73.

Sean fuhr mit Michelle zu der Pension, in der Horatio bis vor kurzem gewohnt hatte. »Joan hat mir ein paar Infos gefaxt«, erklärte er.

Sie holten die Papiere ab und fuhren zu einem Restaurant in der Nähe. Michelles Magen hatte sich wieder weit genug beruhigt, dass sie Sandwiches und Kaffee bestellten. Sie erzählte Sean, dass auch Monk sich von Champ zu einem Flug hatte mitnehmen lassen.

Beim Essen gingen sie dann die Seiten durch, die Joan ihnen gefaxt hatte. Sean sagte: »Monk Turing war in Wiesbaden.«

»Wie hat sie das so schnell herausgefunden?«

»Joans Firma hat einen Partner in Frankfurt. Die konnten seinen Weg mittels der Kreditkartenbelege nachverfolgen. So hat er zum Beispiel den Bierkrug, den er Champ geschenkt hat, mit seiner Karte bezahlt.« Sean schaute sich weitere Papiere an. »Das hier ist die Liste der deutschen Kriegsgefangenen in Camp Peary, um die ich gebeten habe.«

»Und wie hat Joan die so schnell bekommen?«

»Einer ihrer Topangestellten ist ehemaliger Admiral, der sogar mal Chef der NSA war. Der hat seine Verbindungen spielen lassen. Außerdem unterliegt das Material ja ohnehin nicht mehr der Geheimhaltung. Es hat nur noch Staub in irgendeinem Pentagonbüro gesammelt.«

Sie gingen die Liste der Deutschen durch. Bei jedem Namen standen das Datum der Gefangennahme, der Rang und was mit dem Betreffenden geschehen war.

Sean sagte: »Wie du siehst, sind die meisten nach dem Krieg entlassen worden. Einige sind in der Gefangenschaft gestorben. Einen Henry Fox sehe ich aber nicht auf der Liste.«

»Warte mal. Sieh dir das mal an.« Michelle deutete auf eine leere Spalte. »Bei dem hier steht nicht, was aus ihm geworden ist.« Sie schaute die anderen Seiten durch. »Und er ist der Einzige.«

Sean sah sich den Namen des Mannes an. »Heinrich Fuchs.«

»Heinrich Fuchs«, wiederholte Michelle langsam. »Wenn man das ins Englische überträgt, könnte es Henry Fox heißen.«

Sean starrte sie an. »Ich denke, du hast recht, und das aus gutem Grund.«

»Warum?«

»Weil ich alles, was ich habe – so wenig es sein mag –, darauf verwetten würde, dass Heinrich Fuchs ein Marinefunker war und der einzige Mann, der aus dem Gefangenenlager geflohen ist, das heute Camp Peary heißt. Deshalb ist die Spalte leer. Die Navy will nicht zugeben, dass jemand entkommen ist.«

Michelle sog scharf die Luft ein. »Und nachdem er geflohen ist, hat er seinen Namen in Henry Fox geändert?«

»Und er ist nach New York gezogen, hat sich ein neues Leben aufgebaut, ist alt geworden und hat schließlich im gleichen Apartmenthaus gewohnt wie Monk und Viggie Turing.« Sean sprang auf. »Komm. Wir müssen mit Viggie reden.«

»Warum?«

»Horatio sagt, sie sei ›programmiert‹ worden. Heinrich Fuchs ist vielleicht der Schlüssel, damit sie uns mehr erzählt. Vielleicht alles.«

Sie fuhren nach Babbage Town und eilten in das Klassenzimmer von Viggie und den anderen Kindern … nur dass Viggie nicht dort war.

»Sie hat gesagt, sie sei krank«, erklärte die Lehrerin.

»Hat sie Ihnen das persönlich gesagt?«, fragte Sean.

»Nein, sie hat eine Entschuldigung eingereicht. Sie lag heute Morgen auf meinem Tisch.«

Ein paar Minuten später liefen Sean und Michelle die Stufen zu Alicias Haus hinauf. Sie platzten durch die Tür, und Michelle rief: »Viggie? Viggie!«

Sie rannte die Treppe hinauf und stieß die Tür zu Viggies Schlafzimmer auf. Der Raum war leer, und Michelle stürmte wieder nach unten. Dann durchsuchten sie und Sean den Rest des Hauses.

»Keine Spur von ihr«, verkündete Sean schließlich. Panik lag in seiner Stimme.

»Wo ist ihr Aufpasser?«, fragte Michelle.

Die Haustür öffnete sich, und Alicia kam herein. Sie hielt einen Stapel Papier in der Hand und sah sehr müde aus. Sie schien überrascht zu sein, die beiden Privatdetektive hier zu sehen, und sagte in tadelndem Tonfall: »Okay, ihr zwei, ich bin jede mögliche Folge dieser verdammten Noten durchgegangen und habe unsere besten Computer darauf angesetzt, doch außer unverständlichem Zeug habe ich nichts herausbekommen. Also übersteigt dieser Code entweder unsere Möglichkeiten, ihn zu entziffern, oder es ist überhaupt kein Code – was ich inzwischen stark annehme. Ich habe allerdings den Titel des Liedes herausgefunden. Es heißt ›Shenandoah‹ und stammt aus dem neunzehnten Jahrhundert. Der Text ist sehr kurz, nur ein paar ziemlich belanglose Worte. Ich bin auf die Idee gekommen, es mal damit zu versuchen. Wieder habe ich jede Kombination ausprobiert, und wieder habe ich unsere besten Computer eingesetzt, und wissen Sie was? Es ist noch immer Unsinn.«

Sean und Michelle starrten sie an.

»Was ist los?«, fragte Alicia misstrauisch.

»Wo ist Viggie?«, fragte Michelle leise.

Alicia schaute auf die Uhr. »In der Schule. Da ist sie seit acht Uhr.«

»Nein, ist sie nicht, Alicia«, sagte Sean. »Die Lehrerin hat gesagt, heute Morgen habe eine Entschuldigung auf ihrem Schreibtisch gelegen, weil Viggie krank sei.«

Alicia sah die beiden fragend an. »Ich war die ganze Nacht wach und habe versucht, diesem Müll einen Sinn zu entnehmen. Sie hätten eigentlich auf sie aufpassen sollen.«

»Heute Morgen war alles in Ordnung mit ihr«, erklärte Michelle. »Sie ist kurz vor Sonnenaufgang in mein Zimmer gekommen und danach wieder ins Bett gegangen.«

»Und dann?«, hakte Alicia nach.

Sean und Michelle schauten einander an. Verlegen antwortete Sean: »Dann haben wir uns auf den Weg gemacht, um ein paar Spuren zu verfolgen.«

»Und Sie haben Viggie allein gelassen!«, platzte Alicia heraus. »Sie haben das Mädchen allein gelassen! Schon wieder!«

»Wir dachten, Sie wären hier«, erklärte Michelle.

Alicia warf die Papiere in die Luft. »Sie dachten, ich wäre hier? Wie hätte ich denn hier sein sollen, nachdem sie mir diesen Unsinn hier gegeben haben?« Sie atmete tief durch. »Ihr Aufpasser hätte Viggie eigentlich in die Schule bringen sollen. Ich habe einen neuen Mitarbeiter beantragt, nachdem dieser Trottel sie verloren hat, woraufhin sie beinahe ertrunken wäre.«

Sean schaute Alicia neugierig an. »Wen haben Sie denn um diesen Wachmann gebeten?«

»Champ.«

Michelle sagte: »Champ hat mich um neun Uhr heute Morgen für den Flug abgeholt.«

»Wovon reden Sie? Was für ein Flug?«, fragte Alicia wütend.

»Beruhigen Sie sich, Alicia. Viggie ist vielleicht von selbst weggegangen«, sagte Sean.

»Und was ist das letzte Mal geschehen, als sie das getan hat?«

»Sie hat recht, Sean. Ich werde am Fluss nachsehen.«

»Und ich lasse die Anlage vom Sicherheitsdienst durchkämmen«, sagte Sean.

Sean und Michelle gingen eilig hinaus, während Alicia hilflos auf die Papiere starrte, die sie auf den Boden geworfen hatte.

Im Takt des Todes
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