78.
In der darauffolgenden Nacht kroch das Boot mit weniger als fünf Knoten über den Fluss; die Geschwindigkeit reichte gerade so eben, um das Fahrzeug steuern zu können. Die Lichter brannten, und eine einsame Gestalt stand am Ruder. Horatio Barnes schloss den Reißverschluss seiner Windjacke, als eine Bö des nahenden Tiefs die Luft abkühlte. Ein Stück Treibholz glitt an dem Powerboot vorbei. Horatio fuhr schon seit Jahrzehnten Boot in der Chesapeake Bay; somit war der York, selbst bei Nacht, keine Herausforderung für ihn.
Als er an seinem Kaffee nippte, wusste Horatio, dass er heute Nacht den leichten Job hatte; schließlich musste er nur ein wenig über den Fluss schippern. Aber ohne Zweifel beobachteten ihn sowohl menschliche als auch mechanische Augen. Doch das hier war ein öffentliches Gewässer, und solange er dem anderen Ufer nicht zu nahe kam, konnte die CIA nichts tun, um ihn aufzuhalten.
Dann erinnerte sich Horatio daran, dass irgendjemand auf Sean geschossen hatte, und da war Sean auf Privatbesitz gewesen. Sofort ließ Horatio sich auf seinen Stuhl fallen und duckte sich nach vorn. Er musste dem Bastard ja nicht unbedingt ein großes Ziel bieten. Dann kehrten seine Gedanken zum Schicksal der beiden Menschen zurück, an denen inzwischen sein Herz hing. »Passt auf euch auf«, sagte er in den kalten Wind hinein. Dann schaute er zum Himmel. »Und falls wir geschnappt werden sollten, dann, o Gott, lass uns nicht in ein Hochsicherheitsgefängnis kommen.«
Am Ufer, das Camp Peary gegenüber lag, hatten Sean und Michelle ihre Taucheranzüge angelegt und überprüften ihre Ausrüstung.
Sean atmete tief durch. »Keine Fehler, Michelle. Eine falsche Bewegung da drüben, und wir sind tot.«
Sie erwiderte nichts.
Sean schaute sie an. »Bist du bereit?«
Jedes Mal, wenn Michelle diese Frage in ihrem bisherigen Leben gehört hatte, war die Antwort ein sofortiges Ja gewesen. Nun aber zögerte sie. Die Bilder, die plötzlich in ihrem Kopf erschienen, waren mächtig, und sie alle deuteten auf eine potenzielle Katastrophe hin. Sie sah sich selbst, wie sie plötzlich erstarrte oder einem selbstmörderischen Impuls folgte, der sie das Leben kosten würde. Aber weit schrecklicher war noch das Bild von Sean King, wie er tot auf dem Boden lag, nur weil sie versagt hatte.
»Michelle?« Sean berührte sie am Arm, sie zuckte unwillkürlich zusammen. »Alles okay?«
Sie konnte ihm nicht in die Augen schauen und begann zu zittern.
»Michelle, was ist?«
»Ich … Ich kann das nicht, Sean«, sagte sie. »Es tut mir schrecklich leid, aber ich kann dich nicht begleiten. Ich weiß, dass du mich für den größten Feigling der Welt halten musst, aber es ist …« Sie konnte den Satz nicht beenden.
»Hör auf damit«, sagte Sean mit fester Stimme. »Du bist der mutigste Mensch, den ich kenne. Und es ist meine Schuld. Von Anfang an hatte ich nicht das Recht, dich in diese Sache hineinzuziehen.«
Michelle packte ihn an der Schulter. »Sean, du darfst nicht gehen, nicht allein! Sie werden dich töten!«
Sean hockte sich auf die Fersen und fummelte an seiner Maske herum, ohne seine Partnerin anzuschauen.
»Ich muss gehen, Michelle. Dafür gibt es viele Gründe.«
»Aber es ist zu gefährlich.«
»Das sind die meisten Dinge im Leben, die es wert sind, dafür zu sterben.« Er schaute über den Fluss hinweg. »Da drüben geht irgendetwas Übles vor sich, und ich muss herausfinden, was es ist. Ich muss sie aufhalten.«
»Sean, bitte«, sagte Michelle und klammerte sich an ihn.
Sean streifte seine Maske über und bereitete den Rest der Ausrüstung vor. »Wenn ich am Morgen nicht zurück bin, schnapp dir Hayes und sag ihm, was passiert ist.« Sanft löste er ihren Griff. »Es wird alles gut, Michelle. Ich bin bald wieder da.«
Sean ließ sich in den Fluss gleiten und war verschwunden. Michelle saß am Ufer und starrte auf die Wellen, bis die Wasseroberfläche sich wieder beruhigt hatte. Sie hatte sich noch nie so allein gefühlt. Und sie hatte sich noch nie so geschämt. Langsam legte sie sich auf die nasse Erde, schaute in den bewölkten Himmel hinauf und spürte, wie ihr die Tränen über die Wangen rannen.
In den Wolken sah Michelle Dinge – schreckliche Dinge aus längst vergangenen Jahren. Sie nahmen die Gestalt von Kreaturen aus den Albträumen an, die sie seit Jahren plagten und die sie weder erklären konnte noch verstand. Und inmitten dieser Gestalten sah sie ein kleines, furchtbar verängstigtes Mädchen, das die Hand um Hilfe ausstreckte, doch keine erhielt. Michelle war ihr Leben lang Einzelgängerin gewesen, größtenteils, weil sie sich nicht überwinden konnte, jemandem zu vertrauen, jedenfalls nicht völlig. Und doch gab es eine Person, die sich ihren Respekt und ihr Vertrauen mehr verdient hatte als jeder andere. Einen Menschen, der ihr bewiesen hatte, dass er im wörtlichen Sinne alles tun und opfern würde, um ihr beizustehen. Und diesen Mann hatte sie gerade allein in die Wasser des York gleiten lassen und auf eine offensichtliche Selbstmordmission geschickt.
Michelle konnte das nicht zulassen. Scheiß doch auf das, was in ihrem Kopf vorging. Sean würde sich dieser Sache nicht ohne sie stellen müssen. Wenn sie schon untergingen, dann gemeinsam.
Die Wolkenbilder lösten sich plötzlich auf. Michelle schnappte sich ihre Ausrüstung und stieg in den Fluss.