15.

Len Rivest führte Sean durch Babbage Town. Hinter dem großen alten Herrenhaus befand sich ein Netzwerk aus Gebäuden unterschiedlicher Größe. Sean fiel auf, dass neben jeder Tür eine Sicherheitstastatur angebracht war. Eines der größten Gebäude nahm eine Fläche von fast einem Viertel Morgen ein und war von einem sieben Fuß hohen Zaun umgeben. Das Gebäude hatte einen Anbau, der an ein Getreidesilo erinnerte.

Sean deutete auf den Anbau. »Was ist da drin?«

»Wasser. Damit werden Teile der Anlage gekühlt.«

»Und was befindet sich in den anderen Gebäuden?«

»Andere Dinge«, antwortete Rivest ausweichend.

»Und in welchem hat Monk Turing gearbeitet? Was hat er hier eigentlich gemacht?«

»Ich hatte gehofft, diese Frage vermeiden zu können«, sagte Rivest.

»Ich dachte, Sie hätten uns angeheuert, damit wir herausfinden, wie Monk Turing gestorben ist. Wenn Sie das allerdings nicht wollen, Len, dann sagen Sie es einfach, und ich kann wieder nach Hause fahren, ohne meine und anderer Leute Zeit zu verschwenden. Champ Pollion hat mir gerade eine halbe Stunde lang mit vielen Worten gar nichts erzählt, und ich habe nicht die Absicht, mir das Gleiche jetzt noch mal von Ihnen anzuhören.«

Rivest schob die Hände in die Taschen. »Tut mir leid, Sean. Ich weiß, dass Sie mit Joan beim Secret Service waren, und ich mag es ja auch nicht, Katz und Maus mit einem ehemaligen Kollegen zu spielen. Unter uns gesagt, glaube ich, dass die … nun ja, Mächte im Hintergrund inzwischen Bedenken haben, was private Untersuchungen hier betrifft.«

»Und wer sind diese Mächte im Hintergrund?«

»Wenn ich es wüsste, würde ich es Ihnen sagen.«

Sean klappte den Mund auf. »Soll das heißen, Sie wissen nicht, für wen Sie hier arbeiten?«

»Wenn jemand genug Geld hat, kann er seine Spuren sehr gut verwischen. Auf meinem Gehaltsscheck steht, dass ich für das Unternehmen Babbage Town arbeite. Ich war vor einiger Zeit mal neugierig und habe versucht, mehr herauszufinden. Und wissen Sie was? Man hat mir gesagt, ich bekäme einen Tritt in den Arsch und würde fliegen, sollte ich das noch einmal tun. Der Job hier wird besser bezahlt als alles, was ich je gemacht habe. Ich habe zwei Kinder, die das College besuchen. Ich will das nicht versauen. Ich kann keine solchen Probleme gebrauchen.«

»Wie kommen Sie darauf, dass es Probleme für Sie geben könnte?«

»Ich bekomme jeden Tag E-Mails. Aber ich habe denen gesagt, Sie säßen bereits im Flugzeug und sollten wenigstens die Chance bekommen, es mal zu versuchen – zumal die Sache heikel werden kann.«

»Heikel? Weil die CIA und das FBI ihre Finger im Spiel haben?«

Rivest verzog das Gesicht. »Ausgerechnet Camp Peary, verdammt! Aber wenn Sie den Fall schnell lösen und die Sache nichts mit Babbage Town zu tun hat, werden unsere Probleme möglicherweise verschwinden.«

»Und falls es doch mit Babbage Town zu tun hat?«

»Dann sollte ich nach einem neuen Job Ausschau halten.«

»Champ Pollion glaubt, dass der Fall etwas mit irgendeiner Verschwörung des militärisch-industriellen Komplexes zu tun hat.«

Rivest stöhnte. »Bitte, ich hab schon genug am Hals! Da kann ich nicht auch noch meine Zeit mit Champs Fantastereien verschwenden.«

»Okay, konzentrieren wir uns auf das Wesentliche. Wie ist Monk Turing gestorben?«

»Durch eine Kugel in den Kopf. Die Waffe lag neben ihm.«

»Wo genau in Camp Peary wurde er gefunden?«

»Am äußersten östlichen Ende des Komplexes, das direkt an den York River grenzt. Sie sind auf dem Weg hierher daran vorbeigefahren. Es liegt am anderen Flussufer.«

»Ist das Areal umzäunt?«

»Ja. Monk Turing lag gerade so innerhalb der Umzäunung. Schürfwunden an seiner Leiche deuten darauf hin, dass er über den Zaun geklettert ist. Ich bin sicher, dass das Gebiet patrouilliert wird, aber nicht vierundzwanzig Stunden am Tag und sieben Tage die Woche. Camp Peary umfasst Tausende Morgen, und ein großer Teil ist unbewacht. Selbst die CIA hat nicht so viel Geld, dass sie jeden Quadratzoll sichern könnte. Monk ist irgendwie da reingekommen.«

»Wo ist die Leiche jetzt?«

»Man hat eine provisorische Leichenhalle eingerichtet, in White Feather, das ist eine kleine Stadt ganz in der Nähe. Ein Gerichtsmediziner aus Williamsburg hat die Obduktion vorgenommen. An der Todesursache besteht kein Zweifel. Ich habe sowohl die Leiche als auch den Bericht gesehen; aber schauen Sie es sich ruhig selber an.«

»Okay. War Turing verheiratet?«

»Geschieden. Wir suchen noch immer nach seiner Ex. Bisher ohne Erfolg.«

»Kinder?«

»Eins. Viggie Turing, elf Jahre.«

»Wo ist sie jetzt?«

»Hier. Sie hat mit ihrem Vater in Babbage Town gelebt.« Rivest wies mit einem Kopfnicken zu einigen der kleinen Häuser hinüber. »Die Gebäude da drüben dienen als Wohnungen für die Leute, die hier arbeiten. Ein paar wohnen allerdings auch im Herrenhaus.«

»Ist Viggie ein Spitzname oder ihr richtiger Name?«

»Das ist eine Kurzform für Vigenère. Zumindest habe ich das so gehört.«

»Nach Blaise de Vigenère?«, fragte Sean.

»Nach wem?«

»Vergessen Sie’s. Hatte Turing Feinde?«

»Mindestens einen hatte er ganz offensichtlich.«

»Aber was ist mit der Selbstmordtheorie? Aufgesetzter Kopfschuss? Waffe daneben?«

»Könnte sein«, räumte Rivest zurückhaltend ein. »Aber mein Bauch sagt mir etwas anderes.«

»Manchmal irrt der Bauch sich.«

»In meinen fünfundzwanzig Jahren beim FBI hat er das nie getan, und jetzt sagt er mir, dass hier etwas nicht stimmt.«

»Ich möchte mit Viggie sprechen.«

»Es wird Ihnen schwerfallen, aus dem Kind etwas herauszubekommen.«

»Wieso?«

»Sie ist Autistin. Nur Monk konnte zur ihr durchdringen, sonst niemand.«

»Weiß sie überhaupt, dass ihr Vater tot ist?«

»Da liegt das Problem. Niemand weiß, wie man es ihr beibringen soll. Das könnte übel werden.«

»Warum? Ist sie gewalttätig?«

Rivest schüttelte den Kopf. »Sie ist ruhig und schüchtern. Und sie spielt sehr gut Klavier.«

»Was ist dann ihr Problem?«

»Sie lebt in ihrer eigenen Welt, Sean. Man kann ganz normal mit ihr reden, und plötzlich ist es, als würde sie einfach … verschwinden. Sie kommuniziert nicht auf der gleichen Ebene wie Sie und ich.«

»Ist sie schon mal von einem Psychiater untersucht worden?«

»Weiß ich nicht.«

Sean dachte an Horatio Barnes. »Sollte es darauf hinauslaufen, kenne ich vielleicht jemanden, der uns helfen könnte. Wer kümmert sich jetzt um sie?«

»Alicia Chadwick und ein paar andere.«

»Wer ist Alicia Chadwick?«

»Sie arbeitet in einer der Abteilungen hier. Wenn außer Monk jemand zu Viggie durchdringen konnte, dann Alicia, zumindest teilweise.«

»Wer hat Monks Leiche entdeckt?«

»Ein Wachmann auf Patrouille in Camp Peary.«

»Hat die Spurensicherung irgendwelche verwertbaren Hinweise gefunden?«

»Nicht, dass ich wüsste.«

»Was ist mit der Waffe?«

»Die hat Turing gehört.«

»Waren Fingerabdrücke auf der Waffe?«

»Offenbar ja.«

»Offenbar? Entweder gab es welche oder nicht.«

»Okay, es gab welche. Und man hat keinerlei Hinweise darauf gefunden, dass er gefesselt worden wäre oder sich irgendwie gewehrt hätte.« Rivest zögerte kurz und platzte dann heraus: »Verdammt, vielleicht hat einer der Wachen von Camp Peary bloß einen nervösen Zeigefinger gehabt.«

»Und dafür hat er dann Turings Waffe benutzt?«

»Monk hat das Gelände verbotenerweise betreten. Ein Wachmann hat ihn erschossen, und jetzt versuchen diese Leute, das zu verschleiern.«

Sean schüttelte den Kopf. »Wäre er ein Eindringling gewesen, hätte der Wachmann einen Grund gehabt, ihn zu erschießen. So etwas zu verschleiern wirft nur zusätzliche Probleme auf. Außerdem hätte sicher niemand Monks eigene Waffe dafür verwendet.«

»Wer weiß das schon bei der CIA?«, entgegnete Rivest.

»Der zweite Grund ist noch stichhaltiger. Monk wurde durch einen aufgesetzten Schuss getötet. Wenn ein Wachmann so nahe an ihm dran gewesen wäre, hätte er Monk genauso gut festnehmen können.«

»Vielleicht kam es ja zu einer Rangelei, und der Schuss hat sich zufällig gelöst«, gab Rivest zu bedenken.

»Sie haben gerade gesagt, dass es keinerlei Hinweise auf einen Kampf gibt.«

Rivest seufzte. »Wer kennt schon die Wahrheit?«

»Was sagt die CIA zu der Sache?«

»Dass Monk über den Zaun geklettert sei und sich selbst erschossen habe.«

»Sie glauben das offensichtlich nicht.«

Rivest schaute sich nervös um. »Es gibt hier viele Augen.«

»Was soll das heißen?«

»Dass es an einem Ort wie diesem hier Spione geben könnte.«

»Spione? Wie kommen Sie darauf?«

»Beweise habe ich natürlich nicht. Das ist wieder nur so ein Bauchgefühl.«

»Hat man irgendetwas in Turings persönlichen Sachen gefunden?«, fragte Sean.

»Das FBI hat alles mitgenommen … seinen Computer, seine Papiere, seinen Pass.«

»Wer hat Monk zum letzten Mal lebend gesehen?«

»Seine Tochter, nehme ich an«, antwortete Rivest.

»Hat das FBI denn keine Psychologen, die dem Mädchen helfen könnten?«

Rivest schien froh zu sein über den Themenwechsel. »Sie haben eine sogenannte Expertin hergebracht, aber die hatte keinen Erfolg.«

Sean dachte erneut an seinen Harley fahrenden Freund Horatio Barnes und beschloss, ihn später anzurufen, auch wenn er sich auf Michelles Genesung konzentrieren sollte.

Rivest fuhr fort: »Am Abend, bevor seine Leiche gefunden wurde, hat man ihn beim Abendessen gesehen. Danach hat er noch ein wenig in seiner Wohnung gearbeitet.«

»Woher wissen Sie das?«, fragte Sean.

»Seinem Computerlog zufolge hat er um halb neun aufgehört. Über das, was er danach gemacht hat, können wir nur spekulieren.«

»Wie ist er nach Camp Peary gekommen? Ist er geschwommen, oder hat er ein Boot genommen? Oder ist er vielleicht gefahren?«

»Ich wüsste nicht, wie er dorthin gefahren sein sollte. Man muss durchs Haupttor, sonst kommt man nicht auf diesen Teil des Geländes. Und wir können nicht sagen, ob er geschwommen ist oder nicht, denn wegen des Regens war seine Leiche nass. In jedem Fall ist das schon ein gutes Stück quer durch den Fluss.«

»Dann hat er sich vermutlich ein Boot genommen. Hat man eins in der Nähe gefunden?«

»Nein.«

»Gibt es hier überhaupt Boote?«

»Oh, sicher. Ein paar Ruderboote und Kanus. Außerdem haben wir ein großes Segelboot und ein paar Rennskuller. Und Babbage Town besitzt auch ein paar Motorboote.«

»Also gibt es hier eine Menge Wasserfahrzeuge, aber keins fehlt?«

»Nein. Hätte jemand ihn übergesetzt und wäre dann wieder zurückgefahren, wüssten wir nichts davon.«

»Wo liegen die Boote?«, fragte Sean.

»Am Bootshaus unten am Fluss.«

»Hat jemand in der Nacht, als Monk starb, ein Motorboot gehört?«

Rivest schüttelte den Kopf. »Aber zwischen hier und dem Bootshaus liegt ein kleiner Wald. Es ist also durchaus möglich, dass man es nicht hören konnte

»Wir scheinen überall in einer Sackgasse zu enden.«

»Wie wäre es mit einem Drink?«, schlug Rivest vor.

»Haben Sie den Eindruck, ich könnte einen gebrauchen?«

»Nein, aber ich. Kommen Sie. Wir werden was essen, uns ein paar Drinks genehmigen, und morgen werde ich Ihnen dann mehr über Babbage Town erzählen, als Sie je wissen wollten.«

»Sagen Sie mir nur eins, Rivest. Was immer hier geschieht – ist es das wert, dass jemand dafür mordet?«

Im schwächer werdenden Licht blickte Rivest über Seans Schulter hinweg zum Herrenhaus. »Verdammt, Sean, was hier geschieht, ist es wert, dass Völker dafür in den Krieg ziehen.«

Im Takt des Todes
titlepage.xhtml
s01-Titel.xhtml
s02-impressum-2011.xhtml
s03_widmung.xhtml
s04_kap01-23_split_000.xhtml
s04_kap01-23_split_001.xhtml
s04_kap01-23_split_002.xhtml
s04_kap01-23_split_003.xhtml
s04_kap01-23_split_004.xhtml
s04_kap01-23_split_005.xhtml
s04_kap01-23_split_006.xhtml
s04_kap01-23_split_007.xhtml
s04_kap01-23_split_008.xhtml
s04_kap01-23_split_009.xhtml
s04_kap01-23_split_010.xhtml
s04_kap01-23_split_011.xhtml
s04_kap01-23_split_012.xhtml
s04_kap01-23_split_013.xhtml
s04_kap01-23_split_014.xhtml
s04_kap01-23_split_015.xhtml
s04_kap01-23_split_016.xhtml
s04_kap01-23_split_017.xhtml
s04_kap01-23_split_018.xhtml
s04_kap01-23_split_019.xhtml
s04_kap01-23_split_020.xhtml
s04_kap01-23_split_021.xhtml
s04_kap01-23_split_022.xhtml
s05_kap24-53_split_000.xhtml
s05_kap24-53_split_001.xhtml
s05_kap24-53_split_002.xhtml
s05_kap24-53_split_003.xhtml
s05_kap24-53_split_004.xhtml
s05_kap24-53_split_005.xhtml
s05_kap24-53_split_006.xhtml
s05_kap24-53_split_007.xhtml
s05_kap24-53_split_008.xhtml
s05_kap24-53_split_009.xhtml
s05_kap24-53_split_010.xhtml
s05_kap24-53_split_011.xhtml
s05_kap24-53_split_012.xhtml
s05_kap24-53_split_013.xhtml
s05_kap24-53_split_014.xhtml
s05_kap24-53_split_015.xhtml
s05_kap24-53_split_016.xhtml
s05_kap24-53_split_017.xhtml
s05_kap24-53_split_018.xhtml
s05_kap24-53_split_019.xhtml
s05_kap24-53_split_020.xhtml
s05_kap24-53_split_021.xhtml
s05_kap24-53_split_022.xhtml
s05_kap24-53_split_023.xhtml
s05_kap24-53_split_024.xhtml
s05_kap24-53_split_025.xhtml
s05_kap24-53_split_026.xhtml
s05_kap24-53_split_027.xhtml
s05_kap24-53_split_028.xhtml
s05_kap24-53_split_029.xhtml
s06_kap54-83_split_000.xhtml
s06_kap54-83_split_001.xhtml
s06_kap54-83_split_002.xhtml
s06_kap54-83_split_003.xhtml
s06_kap54-83_split_004.xhtml
s06_kap54-83_split_005.xhtml
s06_kap54-83_split_006.xhtml
s06_kap54-83_split_007.xhtml
s06_kap54-83_split_008.xhtml
s06_kap54-83_split_009.xhtml
s06_kap54-83_split_010.xhtml
s06_kap54-83_split_011.xhtml
s06_kap54-83_split_012.xhtml
s06_kap54-83_split_013.xhtml
s06_kap54-83_split_014.xhtml
s06_kap54-83_split_015.xhtml
s06_kap54-83_split_016.xhtml
s06_kap54-83_split_017.xhtml
s06_kap54-83_split_018.xhtml
s06_kap54-83_split_019.xhtml
s06_kap54-83_split_020.xhtml
s06_kap54-83_split_021.xhtml
s06_kap54-83_split_022.xhtml
s06_kap54-83_split_023.xhtml
s06_kap54-83_split_024.xhtml
s06_kap54-83_split_025.xhtml
s06_kap54-83_split_026.xhtml
s06_kap54-83_split_027.xhtml
s06_kap54-83_split_028.xhtml
s06_kap54-83_split_029.xhtml
s07_kap84-autor_split_000.xhtml
s07_kap84-autor_split_001.xhtml
s07_kap84-autor_split_002.xhtml
s07_kap84-autor_split_003.xhtml
s07_kap84-autor_split_004.xhtml
s07_kap84-autor_split_005.xhtml
s07_kap84-autor_split_006.xhtml
s07_kap84-autor_split_007.xhtml
s07_kap84-autor_split_008.xhtml
s07_kap84-autor_split_009.xhtml
s07_kap84-autor_split_010.xhtml
s07_kap84-autor_split_anmerkungen.xhtml
s07_kap84-autor_split_011.xhtml
s07_kap84-autor_split_012.xhtml
s07_kap84-autor_split_013.xhtml