie abgemacht erwidern. Ich habe es, und es gehört Ihnen, wenn Sie mich besuchen kommen.‹« Horatio hob den Kopf. »Dann wollte Fox Monk also etwas dafür geben, dass er ihm nach Hause geholfen hat.«

»Sieht so aus«, sagte Michelle. »Und Monk ist nach Deutschland gefahren, um dieses Etwas abzuholen. Auf der gleichen Reise hat er dann auch noch einen Ausflug in seine Familiengeschichte in England gemacht.«

»Und was hat Monk von Fox bekommen?«

»Das wissen wir noch nicht«, gab Michelle zu.

Horatio sagte: »Monk hat Fox also bei der Rückkehr in seine Heimat geholfen. Aber Fox klingt nicht wie ein deutscher Name.«

»Ich habe eine Theorie, was das betrifft«, verkündete Sean geheimnisvoll. »Aber ich muss noch auf Bestätigung warten.« Er nahm das Foto. Drei Personen waren darauf zu sehen, die auf den Stufen vor einem großen Gebäude saßen. Einer davon war Monk Turing; neben ihm saß eine jüngere Viggie. Die dritte Person war ein kleiner alter Mann mit weißem Bart und klugen blauen Augen. Unten auf dem Foto befand sich ein Datum.

»Das Bild ist vor mehr als drei Jahren aufgenommen worden«, sagte Michelle. »Viggie hat mir erzählt, dass sie und ihr Vater damals in einem Apartment in New York gelebt hätten. Sie hat gesagt, sie hätten keine Freunde gehabt bis auf einen alten Mann, der mit ihrem Vater immer über Dinge gesprochen habe, die vor langer Zeit passiert sind. Und dass er komisch geredet habe.«

»Vermutlich meint sie damit einen Akzent, einen deutschen Akzent«, sagte Sean.

»Also können wir wohl davon ausgehen, dass der alte Mann auf dem Foto Henry Fox ist?«

»Genau«, antwortete Sean. »Das erklärt eine Menge, verrät uns aber nicht, was Fox Monk gegeben hat.«

»Viggie hat gesagt, der alte Mann habe immer Buchstaben auf ein Stück Papier geschrieben und Monk aufgefordert, sie zu entschlüsseln«, fügte Michelle hinzu.

Horatio warf ein: »Wartet mal. South Freeman hat erzählt, dass das Militär die Existenz der deutschen Kriegsgefangenen auch deshalb geheim gehalten habe, weil einige von ihnen den Enigma-Code kannten. Nachdem ich mit South gesprochen hatte, habe ich ein paar Geschichtsbücher gewälzt. Jede deutsche Teilstreitkraft hatte ihr eigenes Netzwerk von Enigma-Codes. Der Code der Marine wurde allgemein als härteste Nuss betrachtet. Die Jungs in Bletchley Park, einschließlich Alan Turing, konnten ihn nicht mal ankratzen. Und die deutschen U-Boote schlachteten weiter Alliierte in der Atlantikschlacht ab … das heißt, bis die Alliierten ein paar deutsche Codebücher in die Finger bekommen haben. Mit dieser Information haben die Jungs in Bletchley Park dann ihre Magie gewirkt, und die Waagschale neigte sich zu unseren Gunsten.«

»Und wie hilft uns das weiter?«, fragte Michelle.

»South hat mir auch erzählt, dass die Wende in der Atlantikschlacht zeitlich mit dem Auftauchen der deutschen Kriegsgefangenen in Camp Peary zusammenfiel. Diese Kriegsgefangenen kamen von U-Booten und Schiffen, die man vor der Ostküste versenkt hatte. Das heißt, dass auch die Gefangenen in Camp Peary Codebücher und andere Informationen hätten haben können, die den Alliierten nützlich gewesen wären.«

»Du glaubst also, dass Henry Fox einer dieser Kriegsgefangenen gewesen ist?«, fragte Michelle.

»Er hat das richtige Alter, spricht mit einem vermutlich deutschen Akzent, schreibt Codes auf Papier und redet über den Krieg. Ja, ich halte das sogar für sehr wahrscheinlich.«

Sean sagte: »Und deshalb wollte ich auch mit dir reden. Wir müssen herausfinden, was Fox Monk gegeben hat.«

Horatio schaute ihn verwirrt an. »Woher soll ich denn wissen, was Fox ihm gegeben hat?«

»Viggie hat den Brief und das Foto heimlich zu Michelle gebracht, als sie schlief. Ich denke, sie hat das getan, weil sie Michelle vertraut.«

»Okay, aber wo komme ich da ins Spiel?«

»Könnte Monk seiner Tochter alle Hinweise gegeben und ihr gesagt haben, sie nur an jemanden weiterzureichen, dem sie vertraut?«

Horatio nickte. »Das ist durchaus plausibel. Viggie ist hochintelligent, aber auch leicht zu beeinflussen. Manchmal gibt sie einem die Antworten, die man ihr vorher in den Kopf gesetzt hat. Das habe ich deutlich zu sehen bekommen, als ich mit ihr gesprochen habe.«

»Aber Michelle hat mit Viggie geredet, nachdem das Mädchen ihr die Sachen gegeben hat, und da wollte Viggie nicht mal zugeben, dass sie Michelle überhaupt etwas gegeben hat. Warum?«

Horatio dachte angestrengt nach. Dann sagte er bedächtig, beinahe zögernd: »So seltsam es klingen mag, ich glaube, dass Monk Turing seine Tochter nicht einfach nur manipuliert, sondern programmiert hat.«

»Programmiert?«, rief Michelle.

»Ich habe das vorher schon vermutet, doch nach dem, was ihr gerade gesagt habt, scheine ich der Wahrheit damit näher zu sein, als ich dachte. Ich glaube, dass der brillante Vater seiner ebenso brillanten, aber naiven Tochter Informationen gegeben hat, und er hat sie darauf konditioniert, diese Informationen nur unter ganz bestimmten Umständen weiterzugeben. Viggie hat das Lied für Michelle gespielt, weil Michelle nett zu ihr gewesen ist und weil Viggie das Gefühl hatte, ihr vertrauen zu können. Dann hat Michelle ihr Leben riskiert, um Viggie zu retten, und Viggie ist noch einen Schritt weitergegangen und hat ihr zusätzliche Informationen gegeben.« Horatio schaute Michelle an. »Allerdings ist es seltsam, dass sie das nach der Sache mit dem Wagen überhaupt noch getan hat.«

»Mit dem Wagen? Wovon redet ihr?«, fragte Sean.

»Viggie und ich, wir haben das geklärt«, sagte Michelle rasch, wandte sich von Sean ab und wechselte das Thema. »Ich bezweifele allerdings, dass ich ihr noch einmal das Leben retten werde – zumindest hoffe ich, dass das nicht mehr nötig sein wird. Welche Möglichkeiten habe ich sonst noch, damit sie mir auch die restlichen Informationen gibt?«

»Das weiß ich nicht«, antwortete Horatio.

Sean dachte darüber nach. »Dann sind wir also erst einmal wieder in einer Sackgasse, bis entweder Joan etwas ausgräbt oder Alicia dieses Lied entschlüsselt.« Er steckte Brief und Foto in die Tasche, streckte sich und gähnte. »Da wir schon einmal auf sind, können wir genauso gut etwas essen gehen.«

Michelle schaute auf ihre Uhr. »Aber schnell. Champ holt mich um neun für unseren Rundflug ab.«

»Du willst noch immer mit?«, fragte Sean.

»Ja.«

»Aber er hat kein Alibi für den Zeitpunkt von Rivests Tod.«

»Ich bezweifle, dass wir von Unschuldigen irgendwelche verwertbaren Informationen bekommen werden. Da macht es wohl mehr Sinn, wenn wir uns auf diejenigen konzentrieren, die schuldig sein könnten.«

»Mein Bauch sagt mir, diesen Kerl allein zu lassen.«

»Ja«, erwiderte Michelle, »aber mein Hirn sagt mir, dass wir uns das nicht leisten können.«

Horatio schaute zu Sean. »Du bist dran, es sei denn, du willst dich der Dame geschlagen geben.«

»Halt den Mund«, schnappte Sean und stieg in den Wagen.

Horatio drehte sich zu Michelle um. »Himmel, offensichtlicher kann man ja wohl nicht sein.«

»Offensichtlicher?«, entgegnete sie verwirrt.

Horatio verdehte die Augen, seufzte und stieg ebenfalls in den SUV.

Im Takt des Todes
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