70.
Michelle saß auf den Verandastufen vor Alicias Haus. Horatio war gegangen, und Viggies Schluchzen war noch immer von drinnen zu hören. Schließlich stand Michelle auf, ging hinein und klimperte eine Melodie auf dem Klavier. Endlich verstummte das Schluchzen.
Michelle atmete tief durch und ging nach oben. Sie klopfte nicht an Viggies Tür, sondern ging einfach ins Zimmer. Viggie lag bäuchlings auf dem Bett, den Kopf unter dem Kissen vergraben. Sie zitterte noch immer vom Weinen. Sanft nahm Michelle das Kissen weg. Sie hörte, dass das Mädchen Zahlen vor sich hin murmelte.
Sie hat ihren Vater verloren, und ich habe sie wie Dreck behandelt, überlegte Michelle. Ich habe mich nie richtig bemüht zu verstehen, wie verletzt sie wirklich ist.
Sie setzte sich aufs Bett und legte die Hand auf Viggies Rücken. Sofort verspannte sich das Mädchen.
»Viggie, es tut mir leid, was ich getan habe. Ich hatte kein Recht dazu. Ich hoffe, du kannst mir verzeihen. Ich habe … Es geht mir in letzter Zeit nicht gut. Ich habe Probleme. Wir haben ja darüber geredet. An manchen Tagen geht es mir ganz gut, an anderen fühle ich mich schrecklich. Aber ich hätte das nicht an dir auslassen dürfen. Ich weiß, dass du mir nur helfen wolltest.«
Viggie drehte sich langsam zu ihr um. »Ist schon okay«, sagte sie. »Ich hab auch schlechte Tage. Und ich bin nicht wütend auf dich. Du bist meine Freundin.«
Michelle drückte Viggie an sich und flüsterte: »Du bist auch meine Freundin. Und ich würde alles für dich tun. Ich werde dir nie wieder wehtun. Ich verspreche es.«
Als Sean ins Haus kam, saß Michelle mit hochrotem Gesicht auf der Couch im Wohnzimmer.
»Was ist?«, fragte er besorgt. »Stimmt was nicht mit Viggie?«
»Es geht ihr gut. Und mir auch.«
»Bist du sicher?«
Michelle nickte so langsam, als würde es sie Energie kosten, die sie nicht besaß.
Sean setzte sich neben sie und berichtete ihr, was am Strand geschehen war.
»O Gott!«, stieß Michelle hervor. »Er hätte dich töten können!«
»Das könnte er immer noch.«
»Und was tun wir jetzt?«
»Schlafen. Irgendetwas sagt mir, dass uns morgen ein anstrengender Tag bevorsteht, und ein wenig Schlaf könnte uns beiden nicht schaden.«
Unglücklicherweise sollte keiner von beiden diesen Schlaf bekommen.
Michelle, die stets einen leichten Schlaf hatte, schob ihre Hand unter das Kissen und packte die Pistole, als die Zimmertür leise knarrte und sich langsam nach innen bewegte. Sie öffnete die Augen gerade so weit, dass sie die Person erkennen konnte, die auf sie zukam. Viggie trug ein langes T-Shirt, das ihr bis über die Knie hing. Sie hielt irgendetwas in den Händen.
Einen Augenblick lang stand das Mädchen neben dem Bett; dann legte sie den Gegenstand vorsichtig auf die Bettdecke. Ein paar Sekunden später hörte Michelle, wie die Tür sich wieder schloss und wie das Mädchen in ihrem Zimmer verschwand.
Sofort setzte Michelle sich auf und knipste das Licht auf dem Nachttisch ein. Sie griff nach dem Gegenstand, den Viggie zurückgelassen hatte – einen großen Umschlag. Michelle öffnete ihn und entdeckte einen Brief in einem normalen Umschlag sowie ein Foto. Sie war so aufgeregt, dass sie in den Sachen, in denen sie geschlafen hatte – Shorts und ein kurzes Tank-Top – auf den Flur schlüpfte. Leise klopfte sie an Seans Schlafzimmertür. Keine Antwort. Sie klopfte erneut, diesmal ein wenig lauter. Immer noch keine Reaktion. Michelle presste die Lippen auf die Tür: »Sean? Sean!«
Schließlich hörte sie ein Murmeln, gefolgt vom Quietschen der Matratze. Dann wurde das Licht angeschaltet. Schritte kamen näher, und die Tür öffnete sich.
Sean, der einen gestreiften Pyjama trug, blickte Michelle verschlafen an.
»Was ist?«, fragte er gähnend.
Ein Lächeln zuckte um Michelles Lippen. »Du trägst Pyjamas?«, sagte sie. »Ich fass es nicht.«
Sean schwieg kurz, während sein Blick sich klärte und er sich auf ihren halb nackten Leib konzentrierte. »Und du trägst fast nichts im Bett? Ich fass es nicht.«
Michelle war überrascht, schaute an sich herunter und legte rasch die eine Hand über den Busen, während sie mit dem großen Umschlag ihre intimeren Körperstellen verdeckte.
Jetzt war es Sean, der lächelte. Er sagte: »Das ist doch nicht nötig, nicht bei mir, zumal ich sowieso gerade aus dem Tiefschlaf gerissen worden bin …« Er schaute auf den Umschlag. »Kommst du deswegen?«, fragte er. Als sie nichts darauf erwiderte, stand er ein paar Sekunden verlegen da; dann fragte er: »Willst du etwas von mir, außer dich über meinen Schlafanzug lustig zu machen?«
Michelle schlüpfte an ihm vorbei in sein Zimmer, setzte sich aufs Bett und winkte ihm, sich zu ihr zu gesellen. »Beeil dich. Ich muss dir was zeigen.«
»Das sehe ich.«
»Mach dir keine falschen Hoffnungen. Ich spreche von etwas anderem. Es ist wichtig.«
Sean seufzte, ging zu ihr und ließ sich neben ihr aufs Bett fallen. »Und? Was ist es?«
Michelle erzählte ihm von Viggies Besuch und zeigte ihm den Inhalt des großen Briefumschlags.
Sofort war Sean hellwach. Er betrachtete das Foto; dann überflog er den Brief.
»Wo hat Viggie das her?«, fragte er.
»Von ihrem Vater, nehme ich an.«
»Und sie hat es dir gegeben? Warum?«
»Sie mag mich. Ich habe ihr das Leben gerettet. Sie vertraut mir.«
Sean schaute sie seltsam an. »Ich denke, du hast den Nagel auf den Kopf getroffen. Sie vertraut dir.« Er steckte Brief und Foto in den großen Umschlag zurück. »Du musst sofort mit Viggie reden. Dieser Brief enthält eine weitere Information, die wir brauchen, um einen Sinn in dem Ganzen zu erkennen. Frag sie, woher sie ihn hat.«
»Ich werde es versuchen.«
Michelle kehrte in ihr Zimmer zurück, zog sich einen Bademantel an und ging zu Viggie. Zehn Minuten später kam sie zu Sean zurück. Sie sah enttäuscht aus. »Viggie will nichts über den Brief erzählen. Sie hat sogar geleugnet, ihn mir gegeben zu haben.«
Die nächste Stunde verbrachten sie mit dem Versuch, Brief und Foto einen Sinn zu entnehmen und beides ins Gesamtbild einzufügen. Schließlich sagte Sean: »Nicht dass es mich stören würde, eine fast nackte Frau in meinem Bett zu haben, aber du musst dich anziehen.«
»Was?«, erwiderte Michelle.
»Wir müssen zu Horatio. Ich will seine Meinung hören.«
»Seine Meinung worüber?«
»Das wirst du dann schon sehen. Zieh dich an.«
Als Michelle aufstand und das Zimmer verließ, schaute Horatio auf den Umschlag. Vielleicht war das endlich der Schlüssel, den sie brauchten. Jedenfalls hoffte er es verzweifelt, denn allmählich gingen ihnen die Alternativen aus, und die letzte Option – über den Zaun von Camp Peary zu klettern – wollte er nicht unbedingt nutzen.