54.
Sean hatte Glück. Valerie saß am selben Tisch wie am Vorabend, und wieder scheuchte sie einen Möchtegern-Aufreißer davon.
Diesmal war sie weniger aufreizend gekleidet. Sie trug eine weite Hose und einen Kaschmirsweater. Ihr Haar hatte sie zu einem französischen Zopf geflochten, und ihr Lippenstift war gedeckt.
Als sie Sean auf sich zukommen sah, schaute sie rasch in die andere Richtung. Sie blickte ihn auch dann noch nicht an, als er ihr gegenüber Platz nahm.
»Wie ich sehe, sind Sie hier noch immer sehr populär«, bemerkte er.
»Und wie ich sehe, kapieren Sie es einfach nicht, wenn Sie eine Abfuhr bekommen haben.«
»Neuer Tag, neues Glück.«
»Nicht hier.«
»Würden Sie gerne etwas essen?«
»Muss ich wirklich erst den Türsteher rufen, um Sie loszuwerden?«
»Lassen Sie mich darüber nachdenken, während Sie sich entscheiden, was Sie essen wollen.« Fast hätte Valerie gelächelt. Sean ging sofort darauf ein. »Okay, ihre Mundwinkel haben zwar nur gezuckt, aber ich nehme, was ich kriegen kann.«
»Wie kommen Sie eigentlich auf die Idee, dass ich mit Ihnen zu Abend essen will?«
»Okay, da ich nun Ihre volle Aufmerksamkeit habe, werde ich es Ihnen sagen.« Er hielt kurz inne, fuhr dann fort: »Ich will nur mit jemandem reden. Wenn man immer nur allein unterwegs ist, wird man das irgendwann leid. Ich suche bloß eine gepflegte Konversation bei einer Flasche Wein. Und die Rechnung können wir uns teilen, keine Gefälligkeiten.«
»Und Sie glauben, dass ich Ihnen diese gepflegte Konversation bieten kann? Und dass ich Wein mag?«
»Das mit der Konversation betrachte ich als gegeben. Was das betrifft, ist mein Radar ziemlich gut. Es hat kein einziges Mal negativ angeschlagen, seit ich Sie getroffen habe. Und was den Wein angeht, bin ich flexibel. Aber auf dem Weg hierher bin ich an einem Laden in der Nähe vorbeigekommen, wo ein Cabernet angeboten wird, den ich unbedingt mal probieren will.«
»Sie kennen sich mit Trauben aus?«
»Ich habe mal Wein gesammelt.«
»Haben?«
»Ja, bis jemand mein Haus mitsamt Weinkeller in die Luft gejagt hat.« Sean stand auf. »Sollen wir?«
Als sie in einer Ecke saßen, von wo sie auf die Straße hinausblicken konnten, und sich eine Flasche Cabernet teilten, blickte Sean auf Valeries Ehering, sodass sie nicht umhin konnte, es zu bemerken.
»Sie fragen sich, warum ich Wein mit Ihnen trinke, obwohl ich doch offensichtlich verheiratet bin«, sagte sie.
»Nun, wenn ich Ihr Mann wäre, würde ich Sie nicht allein in Bars gehen lassen.«
»Ich kann auf mich selbst aufpassen.«
»Ich würde mich an seiner Stelle trotzdem sorgen, dass Sie Gefallen an einem jungen Burschen finden könnten.«
»Und jetzt denken Sie, ich hätte Gefallen an Ihnen gefunden?«
»Ich denke, dass Sie sich gerade fragen, ob ich es wirklich ernst meine oder ob ich auch nur so ein Aufreißer bin.«
»Und was davon trifft zu?«
»Wäre ich ein Aufreißer, würde ich Ihnen sagen, dass ich es ernst meine.«
»Was heißt das jetzt?«
»Das heißt, dass Sie sich durch Beobachtung eine eigene Meinung werden bilden müssen. Klingt das vernünftig?«
»Worüber sollen wir reden, damit ich mit meinen Beobachtungen beginnen kann?«
»Wir reden über unsere persönlichen Geschichten. Ich fange an. Ich bin geschieden, keine Kinder. Und wie ich Ihnen schon sagte, bin ich Problemlöser … Anwalt, genauer gesagt. Ich bin hier wegen eines Mandanten, der in einen üblen Prozess verstrickt ist. Und Sie?«
»Ich bin verheiratet und habe ebenfalls keine Kinder. Früher hatte ich eine Karriere, heute sitze ich zu Hause oder gehe manchmal aus. Das wär’s auch schon.«
»Was tun Sie, wenn Sie Spaß haben wollen?«
»Ich tue nichts aus Spaß. Ich hatte in meinem Leben schon genug Spaß. Jetzt geht es nur noch bergab.«
»Na, na. Es ist nicht so, als würden Sie schon mit einem Fuß im Grab stehen …«
»Nein?«
»Sie sind doch nicht krank oder so?«
»Nicht in dem Sinne, den Sie meinen.«
Sean lehnte sich zurück und schwenkte den Wein im Glas. »Okay, Sie qualifizieren sich für die Top Three der interessantesten Frauen, die ich je kennen gelernt habe. Nur damit Sie das im Kontext sehen: Meine Ex hat es nicht mal bis in die Top Ten geschafft.«
»Was mir verrät, dass Sie kein guter Menschenkenner sind.«
»Ich bin inzwischen besser geworden.«
»Mein Mann würde es bei jedem in die Top Ten schaffen. Er ist wirklich sehr interessant … oder zumindest das, was er tut.«
»Und was tut er?«
Valerie schüttelte den Kopf. »Ein loses Mundwerk kann Schiffe versenken, wie Sie sicherlich wissen.«
Sean spielte kurz den Verwirrten. »Schiffe versenken? Ist er beim Militär? Ich weiß, dass die Navy hier unten präsent ist.«
»Er arbeitet für die Regierung, aber nicht beim Militär, obwohl er in Vietnam gekämpft hat.«
»Vietnam! Sie sind doch gar nicht so alt.«
»Er hat lange mit dem Heiraten gewartet. Warum er sich schlussendlich doch dazu entschlossen hat, kann ich Ihnen beim besten Willen nicht sagen.«
»Was dann? FBI? Ich habe ein paar Kumpel, die früher bei der Armee waren und jetzt fürs FBI arbeiten.«
»Haben Sie je von Camp Peary gehört?«
Sean schüttelte langsam den Kopf. »Der Name kommt mir irgendwie bekannt vor. Ist das so ein Ferienlager für Kinder?«
Sie lächelte. »In gewisser Hinsicht schon, nur sind die Kinder sehr groß und ihre Spielzeuge auch.«
»Was meinen Sie damit?«
»Camp Peary ist ein Trainingslager für die Regierungsbehörde, deren Abkürzung mit C beginnt und mit A endet. Haben Sie’s jetzt kapiert?«
»Ihr Mann arbeitet für die CIA?«, stieß Sean hervor.
Valerie schaute ihn misstrauisch an. »Sind Sie sicher, dass Sie noch nie von Camp Peary gehört haben?«
»Ich bin aus Ohio. Hier in der Gegend mag es ja berühmt sein, aber in Dayton ist noch nichts davon angekommen. Tut mir leid.«
»Mein Mann leitet das Camp. Das ist übrigens kein Staatsgeheimnis.«
Sean spielte den Verblüfften. »Valerie, lassen Sie mich Ihnen eine einfache Frage stellen.«
»Warum sollte so ein Mann seine Frau allein in Bars gehen und mit Fremden zu Abend essen lassen?« Sean nickte. »Nun, lassen Sie mich Ihnen genauso einfach antworten: Es ist ihm egal, was ich tue. An manchen Tagen weiß ich nicht einmal mehr, warum er mich geheiratet hat. Ich weiß, dass ich einen verdammt guten ersten Eindruck mache, aber bei Ian hat die Wirkung nachgelassen.«
»Wenn Ian seinen Weg geht und Sie Ihren, warum lassen Sie sich dann nicht scheiden?«
Sie zuckte mit den Schultern. »Scheidungen verlaufen meist sehr unerfreulich und kosten viel Kraft. Sie sind selbst geschieden. Stimmt das nicht?«
»Oh ja, das stimmt«, gab Sean zu. »Ich nehme an, Ihr Mann ist sehr beschäftigt von wegen Krieg gegen den Terror und so.«
»Vielleicht liegt es auch nur daran, dass ich nicht interessant genug bin«, sagte Valerie.
Sean lehnte sich zurück und schaute nachdenklich drein. »Bei meiner Frau und mir war es Liebe auf den ersten Blick. Doch dann hat sie sich verändert … oder ich, wer weiß das schon? Sie mochte Anwälte nicht sonderlich. Vermutlich war unsere Ehe von Anfang an zum Scheitern verurteilt.«
»Vielleicht war das auch bei mir so.«
»Warum? Wie haben Sie und Ian sich denn kennen gelernt?«
»Ich habe für ein Privatunternehmen gearbeitet, das Aufträge von der CIA bekommen hat. Mein Spezialgebiet war Bioterrorismus – lange, bevor dieses Thema populär geworden ist. Wir haben uns auf einer Konferenz in Australien kennen gelernt. Das war natürlich, bevor man ihn zum Direktor von Camp Peary befördert hat. Tatsächlich war ich schon dort, bevor ich Ian überhaupt gekannt habe. Aber ich habe mir die Finger verbrannt und bin gegangen. Er hingegen genießt es noch immer, in dieser Welt zu leben. Das ist der Unterschied zwischen uns beiden, und es ist ein verdammt großer Unterschied.«
»Hat man vor kurzem nicht eine Leiche in Camp Peary gefunden?«
Valerie nickte. »Der Mann ist offenbar über den Zaun geklettert und hat sich selbst erschossen.«
»Warum sollte jemand so was tun?«
»Jeder hat seine Probleme.«
»Bei Ihnen hört sich das an, als würden Sie aus Erfahrung sprechen.«
»Wir sprechen alle aus Erfahrung, Sean.«
Nach dem Essen gingen sie gemeinsam die Straße hinunter.
»Das war ein großartiger Abend, Valerie. Danke.«
»Es war ein sehr deprimierender Abend, und das war zum größten Teil meine Schuld.«
Sean schwieg. Es gab keine gute Antwort darauf. Schließlich sagte er: »Ich werde noch gut eine Woche in der Stadt sein. Würden Sie unser Treffen gerne wiederholen?«
»Ich glaube, das wäre keine gute Idee«, erwiderte sie.
»Könnte ich dann wenigstens Ihre Telefonnummer bekommen?«
»Warum?«
»Kann es schaden, wenn man ein bisschen redet?«
»Alles kann irgendwie schaden.« Trotzdem griff sie in ihre Handtasche, holte Papier und Kugelschreiber heraus, schrieb eine Nummer auf und reichte den Zettel Sean.
»Dort können Sie eine Nachricht hinterlassen. Wenn ich nicht zurückrufe … nun, dann tut es mir leid. Danke, dass Sie mich vor einem weiteren Abend in dieser Bar gerettet haben. Auf Wiedersehen.« Kurz legte sie Sean die Hand auf den Arm und ging davon. Sean machte sich Sorgen. Valerie Messaline war vermutlich genau das, was sie zu sein vorgab: eine einsame Frau, die Wasser trat, bis irgendetwas passierte. Sein einziger Anhaltspunkt, etwas über Camp Peary zu erfahren, war soeben verschwunden. Wo sollte er jetzt noch suchen?
Die Antwort fiel ihm fast so schnell ein wie die Frage. Das Problem war nur: Hatte er den Mut dazu? Oder besser gesagt: War er verrückt genug?