24.
Sandy sah schon sehr viel besser aus. Die Krankenschwester ließ sie allein, und Michelle trat neben das Bett, in dem die ältere Frau saß, und nahm deren Hand.
»Was ist mit Ihnen passiert?«
Sandy winkte ab. »Also, erst mal … lass uns endlich du zueinander sagen, ja?«
Michelle lächelte. »Gern.«
»Und nun zu deiner Frage«, sagte Sandy. »So was passiert mir von Zeit zu Zeit. Kein Grund, sich Sorgen zu machen. Manchmal brennen mir von einem Augenblick auf den anderen sämtliche Sicherungen durch. Dann krieg ich ein bisschen Freudensaft, und alles ist wieder paletti.«
»Und du bist sicher, dass du wieder in Ordnung bist?
»Vollkommen.«
»Ich dachte schon, du hättest einen Schlaganfall gehabt.«
»Jetzt weißt du wenigstens, warum ich nirgends einen Job bekomme. Dabei habe ich immer geglaubt, ich wäre eine verdammt gute Pilotin geworden, oder was meinst du?« Sie tat so, als hielte sie einen Steuerknüppel in der Hand. »Ladys und Gentlemen, hier spricht Ihr Kapitän. Wir befinden uns im Anflug auf die Hölle, und Ihr Pilot, also ich, steht kurz davor, total durchzudrehen! Also, schnallt euch bitte an, ihr kleinen Bastarde, während ich versuche, dieses Baby zu landen.« Sie lachte leise und ließ Michelles Hand los.
»Tut mir leid, Sandy. Wirklich.«
»Ach, das ist nun mal so. Ich hab mich daran gewöhnt.«
Michelle zögerte. »Nachdem sie dich weggebracht haben, bin ich in dein Zimmer gegangen. Ich weiß nicht, warum … wahrscheinlich war ich einfach zu verwirrt. Dann habe ich jemanden kommen hören. Ich hab mich hinter die Tür geduckt, und Barry kam herein.«
Bei diesen Worten setzte Sandy sich ein wenig gerader auf. »Hat er dich gesehen?«
»Nein, ich hab mich rausgeschlichen. Aber ich habe ihn bei der Oberschwester gemeldet, obwohl dieser Schuss nach hinten losgehen kann. Vielleicht heckt der Kerl schon Rachepläne aus.«
Sandy lehnte sich wieder zurück. »Was könnte er in meinem Zimmer gesucht haben?«
Michelle zuckte mit den Schultern. »Vermutlich wollte er nur nachsehen, was los war. Oder er wollte sich alles schnappen, was nicht niet- und nagelfest war.«
Sandy schnaubte. »Na, dann soll er sich mal zu meiner Bank durchgraben, denn da liegt mein guter Schmuck. Ich bringe nie irgendwelche Wertsachen an einen Ort wie diesen. Dann sind die Sachen schneller weg, als man gucken kann.«
»Da ist was dran.«
Sandy versuchte, sich wieder ein wenig aufzusetzen, und Michelle kam ihr rasch zu Hilfe. Sie schlug die Decke beiseite, entblößte Sandys Beine, packte die Frau an der Hüfte und zog sie ein wenig höher ans Kissen; dann deckte sie die Beine wieder zu.
»Du bist stark«, bemerkte Sandy.
»Du bist aber auch ziemlich muskulös.«
»Am Oberkörper, ja. Aber meine Beine sind wie Spaghetti und ungefähr genauso dick.« Sandy seufzte. »Du hättest meine Beine früher sehen sollen. Wie die von Ann-Margret.«
Michelle lächelte. »Davon bin ich überzeugt.« Sandys Beine waren tatsächlich verkümmert, weshalb Michelle auch die Decke zurückgeschlagen hatte. Sie wollte sich vergewissern, dass Sandy wirklich behindert war. Ihr Instinkt sagte ihr, dass mit Sandy irgendetwas nicht stimmte.
»Du siehst aus, als würdest du angestrengt über etwas nachdenken«, bemerkte Sandy.
»Sind wir nicht hier, um genau das zu tun? Angestrengt nachzudenken?«
Eine Stunde später nahm Michelle an einer weiteren Gruppensitzung teil, für die Horatio Barnes sie angemeldet hatte.
»Wann wird Mr. Harley Davidson wieder zurückerwartet?«, fragte Michelle eine der Krankenschwestern.
»Wer?«
»Horatio Barnes.«
»Oh, das hat er nicht gesagt. Aber ein qualifizierter Kollege hat die Vertretung für ihn übernommen.«
»Wie schön für ihn.«
Als Michelle von der Sitzung zurückging, wäre sie beinahe gegen Barry geprallt, als sie um eine Ecke bog. Sie versuchte ihn zu ignorieren und wollte weitergehen, als er sagte: »Wie geht es Ihrer Freundin Sandy?«
Michelle wusste, dass sie den Köder nicht schlucken sollte, doch irgendetwas in ihrem Innern wehrte sich, klein beizugeben. Sie drehte sich um und sagte mit fröhlicher Stimme: »Oh, danke, es geht ihr großartig. Und Sie? Haben Sie in Sandys Zimmer irgendwas gefunden, was sich zu stehlen gelohnt hat?«
»Dann waren Sie es, die mich bei der Schwester verpfiffen hat.«
»Hat es so lange gedauert, bis Sie das herausgefunden haben? Was für ein Loser. Was für ein Trottel.«
Er grinste. »Wie wär’s, wenn Sie mal wieder in die Realität zurückkehren würden? Ich kann von hier weg, wann immer ich will, während Sie ’ne Irre sind, die man weggesperrt hat.«
»Stimmt. Ich bin verrückt. Ich bin eine Irre, die Ihnen den Hals brechen kann. Jederzeit. Wann immer sie will.«
Barry schnaubte verächtlich. »Jetzt hör mal, Mädchen. Ich bin im härtesten Viertel von Trenton aufgewachsen. Du weißt ja nicht mal, was hart bedeutet, und … oh, Scheiße!«
Nur einen Zoll neben Barrys Kopf hatte Michelle mit dem rechten Fuß ein Loch in die Gipswand getreten. Während sie langsam ihr Bein zurückzog, schaute sie auf Barry hinunter, der sich zusammengekauert hatte und schützend die Hände über den Kopf legte.
»Solltest du Sandy oder mir noch einmal zu nahekommen, du Drecksack, trete ich nicht mehr nur die Wand ein.« Michelle wandte sich zum Gehen, warf dann aber noch einmal einen Blick auf das Loch, das sie in der Wand hinterlassen hatte. »Du solltest das besser wegmachen, Barry. Hygienevorschriften und so.«
»Ich werde Meldung machen, dass du mich angegriffen hast!«
»Tu das. Und ich werde eine Petition aufsetzen und von jeder Frau unterschreiben lassen, die du begafft hast. Ich bin sicher, die würden deinen Arsch nur zu gerne im Knast sehen.«
»Wer würde denen schon glauben? Die sind alle verrückt.«
»Oh, du wärst überrascht, Barry. Zahlen glaubt man immer. Außerdem habe ich irgendwie das Gefühl, dass deine Weste nicht blütenweiß ist, wenn man nur gründlich sucht. Und glaub mir, Wichser, ich weiß, wonach man suchen muss.«
Barry fluchte, drehte sich um und stapfte davon.
Als Michelle zu ihrem Zimmer zurückging, wusste sie, dass es nur eine Möglichkeit gab, mit Barry fertig zu werden, und sie beschloss, von nun an mit aller Kraft daran zu arbeiten. Und sie hatte auch schon eine Ahnung, wo sie anfangen sollte.