3.
Sean betrachtete Michelle, die bewusstlos im Krankenbett lag, und wandte sich mit fragendem Blick zu dem Arzt um. »Machen Sie sich keine Sorgen«, sagte der. »Es ist nicht so schlimm, wie es aussieht. Sie hat eine Gehirnerschütterung, aber der Schädel ist nicht gebrochen, und auf den Röntgenaufnahmen war kein Blutgerinnsel zu sehen. Allerdings hat sie einen Zahn verloren, zwei Rippen sind gebrochen, und sie hat am ganzen Körper Blutergüsse. Wenn sie aufwacht, wird sie trotz der Medikamente ziemliche Schmerzen haben.«
Sean konzentrierte sich auf den einzigen Gegenstand, der hier völlig fehl am Platze wirkte: die Handschelle an Michelles rechtem Handgelenk, die sie ans Bettgestell kettete. Und dann war da noch der fette Cop vor der Tür, der Sean nach Waffen durchsucht und gesagt hatte: »Sie haben zehn Minuten.«
»Was ist überhaupt passiert?«, fragte Sean.
»Ihre Freundin ist in eine Bar gegangen und hat mit einem Mann eine Schlägerei angefangen – einem verdammt großen Mann.«
»Woher wissen Sie das?«
»Weil dieser Mann gerade ein Stück den Gang hinunter medizinisch versorgt wird.«
»Und sie hat den Streit angefangen?«
»Ich nehme es an. Deshalb trägt sie ja die Handschellen. Obwohl sie nicht in einem Zustand ist, dass sie fliehen könnte. Aber der Mann hat auch ganz schön was abbekommen. Ihre Freundin muss einen verdammt harten Schlag haben.«
»Sie haben ja keine Ahnung …«, murmelte Sean vor sich hin.
Nachdem der Arzt gegangen war, trat Sean näher an das Bett heran.
»Michelle? Michelle, kannst du mich hören?«
Ein leises Stöhnen war die einzige Antwort. Leise verließ Sean das Zimmer und starrte dabei auf die Handschellen.
Es dauerte nicht lange, bis er die ganze Geschichte herausgefunden hatte. Sean hatte einen Kumpel, einen Detective bei der Polizei von D. C., und der suchte die Akte heraus und berichtete ihm.
»Sieht so aus, als würde der Kerl Anzeige erstatten«, informierte der Detective ihn übers Telefon.
»Und deine Leute sind sicher, dass Michelle nicht provoziert wurde?«
»Gut fünfzig Zeugen schwören, dass sie den Kerl angegriffen hat. Was hat sie überhaupt in diesem Teil von D. C. gemacht, Sean? Wollte sie Selbstmord begehen?«
Wolltest du Selbstmord begehen, Michelle?
Auf dem Krankenhausflur traf Sean mit Rodney dem Riesen zusammen. Seine Freundin war bei ihm. Sie versuchte noch immer, die Flecken aus ihrem Kleid zu bekommen.
»Sie hätten die Frau beinahe totgeschlagen«, sagte Sean.
»Das kümmert uns einen Dreck!«, keifte die Frau.
»Ich werde das Miststück verklagen, dass ihr Hören und Sehen vergeht!«, brüllte Rodney.
»Verdammt richtig«, zischte seine Freundin. »Die Schlampe! Gucken Sie sich mein Kleid an!«
»Bei ihr ist nichts zu holen«, erklärte Sean. »Sie können ihren Wagen haben, aber der hat hunderttausend Meilen auf dem Tacho.«
Die Freundin sagte: »Schon mal was von Pfändung gehört? Wir holen uns ihr Gehalt für die nächsten zwanzig Jahre. Mal sehen, wie ihr das gefällt!«
»Sie bekämen höchstens einen Teil ihres Gehalts, nur hat sie leider keinen Job. Wahrscheinlich werde ich sie sofort wieder in die Anstalt bringen, sobald sie hier raus ist.«
»Anstalt? Was für eine Anstalt?«, fragte die Freundin und hörte auf, an ihrem Kleid zu reiben.
»St. Elizabeth’s. Sie wissen schon … für Leute mit psychischen Problemen.«
»Wollen Sie damit sagen, sie ist ’ne Irre?«, fragte die Frau ängstlich.
»Ich glaube diesen Scheiß nicht!«, schimpfte Rodney. »Das Miststück hat mich angegriffen!«
Sean beäugte Rodney, sprach aber zu seiner Freundin. »Glauben Sie wirklich, dass jemand, der noch alle Tassen im Schrank hat, sich auf einen Burschen wie Ihren Freund stürzen würde? Noch dazu eine Frau?«
»Verdammt, da ist was dran«, sagte Rodney. »Der Mann könnte recht haben. Ich meine … um so was zu tun, muss sie wirklich einen an der Mütze haben. Stimmt’s, Baby?«
»Das ist ja alles gut und schön, aber von irgendjemand will ich Knete«, sagte die Frau und stemmte die Hände in die Hüfte. »Oder die kleine Karateschlampe mit ihrem knochigen weißen Arsch wandert in den Knast.«
»Okay«, sagte Sean, »ein bisschen Geld kann ich vermutlich auftreiben.«
»Wie viel?«, fragte die Frau gierig.
Sean rechnete rasch nach, was er noch auf dem Konto hatte. »Zehntausend, aber das ist eine großzügige Schätzung. Damit lassen sich Ihre Arztrechnungen bezahlen, und Ihnen bleibt noch genug, um die ganze Sache zu vergessen.«
»Zehn Riesen? Halten Sie mich für bescheuert? Ich will fünfzigtausend!«, keifte die Frau. »Der Doc sagt, Rodney braucht eine Knieathroskopie. Und dieses Weib hat ihm den Finger gebrochen.«
»Ich habe keine fünfzigtausend.«
»Na gut. Fünfundvierzig. Aber keinen Cent weniger!«, sagte die Frau. »Sonst gehen wir vor Gericht, und Ihre Freundin kann die nächsten Jahre eine Aggressionstherapie im Knast machen.«
»Okay, fünfundvierzig«, sagte Sean. Damit waren seine gesamten Reserven aufgebraucht.
»Und die Bar ist auch im Eimer«, erklärte Rodney. »Der Besitzer will den Schaden ersetzt haben.«
»Der Mann bekommt fünfzehnhundert. Und das ist mein letztes Angebot.«
Früh am nächsten Morgen wurde die Angelegenheit noch vor Seans Besuch im Krankenhaus geklärt. Der Staatsanwalt schloss den Fall ab, als Rodney ihm sagte, er würde keine Anklage erheben. Als der Hüne dann seinen Scheck zusammenfaltete, sagte er: »Eines muss ich der Kleinen lassen. Sie hätte mich fast geschafft, aber …«
»Aber?«
Rodney zuckte mit den Schultern. »Sie hatte mich schon so gut wie erledigt, aber genau in dem Moment, als sie mir den Rest geben konnte, ging ihr Kick daneben, und ich hab den Spieß umgedreht. Es war seltsam … fast so, als wollte sie von mir zusammengeschlagen werden. Aber Sie haben ja selbst gesagt, dass die Frau verrückt ist.«
Sean eilte ins Krankenhaus zurück. Er wollte nicht, dass Michelle mit Handschellen aufwachte.