22.

Genau um ein Uhr morgens hörte Michelle wieder Schritte. Sie stand auf und schlüpfte zur Tür hinaus. Sie würde schon herausfinden, was Barry der Spanner im Schilde führte. Michelle betete, dass es eine Straftat war.

Sie machte sich auf den Weg den abgedunkelten Flur hinunter und versuchte, die Geschwindigkeit der leisen Schritte vor sich abzuschätzen. Wo der Gang nach rechts abbog, blieb sie stehen, spähte um die Ecke und sah ein Licht in einem Zimmer am Ende des Flurs. Sie schob sich weiter vor, bis sie sah, um welchen Raum es sich handelte. Es war die Stationsapotheke, in der sich irgendjemand aufhielt. Als eine Gestalt im Glasfenster der Tür erschien, erkannte Michelle, dass es sich nicht um Barry handelte, sondern um den kleinen Mann, den sie zuvor schon einmal dort gesehen hatte.

Was tut der Bursche da?, fragte sich Michelle. Er war ein bisschen spät, um Medikamente zu verteilen.

Noch als sie dort stand, erschien eine weitere Gestalt neben der Tür zur Apotheke. Diesmal war es Barry. Er schaute sich vorsichtig um, ging dann hinein und schloss die Tür hinter sich.

Michelle schlich so nahe heran, wie sie es wagte, um besser sehen zu können. Und dann traf die Erkenntnis sie wie ein Schlag. Warum war Barry um diese Uhrzeit überhaupt hier? Er hatte gerade erst Tagschicht gehabt. Michelle wusste inzwischen, dass das Personal Zwölfstundenschichten fuhr und dass der Wechsel jeweils um acht Uhr morgens und um zwanzig Uhr abends stattfand. Barry hatte seit fünf Stunden dienstfrei.

Michelle hörte es, bevor sie etwas sah: das leise Quietschen von Gummi auf Linoleum. Zunächst glaubte sie, es seien die Sneaker, die von den Krankenschwestern getragen wurden, doch dann sah sie den Rollstuhl. Sandy war voll angekleidet, und ihre Hände trieben schwungvoll die Räder an. Dann stoppte sie, den Blick aufmerksam auf die Apothekentür gerichtet. Als Sandy plötzlich den Kopf herumriss und in die andere Richtung schaute, zog Michelle sich blitzschnell zurück. Eine Minute später, als sie wieder einen Blick um die Ecke wagte, war Sandy verschwunden. Kurz darauf verließ auch Barry die Stationsapotheke, gefolgt von dem anderen Mann, der hinter sich abschloss. Glücklicherweise gingen sie in die Michelle entgegengesetzte Richtung davon.

Kaum waren die Schritte der beiden Männer verhallt, trat Michelle aus den Schatten und näherte sich vorsichtig der Apotheke. Sie war erstaunt, dass Barry und der andere Mann den Raum mit leeren Händen verlassen hatten. Was ging hier vor?

Dann richtete Michelle ihre Aufmerksamkeit auf den anderen Gang, der zu Sandys Zimmer führte. Langsam und mit kleinen, leisen Schritten bewegte sie sich den Flur hinunter und drückte sich dabei an die Wand. Schließlich erreichte sie Sandys Zimmer. Michelle spähte durch das kleine Fenster in der Tür und sah Sandys schemenhafte Gestalt auf dem Bett liegen. Doch so schnell konnte Sandy unmöglich eingeschlafen sein; offenbar tat sie nur so, als würde sie schlafen. Aber warum hatte sie die Stationsapotheke beobachtet? Gehörte das zu Barrys Plan – was immer dieser Mistkerl im Schilde führte? Michelle wollte es nicht glauben, konnte die Möglichkeit aber auch nicht ausschließen.

Sie schlich in ihr eigenes Zimmer zurück und legte sich aufs Bett, fand aber keinen Schlaf, sondern wälzte sich unruhig hin und her, während ihr die verschiedensten Erklärungen für ihre Beobachtungen durch den Kopf gingen. Doch jede dieser Theorien war unwahrscheinlicher als die vorherige.

Nachdem sie schließlich doch noch ein paar Stunden Schlaf gefunden hatte, ging Michelle müde zum Frühstück hinunter, nahm dann an einer weiteren Gruppensitzung teil, die Horatio für sie arrangiert hatte, und begab sich anschließend geradewegs zu Sandys Zimmer. Doch Sandy war nicht allein. Ein Arzt, zwei Krankenschwestern und ein Wachmann standen um ihr Bett. Sandy schlug um sich und stöhnte.

»Was ist mit ihr?«, fragte Michelle erschrocken.

Eine der Krankenschwestern drehte sich zu ihr um. »Gehen Sie sofort wieder in Ihr Zimmer zurück«, sagte sie streng.

»Erst will ich wissen, was mit Sandy ist«, erwiderte Michelle.

Der Wachmann trat drohend auf sie zu. »Verschwinden Sie«, sagte er. »Sofort.«

Michelle drehte sich um und ging – aber nur bis zu einer dunklen Nische in der Nähe.

Ein paar Minuten später wurde ihre Hartnäckigkeit belohnt, als die Gruppe Sandys Zimmer verließ und an ihrem Versteck vorbeikam. Sandy lag angeschnallt auf einer Rollbahre und hatte eine Infusion im Arm. Sie rührte sich nicht, lag offenbar im Medikamentenschlaf.

Michelles Secret-Service-Ausbildung schlug Alarm, und sie ließ den Blick von Sandys Arm zu den Händen wandern. Was sie dort sah, verwirrte sie zutiefst. Sandy hatte stets großen Wert auf ein gepflegtes Äußeres gelegt.

Michelle wartete, bis die Gruppe außer Sicht war, huschte dann in Sandys Zimmer und schloss die Tür hinter sich. Sie fühlte sich ein wenig schuldig, weil sie Sandys Krankheit dazu nutzte, ihr Zimmer zu durchsuchen, aber es ging nicht anders. Außerdem dauerte es nicht lange, denn Sandy hatte nur wenige persönliche Dinge mitgebracht. Was Michelle jedoch verwunderte, war etwas, das sie nicht sah: Es gab keine Fotos von Freunden oder Verwandten. Andererseits hatte auch Michelle keine solchen persönlichen Dinge mitgebracht. Doch nachdem Sandy so liebevoll von ihrem verstorbenen Mann erzählt hatte, hätte man eigentlich damit rechnen können, wenigstens ein Foto von ihm zu finden. Aber vielleicht wollte Sandy angesichts der schrecklichen Umstände seines Todes nicht ständig daran erinnert werden.

Michelle schaute sich weiter im Zimmer um, bis ihr Blick auf dem Blumenstrauß haften blieb. Sie schaute sich den Nachttisch genauer an, auf dem der Strauß stand, und fuhr mit dem Finger durch die dünne Staubschicht. Dann richtete sie den Blick auf den Boden, wo sie ebenfalls feine Staubpartikel entdeckte. Genau das hatte Michelle auch an Sandys Händen so verwirrt: Sie waren schmutzig gewesen, als hätte Sandy …

Michelle huschte durchs Zimmer und drückte sich neben der Tür an die Wand, als sie draußen jemanden hörte. Sie hielt den Atem an, als die Tür sich langsam öffnete.

Als der Unbekannte ins Zimmer kam und zum Bett ging, schlüpfte Michelle auf den Gang hinaus. Ein hastiger Blick über die Schulter zeigte ihr, dass es Barry war, der sich auf Sandys Bett zubewegte.

Michelle rannte den Flur hinunter zur Schwesternstation. »Ich habe gerade jemanden in Sandys Zimmer schleichen sehen!«, sagte sie atemlos zur Dienst habenden Schwester. »Ich glaube nicht, dass er dort sein sollte, denn Sandy ist krank.« Die Schwester stand sofort auf und eilte den Gang hinunter.

Michelle floh in ihr eigenes Zimmer und wäre beinahe mit Cheryl zusammengestoßen, die gerade mit einem Strohhalm im Mund zur Tür herauskam. Michelle versuchte, diese Chance zu nutzen, denn sie wollte jetzt nicht allein sein, falls Barry es ihr heimzahlen wollte, weil sie ihn verpfiffen hatte.

»Hallo, Cheryl. Hast du Lust auf ein Schwätzchen?«

Cheryl hörte auf zu nuckeln und schaute Michelle an, als sähen sie sich zum ersten Mal.

Michelle sagte rasch: »Ich meine … wir teilen uns immerhin ein Zimmer, da sollten wir uns näher kennen lernen. Außerdem sagt man uns allen ja immer wieder, dass wir versuchen sollen, Beziehungen aufzubauen, als eine Art Therapie … ein bisschen Seelenerkundung von Frau zu Frau.«

Michelles Worte waren so offensichtlich an den Haaren herbeigezogen, dass Cheryl einfach an ihr vorbeiging und lautstark an ihrem Strohhalm saugte. Michelle schlüpfte ins Zimmer und drückte sich gegen die Tür.

Zwanzig Minuten vergingen, und Barry kam nicht. Michelle fürchtete sich nicht körperlich vor dem Mann. Sie hatte ihn schon als typischen Schläger eingestuft, der sofort die Flucht ergreifen würde, wenn ihn ein härterer Schlag traf, als er ausgeteilt hatte. Aber er konnte Michelle noch auf andere Art wehtun – indem er Vorwürfe gegen sie erhob. Oder er schob ihr irgendwelche gestohlenen Medikamente unter. Was würde dann passieren? Würde man sie dann gegen ihren Willen hier festhalten? Musste sie dann ins Gefängnis? Michelle ließ das Kinn auf die Brust sinken, als eine Woge aus Furcht und Schmerz sie durchflutete.

Sean, hol mich von hier weg!

Und dann fiel ihr das Offensichtliche wieder ein: Sie war freiwillig hier. Sie hatte sich selbst eingewiesen; also konnte sie sich auch selbst wieder entlassen. Sie konnte sofort gehen. Sie konnte in die Wohnung, die Sean für sie beide besorgt hatte, sich dort einen Tag entspannen und dann zu ihm nach Virginia fahren. Vermutlich würde er ihre Hilfe ohnehin längst brauchen. Irgendwann brauchte Sean sie jedes Mal bei einem Fall.

Michelle stürmte zur Tür hinaus und hätte fast die Krankenschwester über den Haufen gerannt, die dort stand.

Michelle blinzelte und trat einen Schritt zurück. »Ja?«

»Sandy will Sie sehen«, sagte die Schwester.

»Wie geht es ihr?«

»Ihr Zustand hat sich stabilisiert. Sie will mit Ihnen reden.«

»Was stimmt nicht mit ihr?«

»Ich fürchte, darüber darf ich nichts sagen.«

Natürlich darfst du das nicht.

Michelle ballte vor Zorn die Fäuste, als sie der Frau den Flur hinunter folgte. Dann schritt sie schneller aus. Sie wollte Sandy sehen. Sie wollte Sandy unbedingt sehen.

Im Takt des Todes
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