83.
Das kleine Flugzeug wurde mit der Fracht des LKWs beladen. Da die Sitze ausgebaut waren, bot die Maschine genug Platz dafür. Champ Pollion stieg ins Cockpit und bereitete die Cessna zum Start vor. Obwohl Regen und Wind immer stärker wurden, ging er nach wie vor davon aus, dass es keine Probleme mit dem Zeitplan geben würde. Die Männer beendeten das Beladen, behielten jedoch mehrere Plastikballen im Wagen, ohne dass Champ es hätte sehen können. Dann fuhren sie los und verschwanden rasch in der Dunkelheit.
Champ ging die Checkliste durch und legte dann einen Schalter um. Die Propellertriebwerke erwachten zum Leben. Champ hatte gerade sein Headset aufgesetzt, als die Tür aufflog und Michelle den Kopf in die Kabine steckte.
»Haben Sie noch Platz für einen zusätzlichen Passagier?«
Ein paar Sekunden lang starrte Champ sie fassungslos an. Dann flog seine Hand zur Waffe an seinem Gürtel, doch Michelles Faust war schneller. Der Schlag warf Champ seitwärts in den Sitz. Blut spritzte aus seiner Nase. Er rollte sich auf den Copilotensitz und dann zur anderen Tür hinaus. Er ließ sich auf den Boden fallen, doch schon war Michelle über ihm. Als er aufzustehen versuchte, versetzte sie ihm einen wuchtigen Tritt gegen den Kopf, der ihn wieder zu Boden schickte. Sein Bein schoss vor und brachte Michelle zu Fall. Rückwärts taumelte sie gegen das Flugzeug. Die Cessna vibrierte; die Motoren kämpften gegen die Bremsen an.
Champ gelang es, seine Waffe zu ziehen, doch mit einem gut gezielten Tritt schleuderte Michelle sie ihm aus der Hand. Eine Sekunde später landete Champ einen Fausthieb in ihrer Seite. Greller Schmerz jagte durch Michelles Brustkorb. Und schon folgte Champs Fuß seiner Faust. Michelle erkannte, dass sie es mit einem erfahrenen Gegner zu tun hatte. Sie wich dem Tritt durch einen Sprung nach hinten aus, ließ sich zu Boden fallen, rollte sich ab, schnellte aus der Bewegung hoch und stand Champ wieder kampfbereit gegenüber.
»Was machen Sie hier?«, brüllte Champ über den Motorenlärm hinweg.
»Eine Zivilfestnahme!«, rief Michelle zurück, während sie nach einer Lücke in Champs Verteidigung suchte.
»Sie haben keine Ahnung, was Sie da tun.«
»Seit wann betätigen sich angesehene Wissenschaftler als Drogenkuriere für die CIA? Es ist doch Stoff in den Ballen, oder?«
»Michelle, Sie verstehen nicht, was hier vor sich geht.«
»Dann erklären Sie es mir.«
»Das kann ich nicht, und ich will Ihnen nicht wehtun.«
»Mir wehtun? Was ist mit Monk Turing? Und mit Len Rivest?«
»Ich versuche nur, meinen Job zu tun. Das müssen Sie mir glauben.«
»Tut mir leid, Champ, mein Vertrauen ist gerade eben den Bach runtergegangen.« Während des Gesprächs war Michelle immer näher an Champ herangerückt. Jetzt wirbelte sie herum und landete einen Treffer an seinem Kopf, der den Mann nach hinten warf. Doch bevor sie nachsetzen konnte, hatte Champ sich schon wieder erholt und rammte ihr den Fuß in die Schulter. Michelle wurde drei, vier Schritte zurückgeschleudert, wirbelte herum und wich so eben einem weiteren Schlag aus; dann konterte sie und landete einen wuchtigen Treffer in Champs Niere. Erstaunlicherweise brachte ihn das nicht zu Fall. Er taumelte zurück, keuchte, doch seine Verteidigung war noch intakt.
»Sie sind gut«, rief Michelle über den Lärm der Flugzeugmotoren hinweg.
»Vielleicht nicht so gut wie Sie«, gab er zu und schaute über die Schulter. »Michelle, Sie müssen hier weg.«
»Warum? Damit Sie mit Ihren Drogen verschwinden können?«
»Ich werde kein Verbrechen begehen. Sie müssen mir vertrauen.«
»Ich habe Ihnen doch gesagt, dass ich kein Vertrauen mehr habe.« Sie sprang, und ihr Fuß traf seine Brust. Champ fiel nach hinten und landete genau neben seiner Waffe. Er schnappte sich die Pistole, zielte und …
Michelle sprang ins Cockpit zurück und schlug im selben Augenblick die Tür zu, als eine Kugel aus Champs Pistole das Glas explodieren ließ. Michelles Blick flog über die Kontrollinstrumente. Vor ihrem Rundflug hatte sie Champ dabei beobachtet, wie er die Checkliste durchgegangen war. Jetzt zahlte sich diese Aufmerksamkeit aus. Michelle löste die Radbremse, schob den Gashebel nach vorne, und die Cessna schoss los.
Eine weitere Kugel peitschte durchs Cockpit, und diesmal konnte Michelle ihr nicht aus dem Weg springen. Sie schrie vor Schmerz auf, als das Geschoss ihren Arm durchschlug und ein blutiges Loch hinterließ, ehe es das Seitenfenster zerschmetterte. Michelle rammte den Gashebel weiter nach vorne, und die Cessna legte an Geschwindigkeit zu und schoss über den Beton zur Hauptstartbahn. Champ rannte der Maschine hinterher und feuerte einen weiteren Schuss auf das Heck ab, verfehlte jedoch sein Ziel.
»Stopp!«, schrie er. »Du weißt ja nicht, was du tust, du Irre!«
Michelle hatte nicht die Absicht, die Cessna zu starten. Sie trat aufs rechte Ruderpedal und riss das Flugzeug herum. Champ blieb mitten im Lauf stehen, als die Maschine direkt auf ihn zukam. Er hob die Waffe, doch statt zu schießen, warf er sich herum und rannte los. Dennoch musste Michelle abbremsen, um ihn nicht zu überrollen. Als das Flugzeug immer näher kam, schrie Champ vor Angst, warf sich zur Seite und rollte in ein paar Kerosinfässer hinein.
Michelle zog den Gashebel zurück, betätigte die Bremse, sprang aus der Kanzel und rannte zu den Fässern. Sie wartete nicht, bis Champ sich aufgerappelt hatte, sondern warf sich auf ihn und rammte ihm den Ellbogen gegen den Kopf. Champ stöhnte auf, und sein Körper erschlaffte.
»Dass du mir ja nicht stirbst«, sagte Michelle, als sie nach seinem Puls fühlte. »Im Knast ist noch ein Zimmer für dich frei.« Champs Atmung war regelmäßig, sein Puls kräftig. Ohne Zweifel würde er bald mit mörderischen Kopfschmerzen aufwachen und das dringende Bedürfnis verspüren, seinen Anwalt anzurufen.
Michelle schaute sich um, sah ein paar Kabel an einem Werkzeugschuppen und fesselte Champ damit. Dann durchsuchte sie seine Taschen, fand sein Handy und die Wagenschlüssel und lief zum Flugzeug zurück. Sie stieg ein, schaltete die Motoren aus, stach den Schlüssel in den Plastikballen, der ihr am nächsten war, und überprüfte den Inhalt. Es war Heroin; sie war sich fast sicher. Eines der Päckchen schob Michelle in eine Tasche, die sie in einem der Frachtabteile des Flugzeugs gefunden hatte. Als sie sich zum Gehen wandte, erregte ein Geräusch vom hinteren Teil der Maschine ihre Aufmerksamkeit. Sie sah, dass einer der Ballen sich leicht bewegte. Michelle wuchtete ihn zur Seite und sah, dass am Ende der Kabine irgendetwas in eine Decke eingewickelt war – und dieses Etwas zuckte und wand sich.
Michelle zog an der Decke, und eine gefesselte und geknebelte Viggie kam zum Vorschein.
Rasch befreite Michelle das Mädchen, und gemeinsam liefen sie von der Cessna weg.
»Mick …«, begann Viggie.
»Später! Jetzt lauf!«
Sie erreichten Champs Mercedes und stiegen ein. Michelle wählte Sheriff Hayes’ Nummer, weckte den Mann und gab ihm einen groben Überblick über das, was geschehen war. »Fahren Sie mit allem, was Sie haben, nach Babbage Town!«, rief sie zum Schluss.
»Ach du Schande.« Mehr brachte der Gesetzeshüter nicht heraus.
Michelle ließ den Motor an und trat das Gaspedal durch. Während Viggie mit weit aufgerissenen Augen dasaß und sich krampfhaft festhielt, jagte Michelle über den Parkplatz und bog mit kreischenden Reifen auf die Straße, wo sie weiter beschleunigte. Zurück blieb ein bewusstloses Genie, das sich auf einen langen Gefängnisaufenthalt freuen durfte, sowie eine Cessna voller Heroin mit besten Wünschen von der CIA.