84.

Sean duckte sich hinter eine niedrige Hecke. Was er sah, zerstörte jede noch so kleine Hoffnung darauf, dass er diese Nacht überleben würde: Männer in schwarzer Körperpanzerung und mit MP5-Maschinenpistolen – eindeutig Regierungswaffen vom anderen Ufer – sprachen mit zwei Sicherheitsleuten von Babbage Town.

Schließlich verteilten sich die Männer und kamen in Seans Richtung. Sofort zog er sich in den Wald zurück. Ein paar Minuten später kam er auf einer Lichtung unmittelbar hinter Len Rivests Haus heraus. Auf der anderen Straßenseite befand sich die Rückseite von Baracke Nr. 3. Sean schlich von Baum zu Baum, stets auf Deckung bedacht. In einiger Entfernung waren Rufe und schnelle Schritte zu hören.

Mit einem Stein zerschlug Sean das Schloss an der Hintertür der Wäscherei und schlich hinein. Der Geruch von Waschmittel und Stärke schlug ihm entgegen, als er sich die großen Maschinen anschaute. Es dauerte nicht lange, bis er fand, wonach er suchte. Er schnappte sich die Kleider und schlüpfte aus der Wäscherei ins Freie.

Weiter vorne sah er sein Ziel: Alicia Chadwicks Haus. Es war dunkel. Unbemerkt gelangte Sean zur Hintertür und rüttelte an der Klinke. Die Tür war offen. Er ging hinein, blieb stehen, lauschte. Alles schien ruhig zu sein. Dann duckte er sich, als plötzlich Schatten über die Straße huschten.

Sean eilte die Treppe hinauf zur Tür seines Schlafzimmers und schlüpfte hinein. Er wollte an sein Handy kommen, das er dummerweise zurückgelassen hatte, als sie aus Babbage Town geflohen waren. Doch sofort fiel ihm auf, dass sein Zimmer durchsucht und zum Teil leergeräumt worden war. Sean ging zu Alicias Zimmer, öffnete die Tür und ging hinein, um dort nach einem Telefon zu suchen.

Ein Schlag traf ihn auf die Schulter.

»Geh weg von mir! Hau ab!«, rief eine Stimme.

Sean packte ihre Hand, bevor sie erneut zuschlagen konnte. »Alicia, ich bin es. Sean.«

Alicia hatte sich hinter der Tür versteckt und mit ihrer Prothese nach ihm geschlagen.

»Sean …?«, sagte sie erstaunt.

Er drückte sie an sich und versuchte, sie mit ihrem einen Bein aufrecht zu halten.

»Was machen Sie denn hier?«, fragte er. »Ich dachte, Sie wären weg.«

»War ich auch. Ich bin zurückgekommen für den Fall, dass Viggie auftaucht. Dann habe ich jemanden im Haus herumschleichen hören.«

»Alicia, wir müssen hier raus.«

»Warum? Was ist passiert?«

»Ich habe keine Zeit, Ihnen das jetzt zu erklären, aber die CIA hat damit zu tun. Es geht um Drogen und Mord. Es wimmelt hier nur so von CIA-Leuten, aber ich habe einen Plan.«

Rasch schnallte Alicia sich ihre Prothese wieder an und fragte: »Wo ist Michelle?«

»Ich wünschte, das wüsste ich. Sie ist den Drogenkurieren gefolgt. Ich muss die Polizei anrufen. Haben Sie ein Handy dabei?«

»Das habe ich im Wagen gelassen.«

»Mist! Haben Sie ein Festnetztelefon hier?«

»Nein.«

Sean schaute sich um. »Okay, wir werden Folgendes tun: Sie gehen zu Ihrem Wagen. Ich nehme an, er ist vor dem Haus geparkt?«

»Ja.«

Sean holte die Kleidungsstücke hervor, die er sich aus der Wäscherei beschafft hatte. Es war eine Wachmannuniform. Rasch zog er sie an. Als Alicia die Wunde an seinem Bein sah, rief sie: »Sie sind ja verletzt, Sean!«

»Vergessen Sie’s. Wenn wir nicht von hier verschwinden, wird es mir bald noch viel schlechter gehen. Sollte jemand Sie anhalten, sagen Sie einfach, dass Sie Angst hätten und weg wollten. Ich werde Ihnen folgen.«

»Sie haben doch die Uniform. Warum tun Sie nicht einfach so, als wären Sie mein Begleitschutz?«

»Die Sicherheitsleute werden mich erkennen, wenn sie mein Gesicht sehen. Aber aus der Ferne werden sie nur die Uniform erkennen, und das verschafft mir eine Chance. Draußen stoße ich wieder zu Ihnen; dann können wir zu den Cops fahren.«

Alicia war der Panik nahe. »Und wenn sie mich nicht gehen lassen? Vielleicht glauben die Leute, ich wüsste etwas.«

»Spielen Sie die Ängstliche.«

Alicia brachte ein schwaches Lächeln zustande. »Das dürfte mir nicht schwerfallen. Ich mache mir nämlich gleich in die Hose.« Sie wurde ernst »Glauben Sie, dass diese Männer auch Viggie entführt haben?«

»Ja«, sagte er knapp, schaute sich im Zimmer um und gab Alicia einen schweren Briefbeschwerer. »Das ist zwar keine tolle Waffe, aber besser als gar nichts.«

Draußen war wieder Lärm zu hören. Sean sagte: »Alicia, nehmen Sie die Hauptstraße vorbei an Baracke drei und dem Pool, und fahren Sie über den vorderen Hof hinaus.« Er lächelte sie an. »Sie schaffen das schon.«

Alicia nickte, atmete tief durch und folgte Sean nach unten.

Anfangs lief alles nach Plan. Alicia kam an zwei Sicherheitsleuten vorbei, ohne dass diese sie aufhielten. Sie hatte gerade den Pool erreicht, als es zur Katastrophe kam. Ein Team von Bewaffneten lief auf sie zu. Der Anführer hob die Hand, um sie zum Anhalten zu bewegen.

»Scheiße«, murmelte Sean in seinem Versteck. Er schaute sich nach irgendetwas um, das er benutzen konnte, um Alicia aus dem Schlamassel herauszuholen. Dann hatte er eine Idee. Er griff in seine Tasche und holte die Handgranate heraus, die er der Wache in Camp Peary abgenommen hatte. Vorsichtig zog er den Bolzen heraus und warf die Granate über den Zaun von Baracke Nr. 2. Die Granate prallte gegen den großen Wassertank und fiel zu Boden. Sean war schon losgerannt und kletterte in die unteren Äste eines Baums.

Sekunden später riss die Explosion ein Loch in den Tank. Tonnen von Wasser schossen hervor und überfluteten das umliegende Gelände wie ein Fluss, der über die Ufer tritt. Sean hörte Schreie und schaute gerade noch rechtzeitig hin, um zu sehen, wie Alicia und die Bewaffneten von den Füßen gerissen wurden. Alicia wurde zwischen mehrere Stühle am anderen Ende des Pools gespült. Die drei Bewaffneten wurden gegen den steinernen Grill geschleudert. Als das Wasser zurückwogte, lagen sie regungslos am Boden.

Sean watete zu Alicia. »Tut mir leid wegen des Tsunamis«, rief er. »Was anderes ist mir nicht eingefallen.«

Als er näher kam, sah er, dass Alicia ihre Prothese umklammert hielt und sich vor Schmerzen wand.

Sean kniete sich neben sie. »Alicia, was ist?«

Sie stöhnte: »Als das Wasser mich getroffen hat … Es fühlt sich an, als würde eine Stahlspitze in meinem Schenkel stecken. Ich kann nicht gehen.«

Sean untersuchte das Bein – und dann fiel er kopfüber in das Wasser im Pool. Sein Schädel schmerzte, als wäre er gebrochen. Er drückte sich vom Boden ab und schoss in die Höhe. Doch kaum durchstieß sein Kopf die Wasseroberfläche, schlang sich etwas um seinen Hals und wurde festgezogen. Instinktiv griff Sean nach der Schlinge, doch diese hatte sich so tief in seinen Hals gegraben, dass seine Finger sie nicht packen konnten.

Alicia hatte eine Garotte um seinen Hals geworfen und versuchte ihn zu erwürgen.

Sean konnte nicht atmen; die Augen quollen ihm aus den Höhlen. Er versuchte, Alicia abzuschütteln, doch sie schlang ihr gesundes Bein um seinen Leib und zog mit aller Kraft an der Würgeschnur. Voller Panik schlug Sean mit der Faust hinter sich, verfehlte jedoch sein Ziel. Dann schlug er auf das Bein um seine Brust, doch Alicia trat ihn mit dem Stumpf in den Rücken und trieb ihm die Luft aus den Lungen. Alicia auf dem Rücken, fiel Sean nach vorne ins Wasser. Doch im Unterschied zu ihm konnte Alicia tief einatmen. Sean drohte der Schädel zu platzen, und die verdammte Schlinge wurde immer enger gezogen. Er spürte, wie ihn die Kraft verließ. Sein Körper erschlaffte, und ihm wurde schwarz vor Augen.

Hilf mir, Michelle, hilf mir …

Und dann verschwand der Druck um seinen Hals wie durch ein Wunder. Auch Alicias Körper spürte er nicht mehr. Eine Sekunde später brach er aus dem Wasser hervor, schnappte gierig nach Luft und würgte.

»Komm! Mach schon!«

Vor Schmerz konnte Sean die Worte kaum verstehen, doch es konnte nur Michelle sein, die zu ihm sprach. Sie war gerade noch rechtzeitig gekommen. Sie war in Sicherheit …

»Mach voran!«, sagte die Stimme. Eine Hand packte ihn grob.

Sean hob den Blick und schaute ins Gesicht von Ian Whitfield. Alicia lag bewusstlos neben ihm auf dem Beckenrand.

»Wir müssen von hier verschwinden«, drängte der Chef von Camp Peary und zog Sean in die Höhe.

»Was machen Sie denn hier?«, brachte Sean mühsam hervor, hustete Wasser und rieb sich den Hals.

»Keine Zeit. Machen Sie schon. Hier wimmelt es von Leuten.«

»Ja, von Ihren Leuten, Sie verdammter Hurensohn.«

»Nicht heute Nacht. Es sind zwei Trupps aus dem Lager, aber die sind mir gegenüber nicht verantwortlich. Kommen Sie!«

Whitfield humpelte schnell zu der Lücke zwischen Baracke Nr. 2 und der Hauptgarage.

Sean zögerte einen Augenblick. Er schaute zu Alicia hinunter. Der Briefbeschwerer, mit dem sie ihn niedergestreckt hatte, lag neben ihr. Sie hatte versucht, ihn umzubringen.

Warum?

Eine Sekunde später hörte Sean Rufe hinter sich. Er lief zu Whitfield, der sich neben einen Baum gekauert hatte.

»Wollen Sie mir nicht endlich sagen, was hier los ist?«, fragte Sean mit heiserer Stimme.

»Jetzt nicht!« Whitfield zog eine Pistole aus dem Gürtel und reichte sie Sean, während er selbst eine MP5 unter einem Strauch hervorzog, wo er sie offenbar vorher versteckt hatte. »Wenn Sie die benutzen müssen, zielen Sie auf den Kopf. Die Körperpanzerung hält Pistolenkugeln stand.«

»Wohin wollen wir?«

»Ich habe ein Boot knapp zweihundert Meter von der Anlegestelle entfernt.«

»Gibt es keine Patrouillen auf dem Wasser?«

»Doch, aber wenn wir erst einmal beim Boot sind, werde ich Sie unter einer Persenning verstecken. Wenn die Leute mich erkennen, werden sie uns nicht belästigen.«

»Dann los.«

Whitfield hob die Hand. »Nicht so schnell. Ich habe gesehen, nach welchem Schema diese Leute bei ihrer Suche vorgehen. Sobald sie ein Areal geräumt haben, gehen wir los.«

»Wo ist Michelle?«

»Keine Ahnung.«

»Sie war unter dem Lastwagen, der Camp Peary verlassen hat.«

Einen Moment lang schaute Whitfield ihn wie benommen an; dann legte sich ein grimmiger Ausdruck auf sein Gesicht. »Verdammt.«

»Es war Heroin, das mit dem Flugzeug gekommen ist, nicht wahr? Und die Araber? Wer sind die?«

Whitfield wedelte drohend mit seiner MP. »Jetzt hören Sie mal gut zu, King. Ich schulde weder Ihnen noch sonst jemandem irgendwelche Erklärungen. Ich bin hier, um Ihnen den Hals zu retten und vielleicht ein paar Fehler zu korrigieren. Zwingen Sie mich nicht, meine Entscheidung noch einmal zu überdenken.«

Im Takt des Todes
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