92.
Eine Woche später trafen sich Sean und Michelle mit Joan Dillinger in deren Büro mit einem anderen Mann, der weder seinen Namen nannte noch preisgab, für wen er arbeitete. Er verkündete lediglich, dass die Eigentümer von Babbage Town der Agentur für ihre Dienste dankbar seien, und überreichte ihnen einen Scheck. Die Summe – das sah Sean sofort – würde auf absehbare Zukunft all ihre finanziellen Probleme lösen, und ein Urlaub war auch noch drin. Letzteres konnten sie nach der Aufregung gut gebrauchen.
»Ich hoffe, Sie haben jemanden gefunden, um Champ und Alicia zu ersetzen«, sagte Sean. »Schade, dass Sie so gute Leute verloren haben.«
»Ihr Mitleid rührt mich. Aber dank Ihnen werden keine elektronischen Augen unsere Arbeit mehr bespitzeln«, erwiderte der Mann.
Als er sich zum Gehen wandte, konnte Sean sich einen letzten Seitenhieb nicht verkneifen. »Warum verschwenden Sie eigentlich all die Zeit und das Geld, um etwas zu entwickeln, das die Welt zum Stillstand bringen kann?«
Der Mann schaute ihn fragend an. »Wer hat Ihnen gesagt, dass es in Babbage Town um so etwas geht?«
»Ein paar echte Genies.«
Der Mann hob die Augenbrauen. »Sagen wir mal so: Was Sie da beschreiben, ist durchaus eine Möglichkeit, aber es ist schon ein wenig komplizierter.«
»Und Sie wollen wirklich würfeln, wenn die ganze Welt auf dem Spiel steht?«, fragte Sean.
»Wenn wir es nicht tun, tut es jemand anders.«
Joan lächelte. »Gute Arbeit, Sean.« Sie hielt kurz inne und schaute zu Michelle. »Das gilt auch für Sie, Maxwell. Nach dem zu urteilen, was ich gehört habe, hätte Sean es ohne Sie nicht geschafft.«
Sie wusste nichts über Michelles Qualen in den Händen von Valerie Messaline oder von ihrer Abmachung mit der Regierung, und das würde sie auch nie erfahren.
Widerwillig schüttelten die beiden Frauen sich die Hände.
Als sie zu ihrem Apartment zurückkehrten und in der Tiefgarage aus dem Wagen stiegen, hielt eine Limousine neben ihnen. Ian Whitfield lehnte sich aus dem Seitenfenster und sagte knapp: »Einsteigen.«
Sie setzten sich Whitfield gegenüber. »Tut mir leid«, sagte er, »dass es so lange gedauert hat, Sie da rauszuholen.«
»Wie ist es Ihnen eigentlich gelungen, die böse Hexe auszustechen?«, fragte Sean.
Überraschenderweise war es Michelle, die antwortete: »Sie haben herausgefunden, dass sie einen Teil der Drogen verkauft und das Geld in die eigene Tasche gesteckt hat. Damit haben Sie sie gekriegt, nicht wahr?«
»Wie haben Sie das denn herausgefunden, Maxwell?«, fragte Whitfield.
»Als ich am Flughafen war und sie die Drogen in Champs Flugzeug geladen haben, ist mir aufgefallen, dass ein paar Ballen zurückgehalten wurden. Sie waren Valeries Anteil. Der alte Knacker von der Regierung hat uns erzählt, die CIA würde die Drogen vernichten, aber Hayes und Ventris haben erklärt, die Gegend würde geradezu von dem Stoff überflutet.«
Whitfield sagte ernst: »Nicht einmal Valeries Verbindungen waren gut genug, um sie da rauszuholen.«
Sean schnippte mit den Fingern. »Das erklärt auch, warum sie in der Bar war und so getan hat, als würde sie angemacht. Sie hat die Drogen vertickt.«
Whitfield nickte. »Ich habe schließlich einen ihrer Leute dazu gebracht, dass er auspackt. Mit der Information hatte ich sie dann und konnte Sie beide befreien.«
»Aber warum sind Sie das Risiko eingegangen, die Drogen von Champ wegfliegen zu lassen? Warum haben Sie sie nicht einfach in Camp Peary vernichtet?«, fragte Sean.
»Wir haben dort keine entsprechenden Anlagen. Aber als Michelle den guten altem Champ auf frischer Tat ertappt hatte, ist uns nichts anderes übrig geblieben.«
Sean fragte: »Und was ist mit der alten Val und ihrem mörderischen Sidekick Alicia passiert?«
Als Antwort reichte Whitfield ihnen eine Kopie der Washington Post. Auf Seite A-6 befand sich eine kurze Story über den tragischen Tod zweier Angestellter des Außenministeriums bei einem Autounfall in der Nähe von Peking. Daneben waren zwei körnige Fotos der Opfer zu sehen.
Sean schaute zuerst zu Michelle, dann zu Whitfield. »Verdammt, ich wollte nicht, dass sie umgebracht werden.«
»Was haben Sie denn geglaubt, was mit ihnen geschieht? Dass wir sie vor ein Gericht stellen, wo die ganze Geschichte herausgekommen wäre? Wo die hochsensiblen Programme, an denen sie gearbeitet haben, der breiten Öffentlichkeit bekannt geworden wären?« Er schaute sich das Foto von Alicia an. »Ich saß mit ihr im Humvee, als wir im Irak auf die Mine gefahren sind. Ich war derjenige, der sie rausgezogen hat. Seitdem ist mein Bein verkrüppelt. Sie war mal eine gute Agentin, doch irgendwo ist etwas schiefgelaufen.«
»Was ist mit dem Schatz?«, fragte Sean.
Whitfield holte ein paar Dokumente hervor und reichte sie ihm.
»Sämtliche Einnahmen wurden in drei Teile geteilt, steuerfrei, wie Sie es verlangt haben. Eine nette Geste übrigens«, fügte er hinzu. »Die meisten Leute wären nicht so großzügig gewesen.«
»Und Viggie?«, fragte Michelle.
»Zu der fahren wir gerade. Es geht ihr bestens. Zum Glück war Valerie so sehr mit Ihnen beiden beschäftigt, dass sie ihre Pläne mit Viggie erst einmal auf Eis gelegt hat.«
Sean beugte sich vor. »Ian, Sie haben sich gegen Ihre Agency und auf unsere Seite gestellt. Warum sind Sie nicht tot oder verhaftet?«
Whitfields Gesicht nahm einen grimmigen Ausdruck an. »Technisch gesehen war ich der Chef von Camp Peary, in Wirklichkeit aber hatte Valerie dort das Sagen. Sie hat beeindruckende Arbeit geleistet, und ihre Karriere war sehr steil. Ich kannte den Deal nicht, als ich den Job übernommen habe, aber ich musste damit leben, wenn ich weiter nach oben wollte. Ziemlich schnell habe ich dann bemerkt, dass es ein Fehler war, denn Valerie überschritt die Grenzen immer weiter. Sie hat mehrere der Paramilitärs vereinnahmt, die im Lager stationiert sind. Ich konnte nichts weiter tun, als auf einen Fehler von ihr zu warten, obwohl sie nie einen zu begehen schien.« Whitfield schaute zu Sean. »Ich weiß, dass Valerie sich ziemliche Mühe gegeben hat, auch Sie einzusacken.«
»Es ist mir nicht allzu schwergefallen, ihr zu widerstehen«, erwiderte Sean, und das entsprach sogar fast der Wahrheit.
»Gut. Denn Sie wären nicht mehr lebend da rausgekommen. Deshalb bin ich am Strand aufgetaucht. Ich wusste, dass Valerie sich Sorgen gemacht hat, wie viel Sie herausgefunden haben könnten. Ich bin ihr gefolgt und habe den gehörnten Ehemann gespielt. Sie war ziemlich angepisst, weil ich Sie habe entwischen lassen.«
Sean schaute erstaunt drein. »Danke, dass Sie mir das Leben gerettet haben … wieder einmal.«
»Es ist mein Job, Amerikaner zu beschützen, selbst vor meinem eigenen Brötchengeber.«
»Ich bin überrascht, dass Valerie uns nicht sofort hat töten lassen.«
»Ich nehme an, sie wollte es Ihnen heimzahlen, dass Sie ihren Plan vereitelt haben. Außerdem musste sie herausfinden, wie viel Sie wussten.«
»Und wer hat Len Rivest umgebracht?«, fragte Sean.
»Ich kann Ihnen nur sagen, dass Alicia kein romantisches Interesse an Rivest hatte.«
Sean sagte: »Und dass sie und Champ in Babbage Town waren, war auch kein Zufall, stimmt’s?«
»Champ und Alicia sind schon vor langer Zeit von der CIA rekrutiert worden. Man hat sie bereits in Babbage Town eingeschleust, als die Anlage gebaut wurde. Nebenbei bemerkt – sie waren wirklich gute Wissenschaftler.«
»Und sie waren in Babbage Town, um jede Technologie im Zusammenhang mit Quantencomputern zu stehlen?«, fragte Michelle.
»Sagen wir mal so: Sie waren interessierte Beobachter. Aber woran wirklich in Babbage Town gearbeitet wurde, war … nun, ein Gegenmittel gegen den Quantencomputer.«
»Ein Gegenmittel?«, sagte Michelle.
»Es steht fest, dass ein kommerzieller Quantencomputer irgendwann Realität sein wird. Die Leute, denen Babbage Town gehört, haben versucht, einen Quantencomputer zu bauen, um dann im Anschluss ein Gegenmittel herstellen zu können.«
»Dann sind also die Eigentümer von Babbage Town genau diejenigen, denen ein Quantencomputer schaden würde«, schloss Sean.
»Wie Banken und internationale Konzerne«, fügte Michelle hinzu. »Leute mit richtig tiefen Taschen.«
Whitfield nickte. »Sie mussten das im Geheimen machen. Hätte die Öffentlichkeit es herausgefunden, hätte es eine Panik gegeben. Aber die CIA wollte nicht einfach daneben stehen und so etwas direkt vor ihrer Nase geschehen lassen. Ich kann allerdings nicht behaupten, dass wir an einem Abwehrgerät interessiert gewesen wären. Wir sind schließlich Spione.«
»Und? Wie dicht sind diese Leute davor, die Welt zum Stillstand zu bringen?«
Whitfield zuckte mit den Schultern. »Wenn ich Sie wäre, würde ich mir schnell wieder angewöhnen, mit Bargeld zu bezahlen, und mir einen Vorrat an Papier und Stiften anschaffen.«
»Aber war es denn Zufall, dass Babbage Town direkt gegenüber von Camp Peary liegt?«, fragte Sean.
Whitfield schüttelte den Kopf. »Die CIA ist über eine Scheinfirma Eigentümerin des Geländes. Sie haben es gekauft, eben weil es Camp Peary direkt gegenüber liegt. Champ hat die Leute hinter Babbage Town überredet, das Land zu pachten.«
Michelle fügte hinzu: »Und Champ war ein Pilot, der die Drogen für Sie ausfliegen konnte.«
»Damit eines klar ist: Champ ist ein guter Agent. Er hat getan, was man ihm befohlen hat. Punkt. Er hat weder mit Valerie noch mit Alicia zusammengearbeitet.« Whitfield schaute zu Michelle. »Er hat mich gebeten, Ihnen zu sagen, dass es ihm leidtue, wie sich alles entwickelt hat.«
»Leidtun! Der Bastard hat mir in den Arm geschossen!«
»Wenn er Sie hätte töten wollen, wären Sie jetzt tot.«
»Viggie war in dem Flugzeug. Wollte er sie umbringen?«
»Nein. Wir wollten das Mädchen von Valerie wegbringen. Sie sind uns dabei in den Weg geraten.«
»Oh«, sagte Michelle und schaute reumütig drein.
»Champ hat mich auch gebeten, Ihnen zu sagen, dass Sie viel haben, für dass es sich zu leben lohnt. Und Sie sollen das Fliegen aufgeben. Ich bin allerdings nicht sicher, was er mit Letzterem gemeint hat.«
Michelle schaute auf ihre Hände. »Es geht Champ also gut, ja?«
»Ja. Und wie ich ist er versetzt worden.«
»Warum wurde Viggie entführt?«, fragte Michelle.
Whitfield antwortete: »Es verbarg sich auch ein Code in den Noten des Lieds, den Alicia mit Hilfe der Computer von Babbage Town geknackt hat. Er basierte auf dem Enigma-Code aus dem Zweiten Weltkrieg.«
»Hab ich’s doch gewusst!«, rief Sean. »Sie hat meinen Hinweis auf Enigma verwendet, um ihn zu knacken, und uns dann belogen. Und Viggie selbst war auch ein Code, ein lebender, atmender Code.«
»Und der Titel des Liedes war der Hinweis: ›Shenandoah‹«, fügte Michelle hinzu.
»Richtig«, stimmte Sean ihr zu.
»Was hat das entschlüsselte Lied denn besagt?«, fragte Michelle.
»Es hat ein paar der Dinge beschrieben, die Monk in Camp Peary gesehen hat. Es war genug für Valerie, um Alicia zu befehlen, Viggie zu entführen.«
»Alicia hat sie entführt?«, rief Michelle.
Whitfield nickte. »Ich weiß, dass es nach allem, was sie getan hat, vermutlich nicht viel bedeutet; aber Alicia hat mir und Champ geholfen, Viggie in dieses Flugzeug zu bringen. Ich glaube, das Mädchen hat ihr wirklich am Herzen gelegen, denn das war ein großes Risiko.«
»Es bedeutet vielleicht doch ein wenig«, räumte Sean ein.
»Ian, wie können Sie nur weiter für einen Laden arbeiten, der mit Drogen handelt?«, fragte Michelle.
Whitfield zuckte mit den Schultern. »Sie brauchen Mohnblumen, um Opium herzustellen, und Opium, um Heroin zu produzieren. Im Augenblick hält allein die Mohnernte in Afghanistan die Wirtschaft in Gang. Wenn wir es nicht kaufen, werden es die Terroristen tun und die riesigen Profite aus dem Drogenhandel gegen uns einsetzen. Es ist schlicht und einfach das kleinere Übel. Manchmal ist das die einzige Wahl, die man hat.«
»Es ist trotzdem falsch«, beharrte Michelle. »Und was Valerie getan hat, war kriminell.«
»Valerie war eine ganz gewöhnliche Verbrecherin. So verrückt es auch klingen mag, ich glaube, sie wollte Sie beide nach der Folter töten und war fest überzeugt davon, damit auch durchzukommen. Die Rolle, die sie für die CIA im Sinn hatte, entsprach nicht der, die ich mir vorstelle. Und so wird die CIA auch nie werden, solange ich noch ein Wörtchen mitzureden habe.«
»Eines müssen Sie uns sagen, Ian: Wie ist Monk Turing über den Fluss gekommen?«, fragte Sean.
Whitfield zögerte. »Ich schätze, das schulde ich Ihnen. Es war ein Tauchmotor. Wir haben ihn gefunden.«
Sean schaute zu Michelle. »Nein«, sagte er. »Das war …«
Whitfield fiel ihm ins Wort. »Wir haben sogar zwei davon gefunden. Einen in der Nacht, in der die Hölle losgebrochen ist.« Er musterte die beiden. »Wissen Sie etwas darüber?«
Sean lächelte. »Große Geister denken also doch das Gleiche.«
Die Limousine hielt.
»Wir sind da«, sagte Whitfield und öffnete die Tür. »Lassen Sie sich Zeit. Ich warte draußen.«