44.
Als Horatio Barnes am nächsten Morgen eintraf, war Champ nicht so entgegenkommend wie bei Michelle.
»Wir sind doch kein Feriendorf!«, explodierte Champ.
»Ich glaube, dass er Viggie helfen kann«, erklärte Sean.
»Dann soll er das aus der Ferne tun, verdammt noch mal! Das hier ist eine Hochsicherheitsanlage, in der streng geheime Forschungen betrieben werden, und ich weiß noch nicht einmal, wer dieser Mann ist!«
»Ich kann mich für ihn verbürgen. Und Sie haben doch auch Michelle bleiben lassen«, entgegnete Sean. »Sie kennen sie genauso wenig. Wo ist der Unterschied?«
»Ach, verdammt noch mal«, stieß Champ hervor und stapfte davon.
Horatio wurde in einer Pension in White Feather untergebracht.
Zum Glück war Michelle noch nicht aufgestanden, und so lieh Sean sich einen Wagen und folgte seinem Freund. Nachdem Horatio eingecheckt hatte, setzten die beiden sich bei einem Kaffee im Esszimmer zusammen.
»Nette Gegend«, bemerkte Horatio. »Wären da nicht all die Leute, die hier umgebracht werden, könnte man darüber nachdenken, sich hier zur Ruhe zu setzen.«
»Erzähl mir von Tennessee«, forderte Sean ihn auf.
Nachdem Horatio seinen Bericht beendet hatte, fragte Sean: »Was hat denn eine zerstörte Rosenhecke mit Michelles Problemen zu tun?«
»Ich weiß nicht, ob es überhaupt eine Verbindung gibt.« Horatio musterte Sean über den Rand seines Kaffeebechers hinweg. »Wie geht es deinem Mädchen?«
»Sie scheint in guter Form zu sein.«
»Das ist vielleicht nicht von Dauer. Und jetzt erzähl mir von Viggie.«
Sean kam der Bitte nach, und Horatio lehnte sich zurück.
Schließlich sagte der Psychiater: »Hm, das scheint mir nicht ganz einfach zu werden. Wie möchtest du die Sache angehen? Dieser Champ will mich offenbar nicht aufs Gelände lassen.«
»Ich kann Viggie hierherbringen. Alicia wird damit einverstanden sein. Sie sorgt sich wirklich um das Mädchen.«
»Gut. Hast du Michelle gesagt, dass ich komme?«
»Nein, aber sie wird es schnell genug herausfinden. Wenn ich ihr sage, dass es gut für Viggie ist, sollte das kein Problem darstellen. Sie scheint ziemlich schnell eine Beziehung zu dem Mädchen aufgebaut zu haben.«
»In gewisser Weise ist das sehr vielsagend«, meinte Horatio und machte ein nachdenkliches Gesicht. »Vielleicht kann ich ja zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen.«
Als Sean nach Babbage Town zurückkehrte, traf er Michelle in der Kantine an. Sie sprach mit Champ. Viggie saß ebenfalls am Tisch und kaute auf etwas herum, das eingeweichte Cornflakes zu sein schienen.
Als Champ Sean sah, stand er auf. »Ich hoffe, Sie verstehen, warum Ihr Freund nicht hierbleiben konnte.«
»Was für ein Freund?«, fragte Michelle sofort.
»Horatio Barnes«, antwortete Sean rundheraus.
Als Champ die erstaunte Reaktion Michelles bemerkte, schien es ihn zu überraschen. »Wenn … Wenn Sie mich jetzt bitte entschuldigen würden«, stammelte er und eilte davon.
Als Champ gegangen war, fragte Michelle gereizt: »Warum ist Barnes hier, verdammt?«
»Wegen Viggie. Wir brauchen jemanden, der zu ihr durchdringen kann.«
»Und da musstest du ausgerechnet den Kerl anrufen, der mich eingesperrt und dann im Stich gelassen hat? Das kann ich nicht glauben, Sean.«
»Er hat dich nicht eingesperrt. Du bist freiwillig in die Anstalt gegangen. Und er hat dich nicht im Stich gelassen.«
»Wovon redest du? Er ist einfach verschwunden.«
»Er ist nach Tennessee gefahren.«
Michelles Miene verhärtete sich. Nach fast einer Minute des Schweigens fragte sie leise: »Was hat er denn in Tennessee gesucht?«
»Was glaubst du wohl?«
»Red nicht um den heißen Brei herum.«
»Okay. Er ist nach Tennessee gefahren, um den Ort zu finden, wo du im Alter von sechs Jahren gelebt hast.«
»Was? Diesen Schwachsinn glaube ich dir nicht!«
Keiner von beiden bemerkte, dass die anderen Leute im Raum sich zu ihnen umdrehten.
»Dein Bruder sagte, deine Persönlichkeit habe sich in dem Jahr abrupt verändert.«
»Ich war ein Kind!«
»Komm schon, Michelle. Was ist passiert?«
»Nichts! Erinnerst du dich noch daran, als du sechs Jahre alt warst?«
Mit einem Mal erkannte Sean, dass er alles nur viel schlimmer machte. Er mischte sich in Horatios Diagnose ein und stellte Michelle sehr persönliche Fragen … und das auch noch auf unglaublich unbeholfene Art, und obendrein vor Fremden. »Nein, das weiß ich nicht«, sagte er. »Tut mir leid.«
Sein reumütiger Tonfall schien Michelles Zorn ein wenig zu mildern. Beide schauten zu Viggie, die sie verunsichert beobachtete. Sofort setzte Michelle sich neben das Kind und legte ihm den Arm um die Schultern.
»Ist schon gut, Viggie. Das war nur eine kleine Meinungsverschiedenheit. So ist es bei uns ständig.« Und an Sean gewandt: »Stimmt’s?«
Sean nickte. »Stimmt.« Er stand auf und gesellte sich zu den beiden.
Viggie trug einen Jeansoverall, und ihre Haare waren zu den typischen Zöpfen geflochten. Michelle bemerkte, dass das Mädchen sich die Fingernägel abgekaut hatte.
»Sie muss jetzt zum Unterricht«, sagte Sean. »Es gibt hier eine Schule für die Kinder der Angestellten. Sie ist im Herrenhaus.« Er senkte die Stimme. »Ich habe dafür gesorgt, dass ein Wachmann sie dorthin begleitet. Wir sind vor Schulschluss wieder da.«
»Wieder da? Wo gehen wir denn hin?«
»Du wirst schon sehen.«