91.
Am nächsten Tag wurden Sean und Michelle getrennt in ein Privatkrankenhaus geflogen, wo sie offenbar die einzigen Patienten waren. Sie hatten keine Ahnung, wo sich dieses Krankenhaus befand, und niemand wollte ihre Fragen beantworten. Allerdings ließ man ihnen erstklassige Pflege zuteil werden. Nach mehreren Tagen voll langem, ununterbrochenem Schlaf, gefolgt von zwei Wochen gutem Essen und leichten Leibesübungen waren beide wieder so gut wie neu.
Die Ärzte hatten Sean und Michelle getrennt voneinander behandelt und sich geweigert, dem einen vom anderen zu erzählen. Schließlich hielt Sean es nicht mehr aus. Er schwang einen Stuhl vor einer verängstigten Krankenschwester und einem Pfleger und verlangte, endlich Michelle sehen zu dürfen. »Sofort!«, rief er.
Als Sean in ihr Zimmer kam, saß sie am Fenster und blickte in einen deprimierend grauen Himmel hinaus. Als hätte sie seine Gegenwart gefühlt, drehte sie sich um, rief »Sean!« und lief zu ihm. So standen sie in der Mitte des Zimmers und klammerten sich zitternd aneinander.
»Sie … Sie wollten mir nichts über dich erzählen«, begann Michelle, und Tränen traten ihr in die Augen.
»Und ich wusste nicht mal, ob du noch lebst«, entgegnete Sean leise. »Aber jetzt ist es vorbei, Michelle. Wir sind in Sicherheit. Und sie haben Valerie verhaftet.«
»Haben sie dich in den Sarg gesteckt?«, fragte Michelle.
»Mehr als einmal. Sie haben gesagt, du hättest nie geweint.«
»Oh, ich habe geweint, Sean. Glaub mir.« Sie schaute wieder zum Fenster hinaus. Darunter befand sich ein Blumenbeet, doch die Blumen waren bereits verblüht und ließen die Köpfe hängen. »Ich habe sehr viel geweint«, fügte sie hinzu.
»Es tut mir leid, Michelle.«
»Was tut dir denn leid? Man hat dich genauso behandelt wie mich.«
»Es war meine Idee, über den Zaun zu steigen.«
»Ich bin ein großes Mädchen, Sean. Ich hätte dich auch allein gehen lassen können.«
»Ich weiß, warum du das nicht getan hast«, sagte er. »Ich weiß.«
Und dann saßen sie am Fenster und schauten sich die toten Blumen an.
Nachdem Sean und Michelle sich ausreichend erholt hatten, flog man sie in einem Privatjet an einen anderen Ort, und weiter ging es in einem Wagen mit abgedunkelten Scheiben in eine unterirdische Garage, von wo aus man sie über einen Sicherheitsaufzug in ein riesiges Büro brachte, in dem nur drei Stühle standen. Während zwei muskulöse Kerle mit Waffen unter den Jacketts draußen warteten, setzten Sean und Michelle sich einem kleinen, dünnen, tadellos gekleideten Mann mit weißem Haar und schmaler Brille gegenüber. Der Mann legte die Finger aneinander und schaute die beiden mitfühlend an.
»Zunächst einmal möchte ich mich im Namen der Regierung offiziell entschuldigen für das, was Ihnen widerfahren ist.«
Sean entgegnete zornig: »Seltsam. Ich dachte, es wäre unsere Regierung gewesen, die versucht hat, uns zu töten.«
»Eine Regierung und ihr Apparat sind bisweilen schwer zu überschauen, Mr. King. Von Zeit zu Zeit überschreitet jemand die Grenzen«, entgegnete der Mann in sachlichem Tonfall. »Das heißt aber noch lange nicht, dass die gesamte Regierung schlecht ist. Nichtsdestotrotz sind Sie in eine CIA-Anlage eingebrochen.«
Sean war nicht gerade versöhnlich gestimmt. »Beweisen Sie das!«
Ehe der Mann antworten konnte, sagte Michelle: »Ist Ihnen eigentlich klar, was dort geschieht? Machen Sie uns wirklich Vorwürfe für das, was wir getan haben?«
Der Mann zuckte mit den Schultern. »Es ist nicht mein Job, jemandem Vorwürfe zu machen, Miss Maxwell. Meine Aufgabe ist vielmehr, von diesem Punkt an auf eine Art und Weise weiterzumachen, die uns allen zugute kommt.«
»Und wie genau sollen wir das tun?«, verlangte Sean zu wissen. »Unsere Regierung hat uns die Seele aus dem Leib geprügelt. Ein Mädchen mit Namen Viggie Turing ist von unserer Regierung entführt worden. Unsere Regierung hat Menschen ermordet. Wie machen wir da auf eine Art und Weise weiter, die uns allen zugute kommt, um Ihre Worte zu benutzen?«
Der Mann beugte sich vor. »Ich will es Ihnen sagen. Wir haben uns das Video angeschaut, aufgrund dessen der Durchsuchungsbefehl ausgestellt worden ist. Wie Sie wissen, zeigt es … nun ja, kompromittierende Aktivitäten. Unseren Technikern zufolge wurde das Video kopiert.«
»Sie wollen das Video, das zeigt, wie unsere Regierung gegen hundert Gesetze verstößt.«
»Es war nicht unsere Regierung, Mr. King«, erwiderte der Mann heftig. »Wie ich bereits sagte, überschreiten manche Leute bisweilen ihre Grenzen.«
»In unserem Fall haben sie die Grenzen nicht nur überschritten, sie sind darüber hinweggetrampelt.« Sean musterte den Mann. »Deshalb hat man jetzt also Sie geschickt mit Ihren guten Manieren und dem feinen Anzug, in dem Sie aussehen, als wären Sie einem Roman von John le Carré entsprungen. Sie sollen uns endlich kriegen.«
»Ich bin froh, dass Sie die Situation verstehen. Wie auch die Tatsache, dass wir sämtliche Kopien des Videos benötigen, Mr. King«, fügte der Mann leise hinzu.
»Darauf möchte ich wetten. Aber ich bin Anwalt, und ich will quid pro quo, und eines kann ich Ihnen sagen: Ihr Angebot sollte lieber zehnmal höher sein als das, was Sie im Sinn haben, wenn Sie wirklich einen Deal mit uns machen wollen.«
»Ich bin befugt, gewisse Zugeständnisse zu machen …«
»Scheiß drauf. Hier sind unsere Bedingungen: Erstens wollen wir Viggie gesund wiederhaben. Wenn Sie sagen, das sei unmöglich, geht das Band direkt an einen Journalistenfreund von mir, der sich dann über den Pulitzerpreis freuen dürfte. Zweitens soll Valerie Messaline, oder wie immer sie heißt, bekommen, was sie verdient, und ich spreche nicht von Beförderung. Drittens, Alicia Chadwick bekommt das Gleiche. Und die Nummer, die sie in Camp Peary abziehen, muss sofort aufhören. Keine Drogen mehr, keine Folter. Und mit diesen Forderungen kommen Sie noch gnädig davon.«
Der Mann lehnte sich zurück und dachte darüber nach. »Um die beiden Frauen haben wir uns bereits gekümmert. Darauf haben Sie mein Wort.«
»Ihr Wort ist mir scheißegal. Ich will Beweise.«
»Na schön.«
»Was ist mit Viggie?«, platzte Michelle heraus. »Alles in Ordnung mit ihr?«
Der Mann nickte knapp. »Aber die Aktivitäten in Camp Peary, von denen Sie reden, Mr. King … einige davon werden enden. Tatsächlich ist das schon geschehen. Aber ich kann Ihnen nicht versprechen, dass es mit allem so sein wird. Ich kann Ihnen jedoch versichern, dass diese Aktivitäten essenziell für die Sicherheit dieser Nation sind.«
»Sagen Sie das nicht immer, wenn Sie einen Dreck um jemandes Rechte geben?«
»Wie kann Drogenschmuggel essenziell für die Sicherheit unserer Nation sein?«, fragte Michelle.
»Wir verkaufen die Drogen nicht«, erklärte der Mann ungeduldig. »Wir vernichten sie.«
»Ja, klar, und ich habe nie inhaliert«, schnaubte Sean.
»Drei Menschen sind getötet worden«, sagte Michelle. »Ermordet.«
»Das ist ein großes Unglück. Aber was sind schon drei Leben, wenn es gilt, Tausende zu retten, wenn nicht gar Millionen?«
»Ich nehme an, das ist so lange großartig, wie niemand geopfert wird, der Ihnen am Herzen liegt«, konterte Sean.
»Trotzdem kann ich Ihnen nicht versprechen, dass sämt-liche Aktivitäten in Camp Peary, deren Zeuge Sie geworden sind, enden werden.«
»Dann haben wir wohl ein Problem«, sagte Sean. »Und wenn Sie darüber nachdenken sollten, die zwei Probleme zu eliminieren, die Ihnen gegenüber sitzen, dann sollten Sie auch über Folgendes nachdenken: Ich habe fünf Kopien von diesem Film anfertigen lassen, und alle sind an sicheren Orten versteckt. Falls Michelle und ich also nicht mit neunzig Jahren friedlich im Bett sterben sollten, wird eine dieser Kopien zu meinem bereits erwähnten, Pulitzer-hungrigen Freund gelangen, damit er die Geschichte zuerst veröffentlichen kann, gefolgt von der New York Times, der Washington Post und der Times in London.«
»Das sind nur vier Kopien. Was ist mit der fünften?«
»Die geht an den Präsidenten. Ich wette, der wird einen Heidenspaß an dem Film haben.«
»Wie es scheint, haben wir eine Pattsituation.«
Sean stand auf und ging auf und ab. »Gute Anwälte denken stets an Kompromisse. Hier ist einer für Sie: Es gibt einen Schatz in Camp Peary.«
»Bitte?«, sagte der Mann überrascht. »Ich …«
»Halten Sie den Mund, und hören Sie zu. Er ist in den Grundmauern von Porto Bello versteckt. Gold, Silber, Edelsteine. Die Klunker sind Millionen wert.«
»Mein Gott!«, rief der Mann.
»Ja, aber bevor Sie jetzt Dollarzeichen in den Augen bekommen … Das ganze Zeug soll zum höchstmöglichen Preis verkauft werden. Wenn die Regierung es kaufen will, dann soll sie. Mir ist es egal. Aber der Erlös wird in drei gleiche Teile geteilt.«
Der Mann griff zu Stift und Papier. »Also schön. Ich nehme an, ein Teil geht an Sie.«
»Nein«, sagte Sean entschieden. »Ein Teil geht an Viggie Turing. Das wird sie zwar nicht für den Tod ihres Vaters entschädigen, aber es ist ein Anfang. Der zweite Teil geht an die beiden Kinder von Len Rivest. Sie sind auf dem College und können das Geld vermutlich gut gebrauchen. Und der dritte Teil geht an die Familie des Pathologen, der bei der so genannten Gasexplosion ums Leben gekommen ist. Haben Sie das?«
Der Mann beendete seine Notiz und nickte. »Ja.«
»Gut. Ich werde die Summen überprüfen, die ihnen gezahlt werden. Also versuchen Sie nicht, mich auszutricksen. Und es ist mir egal, ob der Kongress extra ein Gesetz dafür verabschieden muss. Sie bekommen das Geld steuerfrei.«
»Das dürfte kein Problem sein«, sagte der Mann.
»Das dachte ich mir schon.«
»Und wir wollen Viggie sehen, um sicherzugehen, dass es ihr gut geht«, fügte Michelle hinzu.
»Das kann arrangiert werden.«
»Dann arrangieren Sie es«, sagte Sean. »Je eher, desto besser.«
»Geben Sie uns eine Woche, und alles ist erledigt.«
»Sorgen Sie dafür.«
»Und Sie werden niemandem etwas über das alles hier erzählen?«, fragte der Mann.
»Niemandem. Ich will schließlich nicht in den Knast.«
»Und wer würde uns schon glauben?«, fügte Michelle hinzu.
»Dann bekommen wir auch die Kopien?«, hakte der Mann nach.
»Dann bekommen Sie auch die Kopien.«
»Und wir können Ihnen vertrauen?«
»Genau so, wie wir Ihnen vertrauen können«, erwiderte Sean.