2.
Im verblassenden Licht blickte Sean King auf den ruhigen Fluss hinaus. Mit Michelle stimmte etwas nicht, und er hatte keine Ahnung, wie er darauf reagieren sollte. Seine Partnerin wurde von Tag zu Tag depressiver; die Melancholie war ihr inzwischen zur zweiten Natur geworden.
Angesichts dieser beunruhigenden Entwicklung hatte Sean vorgeschlagen, wieder nach Washington D. C. zu ziehen und noch einmal von vorne anzufangen; doch der Tapetenwechsel hatte nichts geholfen. Und da Geld und Arbeit im hart umkämpften District of Columbia dünn gesät waren, hatte Sean die Großzügigkeit eines Kumpels in Anspruch nehmen müssen. Dieser Freund hatte als privater Sicherheitsberater ein Vermögen gemacht und seine Firma dann für gutes Geld an ein multinationales Unternehmen verkauft.
Zurzeit wohnten Sean und Michelle im Gästehaus der Villa dieses Freundes, südlich von Washington am Fluss gelegen. Zumindest wohnte Sean dort, denn Michelle hatte sich seit mehreren Tagen nicht blicken lassen. Sie ging nicht einmal mehr an ihr Handy. Als sie zum letzten Mal nach Hause gekommen war – wieder mitten in der Nacht –, war sie sturzbetrunken gewesen, sodass Sean ihr heftige Vorhaltungen gemacht hatte, sich in diesem Zustand hinter das Steuer gesetzt zu haben. Am nächsten Morgen war Michelle sang- und klanglos verschwunden.
Sean strich mit dem Finger über Michelles Wettkampf-Ruderboot, das an einer Klampe am Steg vertäut war. Michelle war die geborene Sportlerin. Sie hatte bei den olympischen Ruderwettkämpfen eine Medaille im Einer gewonnen, hielt sich mit geradezu fanatischer Besessenheit fit und besaß Schwarze Gürtel in mehreren Kampfsportarten, was es ihr erlaubte, Gegner auf verschiedene, sehr schmerzhafte Art und Weise auf die Bretter zu schicken.
Doch Michelle hatte das Ruderboot nicht angerührt, seit sie hierhergekommen waren. Sie war auch nicht mehr auf dem Fahrradweg in der Nähe joggen gewesen oder hatte sonst ein Interesse an sportlicher Aktivität gezeigt. Schließlich hatte Sean sie gedrängt, sich professionelle Hilfe zu holen.
»Wo denn? Mir gehen allmählich die Optionen aus«, hatte sie mit einer Härte erwidert, die Sean überrascht hatte. Er wusste, dass sie impulsiv war. Oft handelte sie aus dem Bauch heraus, und das konnte einen unter Umständen das Leben kosten.
Und so schaute Sean nun zu, wie der Tag sich seinem Ende zuneigte, und fragte sich, ob es Michelle gut ging.
Sehr viel später, als er noch immer auf dem Steg saß, drangen Lärm und Geschrei an seine Ohren. Es erschreckte ihn nicht – es nervte ihn. Langsam stand er auf und machte sich auf den Weg über die Holztreppe zum Haus, fort von der Stille des Flusses.
Am Gästehaus neben dem Swimmingpool blieb Sean kurz stehen, um sich einen Baseballschläger zu schnappen und sich Baumwollstöpsel in die Ohren zu stecken. Sean King war ein kräftiger Mann, eins neunzig groß und über neunzig gut trainierte Kilo schwer, aber war Mitte vierzig, seine lädierten Knie schmerzten, und immer öfter machte sich eine alte Verletzung in der rechten Schulter bemerkbar. Deshalb benutzte er jetzt jedes Mal den Schläger. Und die Ohrstöpsel. Auf dem Weg zur Villa schaute er über den Zaun und bemerkte die alte Frau, die aus dem Dunkeln zu ihm herüberstarrte, die Arme vor der Brust verschränkt, die Stirn missbilligend in Falten gelegt.
»Ich gehe rauf, Mrs. Morrison«, sagte Sean, hob seine hölzerne Waffe und zog einen der Ohrstöpsel heraus, als er sah, dass die Frau etwas erwiderte.
»Das ist jetzt schon das dritte Mal diesen Monat«, sagte sie wütend. »Beim nächsten Mal rufe ich sofort die Polizei!«
»Lassen Sie sich nicht davon abhalten. Schließlich ist es ja nicht so, als würde ich dafür bezahlt, die Knochen hinzuhalten.«
Sean steckte sich den Stöpsel wieder ins Ohr und näherte sich dem großen Haus von hinten. Es war erst zwei Jahre alt – eine jener Villen, die auf einem Grundstück standen, das ein Rancher für einen Apfel und ein Ei verkauft hatte. Die Eigentümer waren nur selten hier. Sie zogen es vor, im Sommer mit ihrem Privatjet in die Hamptons zu fliegen und den Winter in ihren Palästen in Palm Beach zu verbringen. Das hielt ihren Sohn und dessen hochnäsige College-Freunde jedoch nicht davon ab, die Villa regelmäßig heimzusuchen.
Sean ging an den Porsches und Mercedes der Jünglinge vorbei und stieg die Steintreppe hinauf in die weitläufige Küche. Selbst mit den Ohrstöpseln, die den Lärm dämpften, war die Musik so laut, dass Sean jedes Wummern des übersteuerten Basses bis auf die Knochen spürte.
»He!«, rief er über die Musik hinweg, während er sich durch die herumwirbelnden Neunzehnjährigen drängte. »He!«, brüllte er noch einmal. Niemand schenkte ihm auch nur die geringste Aufmerksamkeit. Aber deshalb hatte er ja den Schläger mitgenommen. Er ging zu der improvisierten Bar auf der Kücheninsel, stellte sich in Position und machte ein paar Probeschläge wie im Yankee Stadium. Dann räumte er mit dem ersten Schlag die eine Hälfte der Bar ab, mit dem zweiten Schlag die andere.
Die Musik verstummte abrupt, und die Kids wandten sich ihm endlich zu, obwohl die Hälfte von ihnen viel zu bekifft zu sein schien, als dass sie Interesse an ihm gehabt hätten. Einige der leichtbekleideten Mädchen kicherten, während ein paar der hemdlosen Knaben die Fäuste ballten und Sean grimmig anstarrten.
Ein anderer Jüngling, groß, stämmig und mit gewelltem Haar, stürmte heran.
»Was is’ ’n hier los?« Er blieb unvermittelt stehen, als sein Blick auf die zerschmetterte Bar fiel. »Verdammt noch mal!«, rief er. »Dafür wirst du bezahlen, King!«
»Nein, werde ich nicht, Albert.«
»Ich heiße Burt!«
»Okay, Burt, rufen wir deinen Vater an. Mal sehen, wie der darüber denkt.«
»Du kannst nicht immer wieder hier reinkommen und so eine Scheiße abziehen.«
»Meinst du mit ›Scheiße‹, dass ich eine Versammlung reicher Arschlöcher davon abhalte, das Haus deiner Eltern in Schutt und Asche zu legen?«
»He, Alter, das nehme ich persönlich«, sagte eines der Mädchen, das auf Pfennigabsätzen balancierte und ein enges, bauchfreies T-Shirt trug, das aber auch gar nichts mehr der Fantasie überließ.
Sean schaute sie an. »Wirklich? Was denn? Das ›Reich‹ oder das ›Arschloch‹? Bei dem Fummel, den du da trägst, kann ich deins übrigens sehen.«
Sean drehte sich wieder zu Albert um. »Lass es mich dir klar und deutlich erklären, Burt: Dein Vater hat mir erlaubt, hier auszufegen, wenn ich den Eindruck habe, dass etwas aus dem Ruder läuft.« Er hob den Schläger. »Das ist mein Besen, und ich hab das Urteil vollstreckt.« Er starrte die anderen an. »Und jetzt macht, dass ihr hier rauskommt, bevor ich die Cops rufe.«
»Die Cops werden uns höchstens sagen, dass wir die Musik leiser stellen sollen«, schnaubte Burt.
»Nicht, wenn denen jemand steckt, dass hier Drogen konsumiert, Sex mit Minderjährigen getrieben und Alkohol gesoffen wird.« Sean ließ den Blick über die Teenager schweifen. »Wie würde es wohl aussehen, wenn man euch einbuchtet? Ob Mami und Papi euch dann die Schlüssel vom Cabrio wegnehmen und vorerst alle Partys streichen?«
Nach dieser Bemerkung war der Raum halb leer. Die andere Hälfte der Gäste verschwand, nachdem Burt sich auf Sean gestürzt und dafür den Schläger in die Magengrube bekommen hatte. Sean packte den Jungen am Kragen und riss ihn vom Boden hoch.
»Mir wird schlecht«, stöhnte Burt. »Scheiße, wird mir schlecht …«
»Tief durchatmen«, sagte Sean. »Und versuch das nicht noch mal.«
Als Burt sich wieder halbwegs erholt hatte, sagte er: »Das wirst du mir büßen.«
»Wie du meinst. Aber jetzt wirst du hier erst mal aufräumen.«
»Einen Scheißdreck werde ich!«
Seans Hand schnappte zu, und er drehte dem Jungen den Arm auf den Rücken. »Entweder räumst du auf, oder wir beide machen eine Spritztour zur Polizeiwache.« Sean deutete mit dem Schläger auf die Trümmer der Bar. »Ich komme in einer Stunde wieder, um mir deine Fortschritte anzusehen, Albert.«
Doch Sean kam nicht in einer Stunde wieder. Fünfundvierzig Minuten später erhielt er einen Anruf auf dem Handy: Michelle lag schwer verletzt im Krankenhaus. Obendrein stand sie unter der Anklage der schweren Körperverletzung und der Sachbeschädigung.
Auf dem Weg zum Auto hätte Sean fast die Haustür eingetreten.