38.
Während sie durch die Anlagen des Williams and Mary College mit ihren schmucken Backsteinhäusern fuhren, schaute Sean zu Hayes hinüber. Der Sheriff saß vornübergebeugt hinter dem Lenkrad, das er so fest umklammert hielt, dass seine Knöchel weiß hervortraten.
»Wenn Sie das Lenkrad zerbrechen, Sheriff, können wir nicht mehr zurückfahren.«
Hayes lief rot an und lockerte seinen Griff. »Sagen Sie Merk zu mir. Das tut jeder. Ich verhalte mich wohl nicht gerade wie ein vorbildlicher Gesetzeshüter, was?«
»Die meisten Cops werden ja auch nicht mitten in einer Ermittlung zu einem Treffen mit dem großen bösen Wolf gerufen.«
»Was er wohl sagen wird?«
»Ich bezweifle, dass wir es hören wollen. Außerdem ist die CIA nicht gerade berühmt für ihre Kooperationsbereitschaft.«
»Der Tag wird wirklich immer besser!«, seufzte Hayes.
»Haben Sie mit Alicia gesprochen?«
Hayes nickte. »Nachdem Sie mir gesagt haben, dass sie sich mit Rivest getroffen hat, musste ich das.«
»War es etwas Ernstes zwischen den beiden?«
»Sie zumindest scheint es zu glauben.«
Sie parkten vor dem Gebäude, dessen Adresse man Hayes gegeben hatte. Es war ein dreistöckiger Backsteinbau, der für Sean wie ein Wohnhaus aussah.
Ein Mann in Polohemd und Khakihose empfing sie in der Lobby. Sean nahm an, dass er zu Ian Whitfields Sicherheitsdienst gehörte. Der Mann war zwar nicht so groß wie Sean und besaß auch keine Muskelpakete, hatte aber kein Gramm Fett am Leib, und seine Bauchmuskeln – ein makelloser »Sixpack« – waren sogar durchs Hemd hindurch zu sehen. Sean hatte Erfahrung mit solchen Typen, und so ging er davon aus, dass der Mann in der Lage war, einen Gegner auf ein Dutzend verschiedene Arten zu töten, ohne einen Tropfen Schweiß zu vergießen.
Zuerst zeigte der Mann ihnen seinen Ausweis; dann konfiszierte er Hayes’ Waffe. Als Nächstes filzte er Sean. Dies alles geschah, ohne dass auch nur ein Wort gesprochen wurde.
Sie fuhren mit dem Aufzug in den dritten Stock, wo sie auf bequemen Stühlen an einem ovalen Tisch in einem der Eckräume Platz nahmen. Mr. Sixpack verschwand kurz und kehrte mit einem anderen Mann zurück. Der Neuankömmling trug ebenfalls Polohemd und Khakihose, und er war fast so durchtrainiert wie Mr. Sixpack; allerdings hatte er kurz geschnittenes graues Haar und ging auf die sechzig zu. Der Mann war Ian Whitfield, vermutete Sean. Ihm fiel auf, dass Whitfield humpelte. Irgendetwas stimmte nicht mit seinem rechten Bein.
Ein kurzer Blick zu Mr. Sixpack, und dieser reichte Whitfield eine Aktenmappe. Es folgten ein paar Minuten Stille, während ihr Gastgeber die Akte las. Schließlich wandte Whitfield seine Aufmerksamkeit den Besuchern zu.
»In den letzten siebenundzwanzig Monaten hat es vier bestätigte Selbstmorde in der Nähe unserer Anlage gegeben«, erklärte er.
Mit dieser Eröffnung hatten weder Sean noch Hayes gerechnet.
Whitfield fuhr fort: »Aus irgendeinem Grund sind wir zur Anlaufstelle für Depressive und Selbstmörder geworden. Warum, weiß ich auch nicht. Es könnte viele Gründe dafür geben – einschließlich Ruhmsucht oder schlicht das Verlangen, uns Ärger zu machen. Ich muss wohl nicht besonders betonen, dass ich solche Stunts leid bin.«
»Wenn jemand stirbt, kann man das wohl kaum als Stunt bezeichnen«, bemerkte Sean. Hayes wurde kreidebleich. »Und was Monk Turings Tod betrifft, sind die Umstände noch nicht ganz geklärt. Selbstmord, Mord … Wir wissen es noch nicht.«
Whitfield tippte auf die Akte. »Alle Fakten deuten auf Selbstmord hin.« Er schaute zu Hayes. »Stimmen Sie mir da zu, Sheriff?«
Hayes stammelte: »Das … Das könnte man so sagen, ja.«
»Es gibt keinen Beweis, dass Monk depressiv war und sich aus diesem Grund das Leben genommen hat«, erwiderte Sean.
»Sind nicht alle Genies depressiv?«, entgegnete Whitfield.
»Woher wissen Sie, dass er ein Genie war?«
»Wenn jemand in meine Nachbarschaft zieht, weiß ich gerne über ihn Bescheid.«
»Sie waren schon mal in Babbage Town, nicht wahr?«, hakte Sean nach.
Whitfield wandte sich wieder Hayes zu. »Ich glaube, ich habe meinen Standpunkt deutlich gemacht. Vier Selbstmorde – und nun der fünfte. Meine Geduld ist am Ende.«
»Ein Mann ist gestorben«, sagte Hayes, der angesichts des hochmütigen Tonfalls seines Gegenübers offensichtlich seinen Mut wiederfand.
»Jeder kann über einen Zaun springen und sich das Hirn wegpusten.«
»Nur weil Sie das sagen, ist es noch lange nicht die Wahrheit«, erklärte Sean.
Whitfield hielt den Blick auf Hayes gerichtet. »Ich nehme an, Sheriff, dieser Mann arbeitet mit Ihnen zusammen.«
Sean räusperte sich. »Tut mir leid. Ich bin Sean King. Wir haben die Vorstellungsphase wohl übersprungen. Ja, ich arbeite bei diesem Fall mit Sheriff Hayes zusammen. Und Sie sind Ian Whitfield? Der Chef von Camp Peary? Sollten Sie es nämlich nicht sein, verschwenden wir hier unsere Zeit.«
»Das FBI hat die Untersuchung abgeschlossen und erklärt, es habe sich um einen Selbstmord gehandelt«, sagte Whitfield.
»Nun, es wäre nicht das erste Mal, dass das FBI voreilige Schlüsse zieht. Und natürlich haben wir da noch den Mord an Len Rivest, dem Sicherheitschef von Babbage Town.«
»Das interessiert mich nicht«, sagte Whitfield.
»Wie sich herausgestellt hat, gibt es einen Zusammenhang zwischen Rivests und Turings Tod.«
»Das wage ich stark zu bezweifeln.«
»Deshalb spielen wir ja dieses Spiel, nicht wahr?«, entgegnete Sean. »Weil Ihre Meinung nicht wirklich zählt.«
Als Antwort zuckte Whitfields Blick zur Tür. Einen Augenblick später hatte Mr. Sixpack Seans Arm im Polizeigriff und schob ihn zum Ausgang. Hayes folgte ihnen. In der Lobby bekam der Sheriff seine Waffe zurück, und Mr. Sixpack ruckte zum Abschied noch einmal kräftig an Seans Arm.
Sean und Hayes traten hinaus in die Dunkelheit. Als sie den Streifenwagen erreichten, sagte Hayes: »Sind Sie verrückt geworden, so mit Whitfield zu reden?«
»Wahrscheinlich.«
»Mann, Sie haben ihn absichtlich zur Weißglut gebracht! Warum?«
»Weil er ein Wichser ist, deshalb.«
»Was die vier Selbstmorde betrifft, hat er recht«, sagte Hayes.
»Das heißt aber noch lange nicht, dass auch Monk sich selbst getötet hat. Tatsächlich könnte es Monks Mörder sogar auf die Idee gebracht haben, seinen Tod wie einen Selbstmord aussehen zu lassen.«
»Stimmt«, musste Hayes einräumen.
»Danke. Ich bin stets bemüht, wenigstens einmal am Tag etwas Vernünftiges zu sagen.«
»Wieder zurück nach Babbage Town?«
»Ich will erst etwas überprüfen.«
Sean setzte sich ans Steuer, während Hayes auf dem Beifahrersitz Platz nahm.
»Ich bin nicht sicher, ob die Vorschriften es Ihnen gestatten, diesen Polizeiwagen zu fahren«, bemerkte Hayes.
»Ach, das wird schon so sein«, erwiderte Sean. Er legte den Rückwärtsgang ein, fuhr aus der Parklücke und zu einer Stelle ein gutes Stück vom Hauseingang entfernt, aber noch in Sichtweite.
»Und was tun wir hier?«, fragte Hayes.
»Das nennt man Überwachung. Ich nehme an, Sie sind damit vertraut.«
»Wen wollen Sie hier denn überwachen? Den Chef von Camp Peary?«
»Gibt es ein Gesetz dagegen?«
»Verdammt! Vermutlich ja.«
Fünfzehn Minuten später fuhr ein Wagen vor den Haupteingang des Gebäudes, und eine Frau Mitte dreißig stieg aus. Sie war groß und sonnengebräunt, mit langen Beinen, blondem Haar und einer Figur, die nicht nur einen zweiten, sondern auch einen dritten Blick rechtfertigte. Als sie sich der Eingangstür näherte, kamen Whitfield und sein Schatten heraus. Die Frau sprach kurz mit Whitfield; dann humpelte er mit Mr. Sixpack weg, stieg in eine schwarze Limousine und fuhr davon. Die Frau wirkte mit einem Mal arg verstimmt.
»Interessant«, sagte Sean. »Entweder ist das Whitfields Frau oder Geliebte.«
»Oder seine Freundin.«
»Whitfield hat einen Ehering getragen.«
Sie beobachteten, wie die Frau wieder in ihren Wagen stieg und davonfuhr. Sean legte den Gang ein und folgte ihr.
»Was tun Sie?«, verlangte Hayes zu wissen.
»Ich folge ihr.«
»Sean, dafür könnten wir eine Menge Ärger bekommen.«
»Ich hab sowieso schon Ärger.«
Hayes lehnte sich resigniert zurück. Sean lächelte. »Und?«, fragte er. »Sind Sie immer noch froh, mit mir zusammenzuarbeiten?«
»Nein!«
»Gut. Das bedeutet, dass wir endlich zu einem Team zusammenwachsen.« Diese Bemerkung erinnerte Sean daran, dass Michelle in ein paar Stunden hier sein würde. Normalerweise hätte er sich gefreut, seine echte Partnerin zu sehen; doch er konnte einfach nicht vergessen, was Horatio gesagt hatte: Michelle hätte die Anstalt nicht verlassen dürfen. Sie war nicht geheilt.
Doch sie kam her. Und wer wusste schon, was geschehen würde?