86.

Das Sturmboot traf auf die Welle, schoss sie geradewegs hinauf und flog durch die Luft. Seine Doppelschrauben kreischten, als sie sich aus dem Wasser hoben. Dann prallte das Boot wieder auf die Wasseroberfläche.

»Passt auf!«, rief Valerie Messaline auf dem verfolgenden Boot. Sie hatte offensichtlich erkannt, was Whitfield gemacht hatte.

Michelle schaute gerade noch rechtzeitig zurück, um sie und einige Männer vom Boot springen zu sehen. Der Steuermann versuchte, die Stelle zu umfahren, über die Whitfield gesprungen war, doch es war zu spät. Das Boot traf auf die Mine und explodierte.

Whitfield machte sofort eine enge Wende und schoss wieder aus dem toten Arm hinaus, vorbei an Messaline und ihren Männern, die verzweifelt versuchen, ihre Körperpanzerung loszuwerden, um nicht in die Tiefe gezogen zu werden.

»Wie haben Sie das gemacht?«, fragte Sean erstaunt.

Whitfield tippte auf den Bildschirm vor sich. »Das ist leicht, wenn man weiß, wo die Minen liegen. Gestern habe ich die Position von einer ändern lassen. Ich bin gerne auf alle Eventualitäten vorbereitet.«

Das Sturmboot jagte wieder auf den York hinaus. Keiner von ihnen sah den Start der Rakete von einem der Patrouillenboote. Das Geschoss verfehlte sie um Haaresbreite. Fast wäre das Sturmboot von der Wucht der Explosion gekentert, als die Rakete nur gut zehn Meter entfernt ins Wasser schlug; doch Whitfield gelang es, das Boot wieder unter Kontrolle zu bekommen. Inzwischen regnete es in Strömen. Sean und Michelle rann das Wasser übers Gesicht, während sie sich langsam auf ihre zitternden Beine erhoben.

Michelle schaute sich um. »Viggie! Horatio!«

Sie blickten nach hinten. Viggie hüpfte in ihrer Rettungsweste bereits fünfzig Meter entfernt im Wasser. Links von ihr ruderte Horatio wild mit den Armen und ging unter.

Michelle zögerte nicht. Sie schnappte sich einen Rettungsring, sprang vom Boot und schwamm zu Horatio. Sie sah nicht, dass Sean von der anderen Seite des Bootes sprang und auf Viggie zuhielt. Michelle erreichte Horatio und drückte ihm den Rettungsring in die Hand. »Alles in Ordnung, Horatio. Keine Panik. Schaffst du es bis zum Boot, während ich Viggie hole?«

Er nickte, und Michelle schwamm zu Viggie. Was sie sah, als sie sich dem Mädchen näherte, traf sie wie ein Schlag: Viggie wurde in ein Boot gehievt, das von Männern aus Camp Peary gesteuert wurde. Michelle kniff die Augen zusammen, um im Regen und der Dunkelheit besser sehen zu können, und ihre Aufmerksamkeit fiel auf ein anderes Spektakel. Zwei Männer auf dem Boot zielten auf Sean, der noch immer verzweifelt versuchte, Viggie zu erreichen.

»Nein!«, schrie Michelle, doch sie konnte nichts tun.

Einen Augenblick später hörte sie das Geräusch hinter sich. Sie drehte sich um und sah Whitfields Boot schnell auf sich zukommen. Horatio war bereits an Bord. Als das Boot näher kam, sah Michelle, wie Whitfield das Ruder an Horatio übergab. Dann beugte der Chef von Camp Peary sich über die Seite des Sturmboots und schob sein Bein durch eine Bungeeschlinge am Dollbord. Er streckte die Hand aus. Michelle wusste sofort, was er vorhatte. In ihrer Zeit beim Secret Service hatte sie dieses Manöver einmal bei einer gemeinsamen Übung mit dem FBI trainiert. Als das Boot an ihr vorbeiraste, streckte sie den Arm aus und ergriff Whitfields Hand. Der Mann packte sie mit eisernem Griff, während die Geschwindigkeit des Bootes sie aus dem Wasser und direkt aufs Deck riss. Michelle machte sich nicht einmal die Mühe, ihm zu danken. Sie rappelte sich auf, schnappte sich eine Waffe und richtete sie auf das andere Boot.

Michelle wusste, dass Viggie an Bord war; also konnte sie nicht direkt auf die Männer feuern, doch es gelang ihr, fünf Schüsse in rascher Folge abzugeben. Die Männer wurden gezwungen, sich zu ducken, sodass Sean eine Chance zur Flucht hatte.

»Näher ran, dann schnappen wir ihn uns!«, rief Michelle.

»Ich glaube nicht, dass ich das kann«, erwiderte Horatio vom Steuer her.

Michelle sprang zum Ruder, während Whitfield sich wieder übers Dollbord legte. Als das Sturmboot an Sean vorbeiraste, wurde auch er aus dem Wasser und auf Deck gerissen.

»Vollgas!«, rief Whitfield.

»Was ist mit Viggie?«, schrie Michelle zurück.

»Weg hier, oder wir sind tot!«

Michelle rammte den Gashebel nach vorne. Das Sturmboot beschleunigte so vehement, dass Sean und Horatio fast wieder über Bord gefallen wären.

Michelle rief über das Heulen des Sturms hinweg: »Wir trommeln eine Armee zusammen, und dann setzen wir über diesen verdammten Fluss und holen Viggie zurück!«

Sie lenkte das Sturmboot ans Ufer auf der anderen Seite des York. Sie sprangen von Bord und liefen zum Eingang von Babbage Town. Doch kaum zeigten sie sich, waren sie von Agenten umringt. Merkle Hayes trat vor. Er trug keine Polizeiuniform, sondern eine blaue Windjacke mit der Aufschrift »DEA«. Agent Ventris stand neben ihm.

Sean starrte Hayes an. »DEA? Sie sind bei der Drogenfahndung?«

»Das ist eine lange Geschichte«, sagte Hayes.

»Haben Sie die Leute zusammengetrieben?«, fragte Michelle.

»Wen?«, entgegnete Ventris wütend. »Hier ist niemand außer ein paar Sicherheitsleuten.«

»Hier hat es von CIA-Leuten in Körperpanzern nur so gewimmelt«, sagte Sean.

»Jetzt sind sie jedenfalls nicht mehr hier.«

»Wir hatten gerade ein Feuergefecht auf dem Fluss. Man hat sogar eine Rakete auf uns abgefeuert. Wollen Sie mir etwa sagen, Sie haben nichts davon gehört?«, fragte Michelle ungläubig.

»Seit wir hier sind«, sagte Hayes, »hat fast ständig eine Sirene geheult. Wir haben das verdammte Ding gerade erst abstellen können. Bei dem Geheul und dem Sturm haben wir tatsächlich nichts gehört.«

»Haben Sie wenigstens das mit Drogen beladene Flugzeug auf dem Privatflugplatz gefunden?«, fragte Michelle.

Hayes schüttelte den Kopf. »Als meine Männer dort ankamen, haben sie weder das Flugzeug noch Champ Pollion gefunden.«

»Von was für Drogen reden Sie?«, fragte Ventris.

Als Antwort griff Michelle in ihre Tasche und holte das nasse Päckchen heraus. »Die hier. Davon war mindestens eine Tonne in Champs Flieger. Heroin.«

Hayes nahm den Beutel. »Und wo ist das her?«

Sean deutete zum Fluss. »Von da drüben. Aus Camp Peary.«

In diesem Augenblick stieg auf der anderen Seite des York ein Feuerball zum Himmel.

»Was ist das?«, rief Ventris.

»Verdammt!«, stieß Michelle hervor. »Das Flugzeug, das ich vorhin über uns habe hinwegfliegen hören. Ich wette, das war Champ. Er muss geflohen und mit den Drogen nach Camp Peary geflogen sein. Sie haben es gesprengt, um die Beweise zu vernichten.«

»Soll das heißen, die Drogen kamen tatsächlich aus Camp Peary?«, fragte Hayes, während Michelle nervös Ventris beäugte.

»Sagen Sie es ihnen, Whitfield«, sagte Sean.

Nur, dass Whitfield nicht da war.

»Wo ist er hin?«, stieß Sean hervor. »Whitfield war bei uns! Er hat mir das Leben gerettet!«

»Das stimmt«, bestätigte Michelle, und auch Horatio nickte zustimmend.

»Sie müssen uns glauben, Hayes«, sagte Sean.

»Das wollen wir ja«, erwiderte Hayes leise.

»Moment mal …« Sean holte die Videokamera aus seinem Rucksack. »Sehen Sie sich das an.« Er ließ das Band ablaufen und wies die beiden Beamten auf das Flugzeug, die Araber, Valerie Messaline und die Ballen hin, die ausgeladen wurden.

Ventris sagte: »Die Aufnahmen stammen tatsächlich aus Camp Peary. Wie sind Sie da herangekommen?«

»Was das betrifft, könnten wir eine Amnestie brauchen«, erwiderte Sean nervös.

Michelle schob sich an Sean vorbei, bis sie direkt vor Ventris stand. »Hören Sie zu«, sagte sie wütend. »Diese Leute haben Viggie Turing entführt. Sie haben das Mädchen in eines ihrer Boote gehievt und sind jetzt vermutlich auf dem Weg zurück nach Camp Peary.«

»Haben Sie das gesehen?«, fragte Hayes.

»Ja!«, rief Michelle und packte Ventris’ Jacke. »Entführt! Wie war das noch mit der FBI-Spezialität? Gehen wir!«

»Wir können nicht einfach Camp Peary stürmen«, sagte Hayes. »Wir brauchen zumindest einen Durchsuchungsbefehl.«

»Dann besorgen Sie einen! Sie sind hier der Sheriff!«

Hayes seufzte. »Nein, bin ich nicht«, sagte er. »Ich gehöre tatsächlich zur Drogenfahndung. Seit zwei Jahren arbeitet Mike mit uns zusammen. Ich bin hier nur als Sheriff eingeschleust worden.«

»Warum gerade hier?«, fragte Michelle.

»Weil in den letzten Jahren eine Menge Drogen an die Ostküste gelangt sind. Wir haben die Quelle auf dieses Gebiet hier eingegrenzt«, meldete Ventris sich zu Wort. »Wir haben sogar Babbage Town selbst für die Quelle gehalten, aber wir wussten nicht, wie die Dealer den Stoff ins Land bekommen. Wir dachten, er käme mit dem Boot.«

»Sie müssen doch gewusst haben, dass Champ Pollion ein Flugzeug hat«, sagte Sean.

»Das wussten wir auch. Aber die Cessna hatte nicht die Reichweite, um Drogen von außerhalb reinzubringen. Und wir wollten an die Quelle heran«, erklärte Hayes.

»An die CIA-Flüge haben wir nie gedacht. Die CIA ist eine Regierungsbehörde«, fügte Ventris hinzu und schaute verlegen drein.

Michelle schnappte sich Seans Band und drückte es Ventris in die Hand. »Hier ist Ihr verdammter Beweis. Und jetzt hören Sie mit dem Gelaber auf. Besorgen Sie sich einen Durchsuchungsbeschluss, und schaffen Sie so viele Cops wie möglich über den Fluss, ehe Viggie etwas passiert. Ich schwöre bei Gott: Wenn ihr etwas zustößt, werde ich Sie jagen und Ihnen die Scheiße aus dem Leib prügeln.«

Ohne zu zögern, sagte Ventris: »Gehen wir.«

»Mike«, gab Hayes noch einmal zu bedenken. »Es ist die verdammte CIA

»Mehr als es versuchen können wir nicht.«

Im Takt des Todes
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