64.

Am nächsten Nachmittag versuchte Michelle, Viggie zu finden, doch niemand wusste, wo das Mädchen war. Alicia arbeitete in ihrer Baracke, und der Wachmann, der Viggie zugeteilt war, hatte seinen Schützling irgendwie verloren. Dann fiel Michelle etwas ein, was Viggie beim letzten Mal zu ihr gesagt hatte, und sie rannte zum Fluss hinunter.

Fünf Minuten später erreichte sie das Bootshaus und sah sofort, dass eines der Kanus fehlte. Sie ließ den Blick über den Fluss schweifen. Ein Gewitter zog auf. Der Wind nahm an Heftigkeit zu, und die Strömung war bedrohlich schnell. Donner grollte in der Ferne, und der Geruch von Regen stieg Michelle in die Nase.

Das nächste Geräusch ließ sie erstarren.

»Hilfe!«, rief jemand. »Hilfe!«

Michelle schnappte sich ein Kanu und Paddel, warf ein Stück Leine hinein und zog alles zum Ende des Stegs, so schnell sie konnte. Augenblicke später saß sie im Boot und schoss mit jedem Paddelschlag schneller durch das schäumende Wasser.

»Hilfe!«

In der Ferne sah Michelle einen roten Fleck. Als sie näher kam, erkannte sie, dass Viggies Kanu gekentert war. Das Mädchen klammerte sich daran fest, wurde jedoch von der schnellen Strömung mitgerissen. Michelle verdoppelte ihre Anstrengungen, und das Boot pflügte so schnell durchs Wasser, dass ihr das Tempo alles abverlangte. Mit ohrenbetäubendem Krachen schlug auf der anderen Seite des Flusses ein Blitz ein und ließ die Erde beben. Augenblicke später rollte der Donner übers Wasser.

Viggies Schreien wurde immer lauter. Michelle hielt den Blick fest auf das Mädchen gerichtet und überließ den Rest ihren Muskeln in Armen, Rücken und Beinen. Zwei weitere, gewaltige Donnerschläge später erreichte Michelle das Mädchen. Als sie ihr Paddel zu Viggie ausstreckte, damit das Mädchen es packen konnte, öffnete der Himmel seine Schleusen. Der Regen prasselte mit solcher Wucht hernieder, dass er auf den Armen und im Gesicht brannte.

Viggie griff nicht nach dem Paddel. Stattdessen hielt sie sich verzweifelt und starr vor Angst an dem gekenterten Boot fest.

Michelle rief über das Rauschen des Regens und das Tosen des Flusses hinweg: »Viggie, ich bin da. Dir kann nichts mehr passieren. Verstehst du mich?«

Das Mädchen schüttelte den Kopf. Mit hysterischer Stimme sagte sie: »Ich werde ertrinken! Ich hab keine Schwimmweste an!«

»Pack das Paddel mit der freien Hand.«

»Ich kann nicht!«

»Doch, du kannst, Viggie.«

Ein Blitz schlug so dicht neben ihnen ein, dass sich Michelle die Nackenhaare sträubten.

»Viggie, pack das Paddel! Mach schon!«

Viggie rührte sich nicht. Plötzlich riss die Strömung ihr das Kanu aus der Hand und trug es wirbelnd davon. Das Mädchen kreischte und verschwand unter Wasser.

Michelle band sich die Leine, die sie mitgenommen hatte, um den Knöchel; das andere Ende schlang sie um einen der Haltegriffe des Boots.

Noch einmal durchstieß Viggies Kopf die Wasseroberfläche. »Hilfe!«, schrie sie und versank sofort wieder.

Michelle sprang in den Fluss und tauchte. Das Wasser war trüb, und sie suchte mehr mit den Händen als mit Blicken. Schließlich ertastete sie Viggie. Sie packte das Mädchen an den Haaren und zog es an die Oberfläche. Viggie trat panisch um sich und hustete schmutziges Flusswasser.

Michelle schaute sich um. Ihr Kanu war fünfzehn Meter entfernt und bewegte sich schnell. Die Leine um Michelles Knöchel war bereits gespannt.

Sie zwang Viggie, sich auf den Rücken zu drehen, legte dem Mädchen den Arm um die Brust und sagte so ruhig sie konnte: »Alles in Ordnung, Viggie. Ich bring dich jetzt zum Kanu. Entspann dich. Wenn du dich wehrst, wird es nur schwerer. Keine Angst, ich halte dich fest.«

Als Viggie erkannte, dass sie nicht mehr untergehen würde, rührte sie sich nicht mehr. Allerdings waren sie noch nicht außer Gefahr, das wusste Michelle, denn das Kanu bewegte sich schnell und zog sie mit sich mit. Michelle hatte zwei Möglichkeiten: Sie konnte die Leine lösen und mit Viggie zurückschwimmen, oder sie versuchte, das Kanu zu sich zu ziehen und sich und das Kind hineinzubekommen. Beides war schwierig, und das Gewitter tobte immer heftiger.

Michelle war eine hervorragende Schwimmerin, doch sie spürte, wie ihre Kräfte erlahmten. Und es war ein langer Weg bis zum Ufer. Sie könnte mit der Strömung schwimmen, doch um an Land zu kommen, würde sie den reißenden Fluss kreuzen müssen. Und bis dahin hatte sie vielleicht nicht mehr genügend Kraft dafür.

Die Leine um Michelles Knöchel war so gespannt, dass es ihr unmöglich war, einen festen Griff um Viggie zu behalten. Schließlich trat sie die Leine vom Fuß, und das Kanu schoss davon.

Michelle schaute hinter sich. Sie musste so schnell wie möglich ans Ufer. Sie verstärkte den Griff um Viggie, trat mit den Beinen und kämpfte mit einem Arm gegen die Strömung an. Doch es war sinnlos. Mit Viggie im Schlepptau kam sie nicht gegen die Strömung an.

Das Gewitter war nun direkt über ihnen. Michelle konnte nur noch das Donnern hören, das Rauschen des Windes und das Stöhnen und Ächzen mehrerer Bäume, die vom Sturm entzweigerissen wurden. Viggie wand sich. Vielleicht spürte sie die aufkeimende Panik in Michelles verspannten Muskeln.

Das Motorengeräusch hörte sie erst, als es fast neben ihnen war. Starke Hände packten Viggie und zogen sie nach oben. Dann wurde auch Michelle aus dem Wasser gehievt. Als sie auf einer der Bänke hockte, die Arme um Viggie geschlungen, schaute Michelle auf Champ Pollion, der seine Aufmerksamkeit nun wieder darauf richtete, das Boot durch den Fluss zu lenken. Er fuhr auf direktem Weg zur Anlegestelle von Babbage Town.

Viggie fest in den Armen, erhob sich Michelle und stellte sich neben Champ. »Danke. Es war höllisch da draußen.«

»Ich war auf einem Spaziergang, als ich Viggie kentern sah. Dann habe ich beobachtet, wie Sie hinterhergesprungen sind. Da bin ich zum Powerboot gelaufen. Ich wollte so schnell wie möglich zu Ihnen.«

Geschickt legte er an und half Michelle, Viggie von Bord zu bringen. Das Mädchen war noch immer wie leblos.

»Ist ihr auch wirklich nichts passiert?«, fragte Champ besorgt.

»Sie ist nur völlig erschöpft.«

Michelle nahm Viggie sanft an der Schulter und führte sie den Weg nach Babbage Town hinauf. Champ ging neben ihnen her bis zu Alicias Haus.

Michelle sagte: »Wenn Sie ein Flugzeug genauso gut fliegen, wie Sie ein Boot fahren, dürfte der morgige Tag sehr angenehm werden.«

»Äh … macht es Ihnen etwas aus, wenn wir unseren Flug um einen Tag verschieben? Mir ist etwas dazwischengekommen.«

»Schon in Ordnung, Champ. Wann immer Sie wollen.«

Champ lächelte schüchtern, murmelte etwas Unverständ-liches und ging.

»Du hast mir das Leben gerettet, Mick«, sagt Viggie, nachdem sie sich beide trockene Kleider angezogen hatten.

»Bedank dich vor allem bei Mr. Pollion«, erwiderte Michelle. »Was hast du überhaupt allein auf dem Fluss gemacht?«

Viggie ließ schuldbewusst den Kopf hängen. »Ich … Ich wollte allein sein.«

»Da gibt es tausend andere Möglichkeiten, ohne dass man sich in Gefahr bringt.«

»Danke, dass du mir das Leben gerettet hast«, sagte Viggie.

»Ich bin nur froh, dass ich dort war.«

Viggie stand auf, ging zum Klavier und begann zu spielen, diesmal jedoch bedächtig, nicht so wild wie beim letzten Mal. Es war eine langsame, traurige Melodie. Viggie schaute zu Michelle, während sie spielte; ihre Miene war unergründlich.

Als der letzte Ton verklang, sagte Michelle: »Das war wunderschön. Was war das für eine Melodie?«

Viggie antwortete nicht. Sie drehte sich um und stieg die Treppe hinauf. Einen Augenblick später schloss die Schlafzimmertür sich hinter ihr.

Draußen auf dem York River kreuzte ein motorisiertes Schlauchboot – ein leichtes Sturmboot, das Rückgrat amphibischer Landeoperationen. Am Steuer stand Ian Whitfield. Er trug eine gelbe Regenjacke und Khakishorts. Seine Beine waren muskulös und sonnengebräunt; der rechte Unterschenkel jedoch war stark vernarbt, und der eisige Regen ließ die Narben pochen. Doch Whitfield schien das Unwetter, das um ihn her tobte, gar nicht zu registrieren. Auf dem Deck lag Michelles Kanu; die Leine hing noch immer am Tragegriff.

Whitfield schob den Gashebel nach vorne, und das Sturmboot schoss auf das Ufer von Babbage Town zu. Kurz darauf legte Whitfield an, stieg aus und zog das Kanu auf den Landesteg. Dann sprang er zurück an Bord und gab wieder Gas. Das Sturmboot machte einen gewaltigen Satz nach vorne und sprang hoch über eine Welle hinweg.

Eine Minute später waren das Sturmboot und der Chef von Camp Peary nur noch ein Fleck draußen auf dem Fluss, während das Gewitter noch immer das Land heimsuchte.

Im Takt des Todes
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