76.
Toby Rucker rief Horatio zurück, als dieser gerade packte. Er habe Erfolg gehabt, sagte er dem Psychiater.
»Ungefähr um die Zeit, die Sie interessiert, hat man einen verlassenen Wagen gut eine Stunde Fahrt entfernt von hier gefunden, oben in den Smoky Mountains. Ich war damals noch Freiberufler, aber nachdem ich die Story im Archiv gelesen hatte, habe ich mich wieder daran erinnert.«
»Auf wen war der Wagen zugelassen?«
»Auf einen William Joyner, Sergeant in der U.S. Army. Er hat in dem Rekrutierungsbüro gearbeitet, das es hier unten gab. Das war in den späten Siebzigern.«
»Und was ist mit ihm passiert?«
»Das weiß niemand«, antwortete Rucker. »Sie haben den Wagen gefunden, ihn aber nicht. Die Polizei hat die Sache untersucht, und auch die Army hat ein paar Leute geschickt, aber sie haben nie etwas gefunden.«
»War Joyner verheiratet?«
»Nein. Er war Ende zwanzig. Mit achtzehn ist er zur Army gegangen. Er hat in Vietnam gekämpft, ist beim Militär geblieben und war gerade sechs Jahre wieder in den Staaten, als er verschwunden ist.«
Zögernd fragte Horatio: »Hatte er irgendwelche Beziehungen? Eine Freundin?«
»Im Archiv steht jedenfalls nichts davon. Warum? Wissen Sie etwas anderes?«
»Nein«, erwiderte Horatio rasch.
»Darf ich fragen, warum Sie sich für diesen Fall interessieren? Das hat South mir nicht gesagt.«
»Ich bin bloß neugierig. Dann ist die Untersuchung also in einer Sackgasse gelandet?«
»So ist es oft, wenn man keine Leiche findet. Vielleicht war Joyner die Army einfach nur leid und hat sich unerlaubt von der Truppe entfernt. Das wäre nicht ungewöhnlich.«
Horatio dankte dem Mann und legte auf. Wie es aussah, hatte William Joyner eine Affäre mit Frank Maxwells Frau gehabt und war verschwunden. Seine Leiche – vorausgesetzt er war tot – war nie gefunden worden. Was hatte Michelle vor all den Jahren gesehen, was sie derart geschädigt hatte? Horatio wusste, dass ihm nur einer diese Frage beantworten konnte: Michelle selbst. Auch wenn ihr Bewusstsein die Erinnerung schon vor langer Zeit begraben hatte, ihr Unterbewusstsein würde es nie vergessen.
Sean und Michelle holten ein paar Werkzeuge aus der Garage und versteckten sie in einer Tasche. Dann gingen sie zum Herrenhaus und erklärten dem Wachmann dort, sie wollten Horatio abholen. »Wir verlassen das Gelände, wie Champ gesagt hat.«
Der Wachmann ließ sie durch, und Michelle und Sean liefen in den obersten Stock hinauf und den Gang zu dem Zimmer hinunter, in dem Sean zuerst gewohnt hatte. Dann traten sie bis vor die Wand, hinter der Viggie den Geheimraum errechnet hatte – falls er existierte.
»Irgendwo muss eine Tür sein«, sagte Sean, »aber wir haben keine Zeit, sie zu suchen.« Sie machten sich mit den Werkzeugen an der Wand zu schaffen und brachen methodisch ein großes Loch hinein. Sean nahm eine Taschenlampe und spähte hinein. »Verdammt!«
»Was ist?«
»Du wirst schon sehen«, antwortete er. »Beeil dich!«
Mit neuerlichem Eifer machten sie sich wieder ans Werk. Kurz darauf traten sie durch ein großes Loch und schauten auf Wände voller elektronischer Geräte. An einer Wand schien eine Tür zu sein. Sean deutete darauf. »Man kommt durch das andere Zimmer hinein, durch das verschlossene.«
An einer Wand war eine Reihe von Monitoren angebracht, die das Innere der Baracken zeigten.
»Das ist Baracke eins«, sagte Sean und deutete auf einen der Bildschirme.
»Und Champs Baracke zwei«, ergänzte Michelle.
Sie winkte Sean zu den Computermonitoren an der anderen Wand. Zahlenkolonnen liefen über die Bildschirme.
»Sie zeichnen im Geheimen die Daten von den Computern in Champs Baracke auf!« Sean schnappte erstaunt nach Luft.
»Dann hatte Len Rivest also recht. Es gibt einen Spion in Babbage Town – einen elektronischen Spion«, sagte Michelle. Sie schaute zu einem rot blinkenden Gerät an der Wand. »Verdammt! Ist es das, was ich glaube?«, rief sie.
Beide sprangen durch das Loch und rannten zur Treppe, während der stumme Alarm weiter blinkte.
»Was ist mit Horatio?«, rief Michelle.
Sean machte kehrt, lief den anderen Gang hinunter und hämmerte gegen Horatios Tür. Als der Psychiater öffnete, packte Sean ihn und zerrte ihn den Flur hinunter, wo Michelle auf sie wartete.
»Warum laufen wir so schnell?«, keuchte Horatio.
»Um dem Tod zu entgehen!«, stieß Michelle hervor.
Nach diesen Worten legte der kleine Psychiater einen bemerkenswerten Zahn zu.
»Wie kommen wir hier raus?«, fragte Michelle. »Das Haupttor ist bewacht.«
»Mit dem Boot«, antwortete Sean. »Kommt schon!«
Rasch machten die drei sich auf den Weg zum Bootshaus, wobei sie nur zwei Wachleute sahen, die jedoch beide nichts vom Einbruch in den Geheimraum zu wissen schienen.
»Woher wissen wir überhaupt, ob der stille Alarm funktioniert hat?«, fragte Michelle.
»Sollen wir nicht Sheriff Hayes anrufen?«, schlug Horatio vor.
»Im Augenblick traue ich keinem mehr«, erwiderte Sean entschlossen.
Sie erreichten das Bootshaus. Sean brach den Lagerschuppen auf, schnappte sich die Schlüssel für das Powerboot, und kurz darauf fuhren sie ohne Beleuchtung langsam den Fluss hinunter.
»Haltet die Augen auf«, warnte Sean.
Michelle wirkte verwirrt.
»Was ist?«, fragte Sean und schaute vom Ruder zu ihr.
»Warum ist Viggie zum Bootshaus gegangen, hat sich ein Kanu geschnappt und ist auf den Fluss hinaus gepaddelt?«
»Ich dachte, sie hätte dir nicht gesagt, warum.«
»Wir waren mal zusammen hier und sind gemeinsam mit dem Kanu gefahren. Viggie sagte, es sei eines der schönsten Erlebnisse gewesen, das sie je gehabt hat. Dann haben wir eine Wette abgeschlossen und ein Rennen zum Haus gemacht: Wenn ich sie schlage, hat sie gesagt, würde sie mit mir über ›Codes und Blut‹ reden. Ich habe gewonnen. Viggie war sauer und hat wie wild dieses Lied gespielt – aber sie hat es gespielt.«
»Und?«
»Und warum ist sie wieder zum Fluss zurück?«, fragte Michelle erneut. »Warum glaube ich, dass sie mir etwas sagen wollte? Dass sie wollte, dass ich zur Anlegestelle komme?« Michelle schaute übers Wasser nach Camp Peary. »Und da ist noch etwas Seltsames: Viggie hat mir aus heiterem Himmel diese Geschichte erzählt.«
»Was für eine Geschichte?«
»Dass sie wusste, dass Alan Turing sich mit einem vergifteten Apfel umgebracht hat. Viggie hat mir gesagt, dass es sie an die Geschichte von Schneewittchen erinnere. Schneewittchen wäre auch fast gestorben – so wie Viggie im Fluss. Und dann sagte sie noch, wer immer den Apfel hat, sei sehr mächtig. Warum sollte sie mir so etwas sagen?«
»Ich weiß es nicht. Aber wie hilft uns das weiter?«, entgegnete Sean.
Michelle rief plötzlich: »Mein Gott! Boot? Apfel?« Sie sprang zum Heck, beugte sich vor und starrte auf den eingeprägten Namen des Bootes. »The Big Apple«, las sie.
»›The Big Apple‹ wie in New York?«, fragte Sean.
»Nein, der Apfel wie in Schneewittchen«, korrigierte Michelle ihn. »Kommt schon. Wir müssen das Boot auseinandernehmen.«
»Warum?«, fragte Horatio.
»Helft mir einfach. Na los!«
Eine Stunde später saßen die drei auf den Hecksitzen und starrten auf ihren Fund. Das zusammengerollte Stück Papier war im Bugstauraum versteckt gewesen, hinter ein paar Rollen Toilettenpapier.
Michelle sagte: »Sie muss an jenem Tag zum Fluss gegangen sein, um das hier zu verstecken. Vermutlich hat sie vorgehabt, mir noch einen Hinweis zu geben, oder vielleicht wollte sie mir das Dokument irgendwann einfach anvertrauen, so wie die anderen. Vielleicht hätte ich nur die Zauberworte sprechen müssen.«
Horatio erklärte: »Dass sie es versteckt hat, zeigt jedenfalls, dass sie vermutlich Angst hatte.«
»Und wie sich herausgestellt hat, waren ihre Ängste nicht unbegründet«, bemerkte Michelle verbittert.
»Es ist alt«, sagte Sean, der das Dokument hielt. »Zweiter Weltkrieg. Das muss es gewesen sein, was Henry Fox alias Heinrich Fuchs Monk Turing bei dessen Besuch in Deutschland gegeben hat.«
»Es ist eine Karte«, sagte Horatio und musterte das Papier.
»Von Camp Peary … zumindest so, wie es aussah, als die Navy dort noch das Sagen hatte. Ich erkenne die Topografie wieder«, fügte Michelle hinzu.
Sean deutete auf eine Linie, die vom Flussufer bis ins Herz der Anlage verlief. »Der einzige Unterschied ist, dass es auf dieser Karte keinen toten Flussarm gibt. Die Karte kann nicht stimmen.«
»Sie ist nicht falsch, wenn diese Linie nicht den toten Arm darstellen soll«, konterte Michelle.
»Eine Straße?«
Michelle drehte das Dokument um. Auf der Rückseite standen die Initialen: H. F.
»Heinrich Fuchs«, sagte Horatio.
»Und da unten steht was geschrieben, aber auf Deutsch.«
»Schaut mal hier«, sagte Sean und deutete auf eine andere, frischere Handschrift.
»Das ist Englisch«, sagte Michelle. »Vielleicht Monk Turings Handschrift. Da sind Kompasspunkte, Richtungsangaben, alles.«
»Ja, aber Richtungsangaben wohin?«
Michelle drehte die Karte wieder um. »Zu dieser Linie. Das muss es einfach sein. Wartet mal … Sean, falls du recht hast, ist Fuchs aus Camp Peary geflohen.«
»Okay …«
»Und wie hat er das angestellt?«
»Ich weiß es nicht. Die einfachste Art wäre über den Fluss gewesen, nehme ich an. Wenn er die Straße oder auch den Weg durch die Felder und den Wald genommen hätte, hätten Hunde ihm folgen können. Wasser bedeutet fast immer eine saubere Flucht, aber erst mal muss man dorthin gelangen. Und ich bin sicher, dass sie damals eine Menge Wachen hier hatten.«
»Ja, das glaube ich auch … allerdings über der Erde«, sagte Michelle.
»Über der Erde?«
»Diese Linie stellt einen Tunnel dar, der direkt nach Camp Peary hineinführt – oder im Fall von Heinrich Fuchs hinaus und in die Freiheit. Tunnel sind sehr beliebt bei Gefängnisausbrüchen.«
»Aber warum hätte Monk sich die Mühe machen sollen, um eine Karte von einem Tunnel zu bekommen, der nach Camp Peary führt? Der Mann ist getötet worden.«
»Sie haben ihn nicht im Tunnel getötet. Sie haben ihn möglicherweise erwischt, kurz nachdem er den Tunnel verlassen hat. Vielleicht wissen sie ja gar nichts davon.«
»Das beantwortet immer noch nicht die Frage, warum er das Risiko hätte auf sich nehmen sollen, in den Tunnel zu gehen.«
Horatio meldete sich wieder zu Wort. »Vielleicht hat Fuchs ihm von irgendetwas dort erzählt. Von irgendwas, das in Camp Peary liegt. Ich weiß nicht … von etwas Wertvollem.«
»Das alles klingt verrückt, Michelle; aber die Karte liefert uns noch etwas anderes: eine Möglichkeit, nach Camp Peary hineinzukommen.«
»Dann glaubst du also wirklich, dass Viggie dort ist?«
»Selbst wenn nicht, könnten wir vielleicht etwas Wichtiges herausfinden … wichtig genug, um diese Leute dazu zu bewegen, Viggie freizulassen.«
»Aber wenn ich mich irre und sie doch von dem Tunnel wissen?«
Ernst schaute Sean auf die anderen beiden und rollte die Karte zusammen. »Dann, fürchte ich, sind wir so gut wie tot.«