20.

Sean hatte die erste Nacht in Babbage Town abwechselnd mit Schlafen und aus dem Fenster schauen verbracht. Sein Zimmer lag im zweiten Stock des alten Herrenhauses. Aus dem Fenster konnte er über das Gelände hinweg zu Champ Pollions Haus und zur Baracke Nr. 1 schauen, die von der schroffen, einbeinigen Alicia Chadwick geleitet wurde. Die Verzierungen im Herrenhaus hatten etwas Europäisches, und jedes Gästezimmer – das hatte Sean rasch herausgefunden – besaß einen eigenen Computer samt WLAN.

Gegen zwei Uhr morgens sah Sean eine Bewegung neben Champs Haus. Er glaubte zunächst, es sei der Physiker, der dort die Stufen hinauf und durch die Eingangstür ging, doch das Mondlicht war schwach, und so konnte er nicht sicher sein. Dann hörte Sean ein Geräusch, das ihn völlig überraschte. Er riss das Fenster auf.

Ein Flugzeug donnerte vorbei, ein großer Jet, dem Triebwerksgeräusch nach zu urteilen, und der Lärm deutete darauf hin, dass die Maschine im Landeanflug war. Sean beugte sich zum Fenster hinaus, konnte aber nichts sehen, nicht einmal blinkende Lichter am Nachthimmel. Er lauschte noch eine Weile und hörte, wie die Triebwerke auf Umkehrschub geschaltet wurden, um das Flugzeug nach dem Aufsetzen zusätzlich abzubremsen.

Doch wo war die Maschine gelandet? In Camp Peary? Im Waffenlager der Navy? Und warum landete ein großer Jet ohne Lichter und mitten in der Nacht auf der anderen Flussseite?

Gut zwei Stunden später war Sean wieder aufgewacht und hatte sich neben das Fenster gesetzt. Er sah zwei Wachen auf dem Kiesweg. Sie unterhielten sich miteinander und nippten an ihrem Kaffee. Selbst im zweiten Stock konnte Sean das Quäken ihrer Taschenradios hören.

Um fünf Uhr gab Sean den Versuch zu schlafen auf. Er duschte, zog sich an und stieg die Treppe hinunter, einen Tornister über der Schulter. In der breiten Eingangshalle roch es nach Kaffee, Eiern und Speck – Düfte, die aus dem Speisesaal herüberwehten.

Sean frühstückte und nahm einen Styroporbecher Kaffee mit. Beim Sicherheitsposten an der Tür blieb er stehen und zeigte dem Mann seinen Ausweis. Der breitschultrige Posten nickte, sagte aber nichts, als er Seans Ausweis entgegennahm und ihn durch einen Scanner an seinem Computerbildschirm zog.

Offenbar wollen sie ständig darüber informiert sein, wer sich wann wo aufhält, überlegte Sean. Einschließlich des Detektivs, den sie angeheuert haben.

»Haben Sie vorhin auch das Flugzeug landen hören?«, fragte Sean den Posten.

Der Mann antwortete nicht. Er gab Sean wortlos den Ausweis zurück und wandte sich wieder seinem Computermonitor zu.

»Ich liebe dich auch«, murmelte Sean vor sich hin, als er das Haus verließ.

Es war noch dunkel, und Sean stand eine Weile einfach nur da und überlegte, was er tun sollte. Alicia hatte sich wirklich geirrt: Er tat das hier nicht nur des Geldes wegen. Er wollte herausfinden, was mit Monk Turing passiert war. Jedes Kind hatte ein Anrecht darauf zu erfahren, was mit seinen Eltern geschehen war. Und jeder Mörder sollte bestraft werden.

Monk hatte das Land vor acht oder neun Monaten verlassen. Wo war er hingefahren? Wenn er auf normalem Weg verreist war, stand es in seinem Pass. Aber was, wenn er unter falschem Namen oder über ein anderes Land gereist war? War er ein Spion gewesen? Hatte er sich ins Ausland abgesetzt, um die Geheimnisse von Babbage Town für gutes Geld zu verkaufen?

Sean sog die frische Luft ein, die im Gegensatz zu der Luft in Washington frei war von giftigen Abgasen, und lauschte einen Moment auf die huschenden Schritte, die aus dem nahen Wald leise zu ihm herüberklangen. Vermutlich waren es Eichhörnchen oder Hirsche. Menschen machten vollkommen andere Geräusche, wenn sie sich bewegten. Sean hatte gelernt, die Absichten einer Person aus ihren Bewegungen zu deuten. So schwer war das gar nicht. Die meisten Menschen konnten ihre Absichten nicht einmal verbergen, um ihr eigenes Leben zu retten. Wenn es so wäre, wären weit mehr als nur vier amerikanische Präsidenten ermordet worden.

Sean hatte ein paar Kumpel bei den Geiselbefreiern des FBI, die mit den paramilitärischen Einheiten der CIA in Camp Peary trainiert hatten. Diese Einheiten reisten durch die Welt und taten Dinge, über die niemand in der Regierung oder bei der CIA auch nur ein Wort verlor. Mit diesen Burschen wollte Sean sich definitiv nicht anlegen. Aber hatte Turing das getan?

Sean ging weiter und gelangte schließlich zu Len Rivests Haus. Es war noch sehr früh, und Rivest hatte gestern lange gearbeitet, und so beschloss Sean, ihn schlafen zu lassen. Er warf den Kaffeebecher in einen Mülleimer, ging am Sicherheitsbüro vorbei und zu einem flachen, eckigen Gebäude, das eine Garage zu sein schien. Dort wandte er sich dann nach links, wo ein Schild mit der Aufschrift »Bootshaus« einen Kiespfad hinunter wies. Kurz darauf war Sean mitten im Wald.

Es dauerte zwanzig Minuten, bis er das Waldstück hinter sich ließ und zum York River gelangte. Dort lag auch das Bootshaus von Babbage Town an einem Pier, der weit in den tiefen, ruhigen Fluss hinausragte. Es war ein gelb angestrichener Pier aus Zedernholz mit Anlegestellen, die ihrer Tore wegen wie Garagen aussahen. Sean versuchte es an der Tür des Bootshauses, doch sie war verschlossen. Als er durchs Fenster spähte, sah er mehrere Boote. Sean trat auf den Schwimmsteg neben dem Bootshaus, wo ein paar Kanus und zwei Paddelboote vertäut waren. Das Tor einer der Anlegestellen stand offen; im Innern befanden sich mehrere Jetskis. Falls Monk eines dieser Fahrzeuge benutzt hatte, um nach Camp Peary zu gelangen – wer hatte es dann wieder zurückgebracht? Tote Männer waren keine guten Seeleute.

Die Sonne ging auf, und Licht flutete über den ruhigen Fluss. Sean holte ein Fernglas aus seinem Tornister. Das Sonnenlicht ließ den Stacheldraht auf der anderen Seite des Flusses funkeln. Sean ging ans Ufer, die Füße am sandigen Rand, und ließ den Blick über das gegenüberliegende Land schweifen, sah aber nicht viel Interessantes. Ein paar aufgegebene Krabbenkäfige trieben im Wasser. Markierungen für die Fahrrinne ragten aus den Tiefen des York River empor, und ein tief fliegender Reiher auf der Suche nach Futter im schlammigen Wasser glitt scheinbar mühelos durch Seans Sichtfeld.

Sean fragte sich, wo die Landebahn für große Jets sein mochte. Kaum schaute er nach links, sah er sie: Eine Lichtung zwischen den Bäumen ließ einen breiten Grasstreifen erkennen. Die Landebahn musste gleich dahinter beginnen.

Weiter zu seiner Linken ragten große Kräne in den Himmel. Das war Cheatham, überlegte Sean, die Jungs von der Navy. Auf der Fahrt nach Babbage Town hatte er einen grauen Zerstörer am Pier vor dem Waffendepot gesehen. In diesem Gebiet wimmelte es nur so von Militär. Aus irgendeinem Grund tröstete ihn das nicht gerade.

In diesem Moment fiel der Ast vom Baum und traf ihn auf dem Kopf. Sean ging zu Boden – jedoch nicht, weil der Ast ihn verletzt hatte, sondern weil etwas anderes, ungleich Gefährlicheres ihn um Haaresbreite verfehlt hatte. Es musste eine Gewehrkugel gewesen sein. Das Geschoss hatte den Ast unmittelbar über ihm getroffen und abgerissen.

Sean kauerte sich ins hohe Ufergras. Wer zum Teufel hatte auf ihn geschossen? Nach gut einer Minute riskierte Sean einen Blick über den Fluss. Der Schuss musste von dort drüben gekommen sein. Die Frage, die Sean sich nun stellte, lag auf der Hand: Hatte der Schütze ihm nur einen Schreck einjagen wollen und ihn absichtlich verfehlt, oder war die Kugel nicht für den Ast, sondern für seinen Schädel bestimmt gewesen?

Als die nächste Kugel über Seans Kopf hinwegzischte und ihn erneut um nur wenige Zoll verfehlte, war die Frage beantwortet. Wer immer da drüben war, wollte ihn töten.

Sean drückte sich in den Sand, machte sich so flach er konnte.

Er wartete zwei Minuten. Als keine weitere Kugel kam, schob er sich nach hinten und wand sich dabei wie eine Schlange durchs Gras, wenn auch rückwärts. Schließlich erreichte er die Waldgrenze. Hinter einer dicken Eiche stand Sean auf und lief im Zickzack nach Babbage Town zurück.

Als er auf den Weg stieß, eilte er direkt zu Len Rivests Haus. Rivest antwortete nicht auf sein Klopfen, und so stieß Sean die Tür auf und ging einfach hinein.

»Len! Len! Jemand hat gerade auf mich geschossen.«

Im Erdgeschoss war niemand. Sean lief die Treppe hinauf, wobei er immer zwei Stufen auf einmal nahm. Oben angekommen, warf er die erste Tür auf und hielt schwer atmend inne.

Len Rivest lag nackt in der Badewanne, und seine Augen starrten blind an die blassblaue Decke.

Im Takt des Todes
titlepage.xhtml
s01-Titel.xhtml
s02-impressum-2011.xhtml
s03_widmung.xhtml
s04_kap01-23_split_000.xhtml
s04_kap01-23_split_001.xhtml
s04_kap01-23_split_002.xhtml
s04_kap01-23_split_003.xhtml
s04_kap01-23_split_004.xhtml
s04_kap01-23_split_005.xhtml
s04_kap01-23_split_006.xhtml
s04_kap01-23_split_007.xhtml
s04_kap01-23_split_008.xhtml
s04_kap01-23_split_009.xhtml
s04_kap01-23_split_010.xhtml
s04_kap01-23_split_011.xhtml
s04_kap01-23_split_012.xhtml
s04_kap01-23_split_013.xhtml
s04_kap01-23_split_014.xhtml
s04_kap01-23_split_015.xhtml
s04_kap01-23_split_016.xhtml
s04_kap01-23_split_017.xhtml
s04_kap01-23_split_018.xhtml
s04_kap01-23_split_019.xhtml
s04_kap01-23_split_020.xhtml
s04_kap01-23_split_021.xhtml
s04_kap01-23_split_022.xhtml
s05_kap24-53_split_000.xhtml
s05_kap24-53_split_001.xhtml
s05_kap24-53_split_002.xhtml
s05_kap24-53_split_003.xhtml
s05_kap24-53_split_004.xhtml
s05_kap24-53_split_005.xhtml
s05_kap24-53_split_006.xhtml
s05_kap24-53_split_007.xhtml
s05_kap24-53_split_008.xhtml
s05_kap24-53_split_009.xhtml
s05_kap24-53_split_010.xhtml
s05_kap24-53_split_011.xhtml
s05_kap24-53_split_012.xhtml
s05_kap24-53_split_013.xhtml
s05_kap24-53_split_014.xhtml
s05_kap24-53_split_015.xhtml
s05_kap24-53_split_016.xhtml
s05_kap24-53_split_017.xhtml
s05_kap24-53_split_018.xhtml
s05_kap24-53_split_019.xhtml
s05_kap24-53_split_020.xhtml
s05_kap24-53_split_021.xhtml
s05_kap24-53_split_022.xhtml
s05_kap24-53_split_023.xhtml
s05_kap24-53_split_024.xhtml
s05_kap24-53_split_025.xhtml
s05_kap24-53_split_026.xhtml
s05_kap24-53_split_027.xhtml
s05_kap24-53_split_028.xhtml
s05_kap24-53_split_029.xhtml
s06_kap54-83_split_000.xhtml
s06_kap54-83_split_001.xhtml
s06_kap54-83_split_002.xhtml
s06_kap54-83_split_003.xhtml
s06_kap54-83_split_004.xhtml
s06_kap54-83_split_005.xhtml
s06_kap54-83_split_006.xhtml
s06_kap54-83_split_007.xhtml
s06_kap54-83_split_008.xhtml
s06_kap54-83_split_009.xhtml
s06_kap54-83_split_010.xhtml
s06_kap54-83_split_011.xhtml
s06_kap54-83_split_012.xhtml
s06_kap54-83_split_013.xhtml
s06_kap54-83_split_014.xhtml
s06_kap54-83_split_015.xhtml
s06_kap54-83_split_016.xhtml
s06_kap54-83_split_017.xhtml
s06_kap54-83_split_018.xhtml
s06_kap54-83_split_019.xhtml
s06_kap54-83_split_020.xhtml
s06_kap54-83_split_021.xhtml
s06_kap54-83_split_022.xhtml
s06_kap54-83_split_023.xhtml
s06_kap54-83_split_024.xhtml
s06_kap54-83_split_025.xhtml
s06_kap54-83_split_026.xhtml
s06_kap54-83_split_027.xhtml
s06_kap54-83_split_028.xhtml
s06_kap54-83_split_029.xhtml
s07_kap84-autor_split_000.xhtml
s07_kap84-autor_split_001.xhtml
s07_kap84-autor_split_002.xhtml
s07_kap84-autor_split_003.xhtml
s07_kap84-autor_split_004.xhtml
s07_kap84-autor_split_005.xhtml
s07_kap84-autor_split_006.xhtml
s07_kap84-autor_split_007.xhtml
s07_kap84-autor_split_008.xhtml
s07_kap84-autor_split_009.xhtml
s07_kap84-autor_split_010.xhtml
s07_kap84-autor_split_anmerkungen.xhtml
s07_kap84-autor_split_011.xhtml
s07_kap84-autor_split_012.xhtml
s07_kap84-autor_split_013.xhtml