72.

Später an diesem Morgen rief Horatio aus zwei Gründen bei South Freeman an. Zum einen wollte er wissen, ob der Mann eine Liste der deutschen Kriegsgefangenen von Camp Peary im Zweiten Weltkrieg hatte.

Freeman lachte lauthals auf. »Ja, klar, die liegt hier vor mir auf dem Tisch. Da das Pentagon sie mir nicht geben wollte, bin ich mal bei der CIA vorbeigegangen, und die haben mir dann eine schöne Kopie davon gemacht und mich gefragt, ob sie mir nicht vielleicht noch ein paar andere Geheiminformationen geben können.«

»Ich interpretiere das jetzt einmal als ein nachdrückliches Nein«, sagte Horatio. Dann fragte er Freeman, ob er jemanden bei einer Zeitung in Tennessee kenne, ungefähr in dem Gebiet, wo Michelle aufgewachsen war. Mit dieser Frage stieß Horatio auf Gold.

»Da gibt es einen Mann mit Namen Toby Rucker. Er hat eine Wochenzeitung in einem kleinen Ort gut eine Stunde südlich von Nashville.« Als Freeman den Ort nannte, wäre Horatio fast vom Stuhl gesprungen. Das war genau der Ort, wo Michelle gewohnt hatte.

»Weshalb wollen Sie das wissen?«, fragte Freeman.

»Ich habe ein paar Fragen betreffs des Verschwindens von jemandem da unten. Das ist jetzt fast dreißig Jahre her.«

»Toby ist vierzig Jahre da. Wenn die Sache in der Zeitung war, wird er das also wissen.« Freeman gab Horatio die Telefonnummer und fügte hinzu: »Ich werde ihn sofort anrufen und ihm sagen, dass Sie Kontakt mit ihm aufnehmen werden.«

»Das weiß ich sehr zu schätzen, South.«

»Das sollten Sie auch. Und vergessen Sie unsere Abmachung nicht. Exklusiv! Sonst drehe ich Ihnen den Hals um.«

»Sicher.« Horatio legte auf, wartete zwanzig Minuten und rief dann bei der Nummer in Tennessee an.

Ein Mann, der sich mit Toby Rucker meldete, nahm nach dem zweiten Klingeln ab. South Freeman habe gerade erst aufgelegt, sagte Rucker. Horatio erklärte ihm seine Bitte, und Rucker sagte, er werde sich darum kümmern.

Als Horatio wieder auflegte, hörte er ein Geräusch von oben. Er steckte den Kopf zum Fenster hinaus. Ein Helikopter knatterte über Babbage Town. Als er davonflog, dachte Horatio an Michelle, die mehrere tausend Fuß in der Luft und bei einem Mann war, dem Sean King offenbar misstraute – derart offensichtlich sogar, dass er Horatio um einen besonderen Gefallen gebeten hatte, den dieser ihm auch gewährt hatte.

»Komm heil wieder zurück, Michelle«, murmelte Horatio vor sich hin. »Es gibt noch immer viel, worüber wir reden müssen.«

Der Start war vollkommen glatt verlaufen. Die Cessna Grand Caravan war sehr geräumig und luxuriös und bot Platz für vierzehn Insassen einschließlich Pilot und Copilot. Auch verfügte das Flugzeug über die modernsten Navigations- und Funkanlagen, versicherte Champ seinem Fuggast.

»Nehmen Sie viele Leute mit nach oben?«, fragte Michelle.

»Ich bin gern allein«, antwortete Champ, fügte aber rasch hinzu: »Ich kann hier gut nachdenken.«

Michelle drehte sich zu den leeren Passagiersitzen um. »Dann ist das alles ja reine Platzverschwendung.«

»Wer weiß. Wenn alles gut läuft, werde ich mir vielleicht meinen eigenen Jet kaufen können.«

»Sie kommen mir gar nicht so materialistisch vor.«

Er zuckte mit den Schultern. »Bin ich eigentlich auch nicht. Ich bin in die Wissenschaft gegangen, weil es mir Spaß gemacht hat, Dinge zu enträtseln. Aber es wird immer komplizierter, und damit meine ich nicht die Wissenschaft …« Er verstummte.

»Kommen Sie schon, Champ. Reden Sie mit mir.«

Champ schaute aus dem Fenster. »Quantencomputer können sehr viel Gutes bewirken, aber auch Schreckliches anrichten.«

»Der Mann, der die Atombombe erfunden hat, hat sich bestimmt die gleichen Gedanken gemacht«, bemerkte Michelle.

Champ schauderte. »Können wir bitte das Thema wechseln?«

»Okay. Zeigen Sie mir ein bisschen von dem, was die Kiste kann.«

Champ ließ den Jet einen steilen Aufstieg machen – ein Manöver, das die Maschine spielend bewältigte. Anschließend lenkte Champ die Cessna durch mehrere kontrollierte Sturzflüge, flog enge Kurven und machte sogar eine Fassrolle. Nichts davon machte Michelle etwas aus. Sie war schon so ziemlich mit allem geflogen, was zwei Flügel hatte, und das unter den widrigsten Umständen.

Champ deutete zum Fenster hinaus. »Das berüchtigte Camp Peary. Näher können wir nicht heran, ohne abgeschossen zu werden.«

»Können wir denn wenigstens ein wenig niedriger gehen?«

Champ ließ die Maschine auf zweitausend Fuß sinken und wendete zu einem erneuten Vorbeiflug. Michelle konzentrierte sich auf die Topografie und prägte sich so viele Details ein, wie sie konnte. »Und näher können wir wirklich nicht heran?«

»Das hängt davon ab, wie risikofreudig Sie sind.«

»Ziemlich. Im Gegensatz zu Ihnen, nehme ich an.«

»Komisch, seit ich Sie kennen gelernt habe, hat sich das geändert.«

Er zog den Steuerknüppel nach links und verringerte die Geschwindigkeit. Die Maschine flog auf geradem Kurs fast genau den Lauf des York River entlang.

»Das ist jetzt wirklich so nah, wie wir rankommen können, ohne eine Rakete abzubekommen«, sagte er.

Michelle sah die Anlegestelle, von der aus Ian Whitfield vermutlich mit seinem Sturmboot abgelegt hatte. Daneben schienen die Bunker zu sein, die Sean ihr auf dem Satellitenbild gezeigt hatte. Aus der Luft sahen sie wie eine Reihe von Betonwürfeln aus. Im Norden lag der tote Arm des York, der Camp Peary in zwei Teile zu schneiden schien. Als Nächstes wanderte Michelles Blick über die alten Viertel, die South Freeman beschrieben hatte. Im Süden von Camp Peary wiederum lag das Versorgungszentrum der Navy mitsamt dem dazugehörigen Waffenlager.

»Die Bundesregierung hat dieses Areal so ziemlich abgeriegelt«, bemerkte sie.

»Ja.« Champ flog nach rechts, ostwärts über den York, wobei er eine konstante Höhe von zweitausend Fuß hielt und einige der malerischsten Landschaften überquerte, die Michelle je gesehen hatte.

»Das ist wunderschön.«

»Ja, das ist es«, sagte Champ und starrte sie an. Dann wandte er sich abrupt ab.

»Kommen Sie schon, Champ. Das Mädchen ist diejenige, die erröten muss.«

Er schaute wieder zum Fenster hinaus. »Ich habe Monk auch einmal mit hoch genommen.«

»Wirklich? Wollte er etwas Bestimmtes sehen?«

»Eigentlich nicht. Obwohl er ziemlich tief über den Fluss fliegen wollte.«

Um Camp Peary auszukundschaften, ging es Michelle durch den Kopf. Genau wie ich.

»Äh … würden Sie gerne mal das Steuer übernehmen?«

Michelle nahm den Steuerknüppel vor sich und lenkte zuerst nach links, dann nach rechts. »Können wir ein wenig steigen?«

»Sie können bis auf achttausend Fuß rauf. Aber bitte langsam.« Michelle zog die Flugzeugnase hoch und ging bei achttausend Fuß wieder in den Horizontalflug über.

»Wie wäre es mit einem kontrollierten Sturzflug?«, fragte sie. »So wie Sie vorhin?«

Champ wirkte ein wenig nervös. »Oh … sicher … okay.«

Michelle drückte den Steuerknüppel nach vorne, und die Nase des Flugzeugs senkte sich. Dann drückte sie die Maschine noch ein wenig mehr nach unten. Michelle sah, wie die Erde beänstigend schnell auf sie zukam, hielt den Steuerknüppel jedoch nach vorne gedrückt. Plötzlich blitzten Albträume in ihrem Geist auf, die seit fast drei Jahrzehnten an ihr genagt hatten. Ein Kind … wie versteinert … aber was für ein Kind? Sie? Selbst vor ihrem geistigen Auge konnte sie dessen nicht sicher sein, und doch war der Schrecken, den sie empfand, vollkommen real.

Inzwischen schossen sie geradewegs nach unten, doch Michelle schien weder das schnell fallende Höhenmeter zu bemerken noch die Warntöne im Cockpit. Auch sah sie nicht, dass Champ mit aller Gewalt versuchte, den Steuerknüppel auf seiner Seite der Pilotenkanzel zu sich zu ziehen, und sie hörte auch nicht, dass er sie anschrie, sie würde das Flugzeug zum Absturz bringen, wenn sie den Sturzflug nicht beendete. Doch Michelle konnte den Steuerknüppel einfach nicht loslassen. Sie war wie elektrisiert. Sie hörte sich selbst sagen: »Leb wohl, Sean.«

Schließlich hörte sie durch den Nebel in ihrem Kopf endlich doch Champs Ausruf: »Loslassen!«

Michelle schaute zur Seite und sah einen kreidebleichen Champ, der mit aller Gewalt am Steuerknüppel riss, um die Maschine aus dem tödlichen Taumel zu befreien. Michelle riss die Hände vom Steuerknüppel, und es gelang Champ, das Flugzeug wieder in den Horizontalflug zu bringen. Dann legte er eine holprige Landung hin. Zweimal sprangen die Reifen auf, bis sie endlich sicher auf dem Boden waren.

Sie hielten an. Mehrere Minuten lang hörte Michelle nur das angestrengte Atmen des Mannes neben ihr. Schließlich schaute Champ sie an. »Alles in Ordnung?«

Michelle spürte, wie ihr die Galle hochkam. »Wenn man bedenkt, dass ich uns beide gerade fast umgebracht hätte, geht es mir ganz gut.«

»Ich habe schon öfter gesehen, wie Leute am Steuerknüppel förmlich erstarren. Tut mir leid, ich hätte Ihnen nicht die Kontrolle überlassen dürfen.«

»Sie haben nichts falsch gemacht. Es tut mir leid.«

Sie gingen gerade vom Flugzeug zu Champs Mercedes, als neben ihnen ein Motorrad hielt. Es war Horatio Barnes’ Harley. Der Fahrer nahm den Helm ab. Es war Sean King. »Ein wunderschöner Tag zum Fliegen, nicht wahr?«, sagte er.

»Was machst du denn hier?«, fragte Michelle.

Er warf ihr einen Ersatzhelm zu. »Lass uns fahren.«

»Danke für die Flugstunde, Champ. Ich fürchte, ich bin nicht mehr so recht in Stimmung für ein Mittagessen.« Sie stieg hinter Sean auf das Motorrad.

Nachdem sie den Privatflugplatz verlassen hatten und nach ein paar Minuten auf der Straße, bat Michelle Sean anzuhalten.

»Stimmt was nicht?«

»Tu es einfach«, drängte sie.

Sean fuhr an den Straßenrand, und Michelle sprang hinter einen Baum und übergab sich.

Eine Minute später kam sie kreidebleich zurück und wischte sich den Mund ab. Langsam stieg sie wieder aufs Bike.

»Waren die Himmel unfreundlich zu dir?«, fragte Sean.

»Nein«, antwortete sie träge, »nur ein kleiner Pilotenfehler. Was machst du hier eigentlich auf Horatios geliebter Harley?«

»Nur eine Spazierfahrt.«

»Und dabei bist du rein zufällig zu dem Privatflugplatz gekommen? Und das auch noch just in dem Augenblick, als wir gelandet sind?«

Sean drehte sich um und sagte wütend: »Du nennst das eine Landung? Ihr seid im Sturzflug runtergekommen. Ich dachte schon, das verdammte Propellertriebwerk wäre ausgefallen. Ich bin wie ein Bekloppter auf die Landebahn gerast und hatte schon Angst, deine Überreste vom Asphalt kratzen zu müssen! Was ist da oben passiert?«

»Irgendein Triebwerkproblem. Champ hat es behoben.« Michelle fühlte sich schrecklich, weil sie ihn anlog, doch sie hätte sich noch schlechter gefühlt, hätte sie ihm die Wahrheit erzählt. Und was war überhaupt die Wahrheit? Dass sie wie erstarrt gewesen war und dabei sich und einen Unschuldigen fast getötet hatte?

»Hast du gerade nicht etwas von einem Pilotenfehler gesagt?«

»Vergiss es einfach«, sagte Michelle. »Jede Landung, die man überlebt, ist perfekt.«

»Entschuldige, dass ich mir Sorgen um dich mache.«

»Und du bist also die ganze Zeit mit dem Motorrad durch die Gegend gefahren und hast uns beim Fliegen beobachtet?«

»Ich hab dir doch gesagt: Ich will nicht, dass du mit dem Kerl raufgehst.«

»Hast du geglaubt, ich könne nicht auf mich selbst aufpassen?«

»Fang jetzt nicht mit diesem Mist an. Ich war nur …«

Sie schlug ihm auf den Helm. »Sean?«

»Was?«

»Danke.«

»Gern geschehen.«

Sie fuhren weiter.

Michelle klammerte sich an Seans Weste. Sie wollte nicht loslassen. In ihrem ganzen Leben hatte sie sich noch nie so sehr gefürchtet. Und diesmal fürchtete sie sich nicht vor irgendeinem äußeren Feind. Sie fürchtete sich vor sich selbst.

Im Takt des Todes
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