51.

Michelle verbrachte die nächste Stunde damit, das Erdgeschoss des Herrenhauses so methodisch und unauffällig abzusuchen wie möglich. Sie durchquerte das Billardzimmer, die riesige Bibliothek, das Raucherzimmer, die Waffenkammer mit den antiken Gewehren, den Salon und das Trophäenzimmer mit den ausgestopften Tierköpfen an der Wand. Doch nirgends fand sie Hinweise auf einen Raum, der nicht hätte da sein sollen. Als sie das dunkle, wurmzerfressene Holz und die verstaubten, dicken Perserteppiche leid war, ging sie wieder nach draußen und dachte darüber nach, was sie als Nächstes tun sollte.

Es war noch viel zu früh, um zu Viggie zu gehen, und so beschloss Michelle nach langem Hin und Her, zu Horatio zu fahren.

»Ich tue das nur für Sean«, sagte sie, als sie sich in das gleiche Zimmer setzten, in dem Horatio sich früher am Tag mit Viggie getroffen hatte.

»Ich bin froh, dass Sie hier sind, egal aus welchem Grund. Sie haben in der Anstalt einen ziemlichen Eindruck hinterlassen. Schließlich haben Sie einen Verbrecher gefasst und einer Frau das Leben gerettet. Das muss ein tolles Gefühl für Sie sein.«

»Ja, ich hab mich toll gefühlt – bis Sean mir sagte, dass Sie mit mir sprechen wollen.«

»Ich versuche nur, meinen Job zu machen, so gut ich kann.«

»Reden wir nicht um den heißen Brei herum. Ich habe an den Sitzungen teilgenommen, habe meine Übungen gemacht, habe Ihre beleidigenden Fragen beantwortet, habe meine Seele ausgeschüttet, einen Drogendealer gefasst und einer Frau das Leben gerettet, wie Sie bereits sagten. Daraus können wir wohl schließen, dass ich geheilt bin. Können wir jetzt also bitte aufhören, Seans Geld zu verschwenden? Ich will nämlich zurück und meinen Beruf ausüben. Warum fahren Sie nicht einfach zurück und kümmern sich um Ihren Kram?« Sie stand auf.

Die plötzliche Schärfe in Horatios Stimme erschreckte Michelle. »Sie sind nicht geheilt. Sie sind absolut und vollkommen durchgeknallt, Lady. Es wird immer weiter bergab gehen, und irgendwann kommt dann der Tag, da Sie in Ausübung Ihres Berufs derart durchdrehen, dass es Sie und Sean das Leben kostet. Wenn sie das cool finden, dann verschwinden Sie. Steigen Sie in Ihren Mülleimer, den Sie Auto nennen, und rauschen Sie damit ab in den Sonnenuntergang. Aber glauben Sie ja nicht, Sie wären geheilt, denn das ist Schwachsinn. Wenn jemand wirklich will, dass es ihm besser geht, arbeitet er daran. Er lügt nicht sich selbst und anderen etwas vor. Er sitzt nicht auf seinem Hintern, versinkt immer tiefer in seinem jämmerlichen Dasein und lügt sich ständig in die Tasche, dass alles in Butter ist. Ihr dummes Gequatsche hängt mir langsam zum Hals raus!«

Michelle fühlte, wie Wut in ihr hochkochte. Sie ballte die Fäuste und spannte die Muskeln zum Schlag.

Mit ruhiger Stimme fuhr Horatio fort: »Sehen Sie, wie viel Wut Sie in sich haben? Genau in diesem Augenblick? Wie schnell diese Wut sich aufstaut? Und das nur, weil ich Ihnen ein paar deutliche Worte gesagt habe, die noch dazu der Wahrheit entsprechen. Aber Sie hätten beinahe die Selbstbeherrschung verloren. Sie wollen mich umbringen, stimmt’s? Das sehe ich Ihnen an. Genau so wollten Sie auch den armen Kerl in der Bar umbringen. Der Unterschied ist nur, dass Sie sich in der Bar zuerst noch haben besaufen müssen, bis Ihre Wut so übermächtig wurde, dass Sie sie an jemandem auslassen mussten. Diesmal sind Sie stocknüchtern, und trotzdem reicht Ihre Wut, dass Sie mir den Kopf abreißen wollen. Das meine ich mit ›es geht bergab‹. Was kommt als Nächstes? Wird die Wut das nächste Mal schon hochkochen, wenn ein Fremder Sie auf der Straße falsch ansieht? Oder wenn jemand in der U-Bahn versehentlich gegen Sie stößt? Vielleicht reicht ja auch schon der Geruch von jemandem, dass diese innere Wut aus Ihnen hervorbricht, Michelle. Sie müssen sich dem stellen. Sofort.«

»Und wenn ich es nicht tue?«, fragte sie mit leerer Stimme.

»Dann haben Sie verloren und die Dämonen gewonnen. Es ist Ihre Entscheidung.«

Langsam, ganz langsam setzte Michelle sich wieder.

Horatio beobachtete sie mit festem Blick. Sie starrte zu Boden, während ihre Muskeln vom Hals abwärts zu zittern begannen.

Als sie schließlich wieder sprach, bebte auch ihre Stimme. »Ich weiß nicht, was Sie von mir wollen.«

»Ich will bloß reden, Michelle. Ich möchte ein paar Fragen stellen und mir Ihre Antworten anhören, aber vor allem möchte ich mit Ihnen reden. Über Sie. Mehr nicht. Glauben Sie, das stehen Sie durch?«

Eine volle Minute verging, während der Michelle sich an die Stuhllehne klammerte. »Okay«, sagte sie schließlich so leise, dass man sie kaum hören konnte.

»Ich bin zu dem Haus gefahren, in dem Sie als Sechsjährige gewohnt haben«, sagte Horatio. »Sean hat Ihnen das schon erzählt.«

»Ja.«

»Ich habe eine Frau mit Namen Hazel Rose getroffen. Erinnern Sie sich an sie?«

Michelle nickte.

»Rose kann sich auch noch an Sie erinnern. Sie hat mich gebeten, Ihnen zu sagen, dass sie sehr stolz auf Sie sei.« Horatio wartete ein paar Augenblicke, doch Michelle reagierte nicht auf diese Neuigkeit. »Hazel hat gesagt, Sie seien immer zu Teepartys mit den Nachbarskindern in ihr Haus gekommen. Erinnern Sie sich an diese Partys?«

»Nein.«

Horatio beobachtete sie weiterhin aufmerksam. Es gab kein Lehrbuch, in dem gestanden hätte, wie er hier vorgehen musste. Im Wesentlichen deutete Horatio die Körpersprache eines Patienten und hoffte, dass er damit nicht allzu falsch lag.

»Hazel hat mir von der wunderschönen Rosenhecke erzählt, die Sie gehabt haben.«

Kaum hatte er das gesagt, erschlaffte Michelle, als hätte jemand einen Stecker gezogen. Horatio befürchtete, dass sie ohnmächtig würde, doch sie riss sich zusammen und richtete sich auf.

»Mein Vater hat diese Rosenhecke gepflanzt«, sagte sie mit leiser Stimme.

»Ja. Sie war ein Geschenk. Aber jemand hat sie abgeholzt.«

»Ein paar Kinder, die Wut auf meinen Vater hatten.«

»Das ist eine Theorie.«

Michelle versteifte sich erneut, schaute Horatio aber nicht an.

»Hazel hat damals eine Veränderung bei Ihnen bemerkt, Michelle. Inwiefern? Können Sie sich erinnern?«

»Ich war sechs. Woher soll ich das wissen?«

»Nun, an die Rosenhecke haben Sie sich ja auch erinnert. Und Sie haben sich daran erinnert, dass Ihr Vater sie gepflanzt und irgendwer sie abgeholzt hat.«

Michelle stieß hervor: »Vielleicht habe ich mit sechs jemanden brutal ermordet, und jetzt verdränge ich die Sache. Wäre Ihre Neugier damit befriedigt?«

»Spielen Sie schon wieder den Klugscheißer? Eigentlich hatte ich gehofft, dass Sie sich nach meiner kleinen Ermahnung wenigstens zehn Minuten zusammenreißen würden.«

Jetzt schaute sie ihn an, und ihr Blick war neugierig, beinahe hungrig. »Und warum diese Ermahnung?«

»Weil ich sehe, wie es langsam abwärts mit Ihnen geht, Michelle. Und ich will nicht, dass es irgendwann kein Zurück mehr für Sie gibt.«

»Verdammt, Horatio! Ich arbeite, ich denke, ich helfe Sean und einem kleinen Mädchen, das im Augenblick jemanden braucht!« Einen Augenblick glaubte Horatio, Tränen in Michelles Augen zu sehen, doch der Eindruck verflog rasch wieder. »Ich weiß, dass Sie nur versuchen, mir zu helfen. Sean versucht das auch. Ich habe Probleme, auch das weiß ich, und ich versuche, damit zurechtzukommen.«

»Aber Sie stellen sich den Problemen nicht, sondern ignorieren sie.«

Michelles Stimme bekam einen trotzigen Tonfall. »Sie sagen, ich hätte mich mit sechs Jahren verändert? Nun, mein Leben hat sich gar nicht mal so schlecht entwickelt. Waren Sie je Olympionike? Oder Cop? Haben Sie je den Präsidenten bewacht? Ich schon! Haben Sie schon mal jemandem das Leben gerettet? Ich schon! Und mehr als einmal.«

»Ich sage ja nicht, dass Sie keinen Erfolg gehabt hätten. Sie haben außergewöhnliche Dinge erreicht. Aber ich spreche von selbstzerstörerischem Verhalten. Ich will, dass Sie verstehen, dass Sie irgendwann den Preis dafür bezahlen müssen.«

Michelle stand auf. »Wollen Sie mir sagen, dass alles, was ich in meinem Leben getan habe, mit irgendetwas in Verbindung steht, das in meiner Kindheit geschehen ist? Das wollen Sie mir sagen, mir!« Sie schrie ihm das letzte Wort ins Gesicht.

»Das habe ich nicht gesagt, sondern Sie

Ohne etwas zu erwidern, stürmte Michelle nach draußen. Horatio hörte, wie der Motor ihres Wagens ansprang und wie Kies emporgeschleudert wurde, als sie vom Parkplatz raste.

Horatio rieb sich die Schläfen, ging hinaus, schwang sich auf seine Harley und folgte ihr. Diesmal würde er sie nicht entkommen lassen.

Im Takt des Todes
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