14.

Horatio Barnes parkte seine Harley vor den Mietshäusern nahe Fairfax Corner, holte die Schlüssel von Seans und Michelles Wohnung aus der Tasche und zögerte dann. Sollte er sich erst den SUV oder erst die Wohnung ansehen? Er entschied sich für den Toyota. Der Wagen stand nahe dem Hauseingang.

Horatio schloss die Fahrertür des SUV auf und öffnete sie.

»Ach du Scheiße!«, war seine erste Reaktion. Sean hatte nicht übertrieben, als er Horatio eine Tetanusauffrischung und das Tragen einer Maske empfohlen hatte. Die Mitte und der hintere Teil der Ladefläche war derart zugemüllt, dass Horatio den Boden nicht mehr sehen konnte: Sportausrüstung, geschmolzene Schokoriegel, leere Flaschen eines Energydrinks, verschimmeltes Essen, eine Packung Schrotpatronen, zerknitterte Kleider und zwei mit Plastik ummantelte Hanteln. Horatio hob eine der Hanteln mit Mühe hoch und blätterte dann durch eine der Kampfkunstzeitschriften, die im hinteren Teil des Wagens gestapelt waren.

»Okay, Notiz für den geschätzten, aber feigen Psychiater: Mach die gute Frau nie sauer, sonst tritt sie dir in deinen dürren alten Hintern.«

Horatio setzte sich kurz auf den Mittelsitz, fuhr die Fenster herunter und dachte nach. Michelle war ein klassischer Typ A, kompakter als das Innere eines Golfballs, und was sah er hier? Ein zugemülltes Chaos?

Horatio ging in die Wohnung im zweiten Stock hinauf. Michelles Schlafzimmer erwies sich als ordentlich und aufgeräumt; die Kleider hingen im Schrank, und auf dem Boden fand sich keinerlei Müll … allerdings nur, weil die Frau nie hier gewesen war. Oben im Schrank befand sich ein abgeschlossenes Waffenfach, wo Michelle vermutlich ihre Pistole aufbewahrte.

Auf dem kleinen Balkon entdeckte Horatio ihr Rennboot. Es war perfekt poliert, und daneben lagen Ruder in einwandfreiem Zustand. Horatio ging wieder in die Wohnung. Auf dem Tisch im Flur lag ein Stapel Post, die er durchschaute. Die meisten Briefe waren an Sean adressiert und von seiner letzten Anschrift nach hier weitergeleitet worden. Andere waren die typischen Rechnungen und Werbepost, unter denen die gesamte Menschheit zu leiden hatte. Doch da war noch ein Brief von Michelles Eltern aus Hawaii. Vermutlich wollten sie ihrer Tochter nur mitteilen, wie viel Spaß sie auf der Reise hatten.

Als Horatio darüber nachdachte, kam ihm eine Idee, und er rief Bill Maxwell in Florida an. Beim zweiten Klingeln nahm er ab.

»Rufe ich zu einem schlechten Zeitpunkt an?«, fragte Horatio. »Sollten Sie gerade auf einer wilden Verfolgungsjagd sein, legen Sie mich ruhig in die Warteschleife. Ich warte dann, bis Sie die bösen Jungs geschnappt haben oder ich den Wagen irgendwo gegen krachen höre.«

Bill lachte. »Ich habe heute dienstfrei. Eigentlich wollte ich angeln gehen. Was gibt’s? Wie geht es Michelle?«

»Immer besser. Weshalb ich anrufe, Bill – leben Ihre Eltern noch in Tennessee?«

»Ja. Nachdem Pop in den Ruhestand gegangen ist, haben sie sich ein neues Haus gebaut. Wir haben damals alle geholfen. Ein Polizeichef verdient gutes Geld, aber bei so vielen Kindern kann man kaum sparen. Auf diese Weise haben wir uns bedanken wollen.«

»Dann sehen Sie Ihre Eltern oft?«

»Nein. Vier-, fünfmal im Jahr. Schließlich wohne ich hier in Tampa. Flüge sind teuer, und es ist eine lange Fahrt bis Tennessee. Außerdem habe ich selbst drei Kinder.«

»Und Ihre Brüder?«

»Die sehen unsere Eltern vermutlich öfter als ich. Sie wohnen nicht so weit weg.«

»Und Michelle? Ich nehme an, sie sieht Ihre Eltern häufig, oder? Schließlich lebt sie in Virginia mehr oder weniger nebenan.«

»Ich glaube nicht, dass sie oft bei ihnen ist. Ich hab sie nie angetroffen, wenn ich bei unseren Eltern war, und mit meinen Brüdern spreche ich regelmäßig. Keiner von ihnen hat je erwähnt, Michelle bei unseren Eltern gesehen zu haben.«

»Vielleicht sind Ihre Eltern ja zu ihr gefahren.«

»Michelle hatte nie eine Bleibe, wo für Besucher Platz gewesen wäre«, erwiderte Bill. »Ich habe es ein paarmal versucht, weil meine Kinder sie gern haben. Sie finden es cool, dass ihre Tante an der Olympiade teilgenommen und sogar den Präsidenten bewacht hat. Aber Michelle hatte immer sehr viel zu tun. Als sie noch beim Secret Service war, konnte ich das ja noch verstehen; aber als sie in die Privatwirtschaft gewechselt ist, hätte man doch glauben sollen, dass sie ein bisschen mehr Freizeit hat. Das war aber nie der Fall.«

»Wann haben Sie Ihre Schwester zum letzten Mal gesehen?«

»Vor ein paar Jahren. Und das auch nur, weil ich beruflich in Washington war. Wir haben zusammen zu Abend gegessen. Damals war sie noch beim Secret Service.«

»Haben Sie das Gefühl, dass sie sich von Ihrer Familie entfremdet hat?«

»Erst als Sie angefangen haben, all diese Fragen zu stellen.«

»Tut mir leid, wenn es den Anschein erweckt, als würde ich im Leben Ihrer Familie herumschnüffeln, aber ich muss alles versuchen, damit es Michelle wieder besser geht.«

»Ich weiß. Michelle ist in Ordnung, wenn auch ein bisschen schrullig.«

»Schrullig. Ja, das ist das richtige Wort. Ich habe mir gerade ihren Wagen angesehen.«

Bill lachte. »Und? Haben Sie schon das Gesundheitsamt angerufen, um die Kiste unter Quarantäne stellen zu lassen?«

»Offenbar kennen Sie den Wagen.«

»Als ich vor ein paar Jahren bei ihr war, hat sie mich mit der Kiste zum Essen gefahren. Ich hab die Luft angehalten und anschließend zweimal in meinem Hotel geduscht.«

»Haben Sie je gesehen, dass Michelle sich übertrieben häufig oder gründlich die Hände gewaschen hätte? Dass sie Türen überprüft hat, bevor sie sie geöffnet hat, oder Stühle, bevor sie sich gesetzt hat?«

»Sie meinen, wie bei einer Zwangsstörung? Nein, ich kann mich nicht erinnern.«

»Und im Alter von sechs Jahren hat sich das bei Michelle dann alles verändert?«

»Ich war gerade mit dem College fertig und nicht viel zu Hause, aber als ich für ein paar Monate wieder bei meinen Eltern gewohnt habe, war Michelle ein anderer Mensch geworden. Sie haben damals in einer kleinen Stadt gut eine Stunde südlich von Nashville gelebt.«

»War es nicht vielleicht doch eine Persönlichkeitsveränderung, wie Kinder sie beim Älterwerden durchmachen? Dann wäre es ziemlich normal.«

»Es war mehr als das, Horatio. Meine Kinder haben sich auch verändert, aber nicht so plötzlich.«

»Sie haben gesagt, Michelle hätte sich von extrovertiert zu introvertiert entwickelt, von gesellig zu schüchtern, von vertrauensvoll zu misstrauisch. Und sie hat viel geweint, nicht wahr?«

»Ja. Nachts.«

»Und sie ist immer schlampiger geworden?«

»Oh ja. Ich erinnere mich vor allem an den Fußboden in ihrem Zimmer. Er war immer blitzblank. Dann, praktisch über Nacht, war überall nur noch Müll. Man konnte nicht mal mehr den Teppich sehen. Ich habe das immer darauf geschoben, dass sie ein rebellischer Frechdachs war.«

»Das würde einige Dinge erklären, Bill, aber nicht alles. Und wenn in meinem Beruf etwas unerklärlich ist, muss ich den Grund herausfinden. Denn irgendwo gibt es eine Erklärung, und mag sie noch so tief vergraben sein.« Horatio hielt kurz inne. »Okay, in Anbetracht der nächsten Frage, die ich Ihnen stellen muss, bin ich froh, dass Sie tausend Meilen weit weg sind.«

»Michelle ist nie missbraucht worden.«

»Wie ich sehe, haben Sie schon darüber nachgedacht.«

»Ich bin Cop. Ich habe missbrauchte Kinder gesehen und ein paar wirklich albtraumhafte Situationen erlebt, aber Michelle war nie so. Sie hat nie eines der typischen Anzeichen für Missbrauch gezeigt, und Pa würde nie … Ich meine, er war nicht so einer. Außerdem war er Cop; deshalb haben wir ihn ohnehin nur selten zu Hause gesehen. Und hätte ich je auch nur eine Sekunde lang den Verdacht gehegt, dass etwas Derartiges vor sich gehen könnte, hätte ich sofort was dagegen unternommen. Schließlich bin ich nicht deshalb Polizist geworden, weil ich in die andere Richtung schaue, wenn es drauf ankommt.«

»Da bin ich mir sicher, Bill. Aber haben Ihre Eltern eine Erklärung für Michelles Veränderung gehabt? Haben sie je professionelle Hilfe gesucht?«

»Nicht, dass ich wüsste. Es war aber auch nicht so, als hätte Michelle irgendwelche Anfälle gehabt oder kleine Tiere zerstückelt oder so was. Außerdem ist man damals noch nicht wegen jeder Kleinigkeit zu einem Psychiater gerannt oder hat sein Kind mit Ritalin vollgestopft, weil es nicht zehn Minuten lang ruhig sitzen kann … Das sollte jetzt keine Beleidigung sein, Doc.«

»Oh, ich kenne eine Menge Psychiater, die man besser als Pharmakologen bezeichnen sollte. Haben Sie je mit Ihren Eltern über Michelle gesprochen?«

»Ich glaube, wir sind alle irgendwann zu dem Schluss gekommen, sie ihren eigenen Weg gehen zu lassen. Und sollte sie sich unserer Familie je wieder anschließen wollen, sind wir für sie da.«

»Und Sie haben Ihren Eltern nichts von Michelles derzeitiger Situation erzählt?«

»Nein. Wenn sie nicht will, dass Mom und Dad davon erfahren, dann ist es nicht an mir, es den beiden zu sagen. Außerdem … glauben Sie, ich will den Zorn einer Olympionikin mit schwarzem Gürtel auf mich ziehen, Schwester hin oder her?«

Horatio lachte. »Darauf würde ich auch keinen Wert legen. Fällt Ihnen sonst noch etwas ein, was mir helfen könnte?«

»Geben Sie mir einfach meine kleine Schwester zurück, Doc. Wenn Sie das schaffen, haben Sie in Tampa einen Freund fürs Leben.«

Im Takt des Todes
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