6. KAPITEL
Samstag, 25. Oktober
Nick schluckte widerwillig den kalten starken Kaffee hinunter. Warum wunderte er sich, dass er kalt genauso bitter schmeckte wie heiß? Er verabscheute das Zeug, trotzdem schenkte er sich eine zweite Tasse ein.
Vielleicht war es nicht so sehr der Geschmack, der ihm zuwider war, sondern die damit verbundenen Erinnerungen. Kaffee erinnerte ihn vor allem an Nächte, in denen er für das Staatsexamen gebüffelt hatte, und an eine schreckliche Autofahrt zu seinem im Sterben liegenden Großvater.
Damals war er auf Bitten seiner Großmutter hingefahren. Es war nötig gewesen, weil sein Vater sich geweigert hatte, zum Krankenbett des alten Mannes zu kommen. Schon damals hatte er in der Reise eine Art Omen für die Beziehung zu seinem Vater gesehen. Er fragte sich, ob sein Vater, der große Antonio Morrelli, die Ironie erkennen würde, wenn seine Zeit gekommen war und sein Sohn sich weigerte, an sein Sterbebett zu kommen.
Immer noch beschwor der Geruch nach abgestandenem Kaffee automatisch Assoziationen an die faltige graue Haut seines Großvaters und urinbefleckte Laken herauf. Doch von jetzt an würde Kaffeegeruch ihn stets auch an die Schmerzensschreie einer trauernden Mutter erinnern, die den verstümmelten Körper ihres einzigen Sohnes identifizieren musste. Zweifellos kein wünschenswerter Ersatz.
Nick dachte an die erste Begegnung mit Laura Alverez Sonntagnacht - großer Gott, das war kaum eine Woche her. Danny war seit zwölf Stunden vermisst gewesen, als er einen Angelausflug abgebrochen hatte, um die Mutter persönlich zu befragen. Zuerst hatte auch er angenommen, es handele sich um einen typischen Sorgerechtsstreit, bei dem die Frau ihren Sohn benutzte, den Ex-Mann entweder zu strafen oder zurückzugewinnen. Dann war er Laura Alverez begegnet.
Sie war eine große Frau, leicht untersetzt, mit einer üppigen Figur. Das lange schwarze Haar und die rauchgrauen Augen ließen sie jedoch jünger wirken als fünfundvierzig. Sie hatte etwas Statuenhaftes, dass man automatisch an einen Fels in der Brandung dachte.
Trotz ihrer Größe graziös, war Laura Alverez an jenem Abend zwischen dem Spülbecken in der Küche und dem Schrank ständig hin und her gegangen. Sie hatte seine Fragen ruhig und gelassen beantwortet. Viel zu ruhig. Er hatte zehn, vielleicht fünfzehn Minuten gebraucht, ehe ihm auffiel, dass sie für jeden Teller, den sie abgewaschen in den Schrank stellte, einen neuen, sauberen mit an das Spülbecken nahm. Dann bemerkte er das Schild am Kragen ihres Pullovers, den sie offenbar falsch herum angezogen hatte, und die beiden nicht zueinander passenden Schuhe. Sie befand sich offensichtlich in seelischem Ausnahmezustand, den sie hinter einer Ruhe verbarg, die Nick unheimlich wurde.
Diese Ruhe hatte sie während der Woche beibehalten. Sie war die Unerschütterliche gewesen und hatte den Männern, die jeden Tag ihr Haus füllten, Kaffee gekocht und Brötchen gebacken. Wenn sie nur ein wenig Emotionen gezeigt hätte, wäre es für ihn nicht so schwierig gewesen, mit anzusehen, wie diese stattliche Frau vor wenigen Augenblicken kollabiert und auf den harten Boden der Pathologie gesackt war. Ihr Schreien war durch die stillen, sterilen Flure gehallt wie das schrille verzweifelte Jammern eines verwundeten Tieres. Keine Frau sollte so etwas allein durchstehen müssen. Er wünschte jetzt, sie hätten ihren Ex-Mann gefunden, damit er ihn verprügeln konnte.
„Morrelli.“ Bob Weston betrat Nicks Büro, ohne anzuklopfen oder eine Aufforderung zum Eintreten abzuwarten. Er ließ sich Nick gegenüber in den Sessel fallen. „Sie sollten heimgehen, duschen und sich umziehen. Sie stinken.“
Er beobachtete Weston, der versuchte, sich die Müdigkeit aus den Augen zu reiben, und erkannte, dass er lediglich Fakten feststellte und nicht beleidigend sein wollte.
„Was ist mit dem Ex-Mann?“
Weston hob den Blick und schüttelte den Kopf. „Ich bin Vater, Nick. Gleichgültig, wie sauer er auf seine Frau war, ich glaube einfach nicht, dass ein Vater seinem Kind so etwas antun könnte.“
„Also, wo fangen wir an?“ Ich muss erledigt sein, dachte Nick, wenn ich tatsächlich anfange, Weston um Rat zu bitten.
„Ich würde mit einer Liste bekannter Sexualstraftäter anfangen, Pädophile, Männer, die mit Kinderpornografie zu tun haben.“
„Das könnte eine lange Liste werden.“
„Entschuldige, Nick“ , unterbrach Lucy Burton sie von der Tür her. „Ich wollte dir nur mitteilen, dass alle vier Fernsehstationen von Omaha und die beiden von Lincoln mit Kamerateams unten sind. Außerdem ist die Halle voll mit Radio- und Zeitungsreportern. Alle fragen nach einer Erklärung oder Pressekonferenz.“
„Scheiße!“ schimpfte Nick halblaut. „Danke, Lucy.“ Er beobachtete, wie Weston sich in seinem Stuhl verrenkte, um Lucys lange Beine zu sehen, als sie davonging. Da sie in den Medien erscheinen würden, sollte er vielleicht ein Wort mit ihr über die kurzen Röcke und die hohen Absätze reden. Schade. Sie hatte hübsche Beine, was vom einstudierten Gang noch betont wurde.
„Wir haben die Medien bisher gemieden“ , sagte Nick zu Bob Weston. „Wir müssen mit denen reden.“
„Ganz meine Meinung. Sie müssen mit denen reden.“
„Ich? Warum ich? Ich denke, Sie sind hier der Super-Experte.“
„Solange es um eine Entführung ging. Jetzt ist es ein Tötungsdelikt, Morrelli. Tut mir Leid, Sie sind am Ball.“
Nick ließ sich gegen die Sessellehne sinken, legte den Kopf ans Leder und schwang sich von einer Seite zur anderen. Das konnte doch nicht wahr sein. Gleich würde er aufwachen, und Angie Clark lag neben ihm im Bett. Die letzte Nacht schien schon eine Ewigkeit her zu sein.
„Wissen Sie, Morrelli“ , begann Weston freundlich und mitfühlend, sodass Nick ihn sofort argwöhnisch beäugte, ohne jedoch den Kopf zu heben, „ich habe nachgedacht. Vielleicht könnte ich jemand bitten, Ihnen mit der Erstellung eines Täterprofils zu helfen.“
„Wozu das?“
„Noch hat offenbar niemand die Ähnlichkeit mit Jeffreys’ Verbrechen erkannt, aber wenn es dazu kommt, bricht hier das Chaos aus.“
„Chaos?“ Chaosbewältigung gehörte nicht zu seiner Ausbildung. Nick schluckte den säuerlichen Geschmack im Mund hinunter. Ihm wurde wieder übel. Er roch immer noch das Blut von Danny Alverez, das seine Jeans aufgesogen hatte.
„Wir haben Experten, die das psychologische Profil des Täters erstellen können. Die zeigen Ihnen bestimmte Merkmale auf und geben Ihnen eine Ahnung, wer dieses Arschloch sein kann.“
„Ja, das würde helfen. Das wäre sogar gut.“ Nick ließ seine Verzweiflung nicht anklingen. Trotz Westons plötzlichem Mitgefühl war es nicht der richtige Zeitpunkt, Schwäche einzugestehen.
„Ich habe von einem Spezialagenten gehört, O‘Dell. Die Profile sind so genau, dass man sogar die Schuhgröße des Täters vorher kennt. Ich könnte Quantico anrufen.“
„Was glauben Sie, wie schnell die jemand herschicken können?“
„Lassen Sie den Jungen noch nicht von Tillie aufschneiden. Ich rufe gleich an und sehe zu, dass Montagmorgen jemand hier ist. Vielleicht sogar O‘Dell.“ Weston stand plötzlich auf, offenbar mit neuer Energie geladen.
Nick entknotete seine Beine und stand ebenfalls auf, erstaunt, dass seine Füße ihn wieder trugen.
An der Tür stieß Weston fast mit Deputy Hai Langston zusammen. „Ich dachte, Sie würden vielleicht gern die Morgenausgabe des Omaha Journal sehen.“ Er entfaltete die Zeitung und hielt sie hoch. Die reißerische Schlagzeile verkündete in Großbuchstaben: JUNGENMORD IM STIL VON JEFFREYS.
„Verdammte Scheiße!“ Weston entriss Hai die Zeitung und begann laut zu lesen: „Gestern Nacht wurde am Platte River in der Nähe der Old Church Road die Leiche eines Jungen gefunden. Erste Berichte deuten darauf hin, dass der noch nicht identifizierte Junge erstochen wurde. Ein Deputy am Fundort, der ungenannt bleiben möchte, sagte: ,Es sieht aus, als hätte der Bastard ihn verstümmelt.‘ Klaffende Brustwunden waren ein Markenzeichen des Serienmörders Ronald Jeffreys, der im Juli diesen Jahres hingerichtet wurde. Identität des Jungen und Todesursache müssen noch von der Polizei bekannt gegeben werden.“
„Auch das noch!“ stöhnte Nick und hatte Magenschmerzen.
„Verdammt, Morrelli, verpassen Sie Ihren Männern einen Maulkorb!“
„Es wird noch schlimmer.“ Hai sah Nick an. „Der Artikel ist mit Christine Hamilton unterzeichnet.“
„Wer zum Henker ist Christine Hamilton?“ Weston sah von Hai zu Nick. „Bitte, erzählen Sie mir nicht, dass es eine aus dem kleinen Harem ist, den Sie beglücken.“
Nick sank in seinen Sessel zurück. Wie konnte sie ihm das antun? Sie hatte ihn weder gewarnt noch Kontakt zu ihm aufgenommen. Beide Männer starrten ihn an, und Weston wartete auf eine Erklärung.
„Nein“ , erwiderte Nick leise. „Christine Hamilton ist meine Schwester.“