29.
Sean saß Alicia Chadwick in deren Büro in Baracke Nr. 1 gegenüber. Sie hatte vor Rivest Haus auf ihn gewartet und ihm erklärt, mit ihm reden zu müssen.
»Also«, sagte sie nun, »wie ist Len Rivest gestorben? Und erzählen Sie mir nicht, dass es Selbstmord gewesen ist.«
Sean bemerkte, dass ihre Augen gerötet waren. »Ich weiß nicht, wie Rivest gestorben ist. Die polizeiliche Untersuchung läuft noch.«
»Ich kann nicht glauben, dass Sie mir mit so einem armse-ligen Spruch kommen«, sagte Alicia.
»Ich war selbst einmal Cop. Deshalb weiß ich, wie sehr es eine Ermittlung beeinflussen kann, sollte etwas durchsickern. Die Polizei hält die Umstände seines Todes jedenfalls für ziemlich suspekt.«
»Dann könnte es also Mord gewesen sein?«
Sean zuckte die Achseln. »Oder ein Unfall. Oder er ist eines natürlichen Todes gestorben.«
»Danke, dass Sie mir eine so große Hilfe sind«, spottete Alicia.
Sean beugte sich zu ihr vor. »Falls es Mord war, sind für mich alle verdächtig. Dann könnten auch Sie die Mörderin sein.«
»Ich habe niemanden getötet.«
»Ich habe noch nie einen Mörder getroffen, der etwas anderes behauptet hätte.«
»Glauben Sie, dass der Mord mit dem Tod von Monk in Verbindung steht?«
»Offenbar haben Sie mich gerade nicht verstanden. Soll ich es wiederholen?«
Jetzt beugte Alicia sich vor. »Monk Turings letzter Wille und sein Testament wurden gestern Abend in seinem Haus gefunden. Man hat mir gerade gesagt, dass Monk mich in seinem Testament zum Vormund seiner Tochter bestellt hat, und ich beabsichtige, ihm diesen Wunsch nach bestem Wissen und Gewissen zu erfüllen. Wenn das Mädchen in Gefahr schwebt, will ich es wissen.«
»Monk hat Sie zum Vormund bestellt?« Sean war erstaunt. »Ich dachte, Sie beide hätten sich nicht allzu nahegestanden.«
»Monk wusste, dass Viggie mir am Herzen liegt«, sagte Alicia. »Ihr Wohlergehen hat bei mir oberste Priorität.«
»Nun, nach dem Mord an Len Rivest scheint mir Babbage Town nicht mehr der sicherste Ort der Welt zu sein.«
Alicia legte die Hand auf die Augen. »Der arme Len«, sagte sie. »Ich kann nicht glauben, dass er tot ist.«
Sean lehnte sich wieder zurück. »Sein Tod scheint Sie wirklich mitzunehmen. Gibt es einen besonderen Grund dafür?«
Alicia zog ein Tuch aus einer Box auf dem Tisch und schnäuzte sich die Nase. »Len und ich waren Freunde.«
»Freunde. Gute Freunde oder mehr?«
»Das geht Sie nichts an.«
»Falls Sie eine Beziehung mit Len Rivest hatten, ist es Aufgabe der Polizei, dem nachzugehen.«
»Okay, wir haben uns getroffen.«
»Waren es harmlose Dates? Oder mehr?«
»Das geht Sie einen Dreck an!«
»Sie sind offensichtlich sehr klug, aber ebenso offensichtlich begreifen Sie nicht, dass ich Sie lediglich darauf vorbereiten will, was Polizei und FBI Sie fragen werden. Glauben Sie wirklich, dass Agent Ventris Sie mit Samthandschuhen anfassen wird? Ein Toter und eine intime Beziehung – damit stehen Sie unter Verdacht.«
»Ich habe ihn nicht getötet. Verdammt noch mal, ich habe ihn gemocht. Er war ein netter Kerl. Vielleicht hätten wir sogar eine gemeinsame Zukunft gehabt. Und jetzt?« Alicia wandte sich von Sean ab, als ihr die Tränen über die Wangen rannen.
»Schon gut, Alicia, schon gut«, sagte Sean beruhigend. »Ich kann mir vorstellen, wie schwer das für Sie ist.« Er hielt kurz inne. »Können Sie mir denn sagen, ob Len irgendwann einmal erwähnt hat, dass jemand eine Gefahr für ihn darstellt? Dass er Feinde hat? Dass er etwas gewusst hat, was ihn in Gefahr hätte bringen können? Irgendetwas in Zusammenhang mit Babbage Town oder Camp Peary?«
Alicia atmete mehrmals tief durch und wischte sich mit dem Ärmel über die Augen, bevor sie antwortete: »Camp Peary? Was hat das mit Lens Tod zu tun?«
»Möglicherweise sehr viel, falls Lens Tod mit dem Tod Monk Turings in Verbindung steht.«
»Aber haben Sie nicht gesagt, dass es so aussehe, als habe Monk Selbstmord begangen?«
»Das wissen wir nicht mit Sicherheit. Aber beantworten Sie bitte meine Frage: Hat Len Ihnen gegenüber etwas in der Richtung erwähnt?«
»Er hat nie gesagt, dass jemand ihm etwas antun wolle.«
Sean beugte sich wieder vor. »Also gut. Wie sieht es hier mit Spionen aus? Hat er je darüber gesprochen?«
Alicia schüttelte den Kopf. »Nie. Warum?«
»Er hat mal eine Bemerkung in der Richtung gemacht. Fällt Ihnen sonst noch etwas ein, Alicia?«
»Nun, er hat gesagt, dass die Leute hier keine Ahnung hätten, auf was sie sich eingelassen haben … Dass es die Welt verändern würde, woran wir hier arbeiten. Und zwar zum Guten.« Sie versuchte ein Lächeln. »Er hat auch gesagt, die Meisten von uns hätten keine Ahnung, wie die Welt wirklich funktioniert. Vielleicht hatte er recht.«
»Zu mir hat er einmal sinngemäß gesagt: ›Was in Babbage Town entwickelt wird, ist wertvoll genug, dass Länder darum Krieg führen würden.‹ Das können nicht bloß ein paar Zahlen sein.«
»Ich habe Angst, Sean. Len Rivest war ein äußerst fähiger Mann. Dass jemand ihn ermorden konnte … in seinem eigenen Haus, trotz der vielen Sicherheitsleute …«
Alicia verstummte, schauderte und senkte den Kopf. Sie sah so elend aus, dass Sean aufstand und ihr einen Arm um die Schultern legte. »Es wird wieder alles in Ordnung kommen, Alicia.«
»Seien Sie nicht so gönnerhaft! Ich habe Angst um Viggie. Auch sie könnte in Gefahr schweben.«
»Warum?«, fragte Sean.
»Sagen Sie es mir. Sie sind der Experte in solchen Dingen.« Als Sean nichts erwiderte, fuhr Alicia leise fort: »Ich habe versucht, die Grundlagen zu schaffen, um es dem Mädchen zu sagen, aber es war nicht leicht.«
»Wenn sie Ihnen wirklich am Herzen liegt, dann schaffen Sie sie raus aus Babbage Town.«
»Das kann ich nicht. Viggie ist glücklich hier. Wenn ich sie fortbringe … an einen Ort, an dem sie noch nie gewesen ist … es könnte sie zerstören.«
»Na großartig«, sagte Sean. »Eine Alternative ist so toll wie die andere.«
»Es gibt noch eine Möglichkeit«, sagte Alicia und packte Seans Hand. »Wir bleiben, und Sie helfen mir, Viggie zu beschützen.«
»Ich habe schon einen Job.« Eigentlich sind es jetzt sogar zwei, verbesserte er sich in Gedanken.
»Sie ist ein Kind. Sie braucht Hilfe. Wollen Sie einfach nur dasitzen und einem jungen Mädchen, das gerade erst seinen Vater verloren hat, die Hilfe verweigern?«
Sean wollte etwas darauf erwidern, hielt sich dann jedoch zurück. Schließlich seufzte er. »Also gut, ich könnte wohl auch noch ein Auge auf das Mädchen werfen.«
Wieder rannen Tränen über Alicias Gesicht. »Danke.«
»Tja, und da ich nun der inoffizielle Bodyguard der jungen Dame bin, würde ich sie gerne einmal kennen lernen.«
Alicia riss sich zusammen und stand auf. »Sie hat gerade ein paar Zahlen für mich aufgeschlüsselt.«
»Sie hat was?«
»Viggie besitzt außergewöhnliche mathematische Fähigkeiten. Nicht dass sie meine Arbeit überflüssig machen würde, aber vielleicht verbirgt sich in ihrem Verstand irgendetwas, das mir den Schlüssel zu der Abkürzung geben könnte, die ich suche.«
»Dann kann dieses verletzliche kleine Mädchen die Welt, wie wir sie kennen, zum Stillstand bringen?«
Alicia lächelte. »Heißt es nicht, ›Selig sind die geistig Armen, denn ihnen gehört das Himmelreich‹?«