12. KAPITEL

Die Leichenhalle des Krankenhauses lag im Keller, wo jedes Geräusch von den weißen Steinwänden zurückhallte. Wasserleitungen summten, und ein Ventilator drehte sich brummend. Die Fahrstuhltür schloss sich hinter Nick und Agentin O‘Dell, nachdem sie ausgestiegen waren. Sie hörten ein Zerren und Kratzen, als sich die Seile spannten und die Kabine wieder hinaufbeförderten.

Sheriff Morrelli schien auf Zehenspitzen zu gehen, damit die frisch geputzten Stiefelabsätze auf dem Fliesenboden nicht so klapperten. Maggie streifte ihn mit einem Seitenblick, während sie nebeneinander her gingen. Er tat so, als sei dies alles Routine für ihn, doch er war leicht zu durchschauen. Unten am Fluss hatte sie ein-, zweimal bemerkt, wie er zusammengezuckt war, was seine überlegene Haltung Lügen strafte.

Dennoch hatte er darauf bestanden, sie hierher zu begleiten, sobald er hörte, dass der Gerichtsmediziner heute einen Jagdausflug machte und nicht zu erreichen war. Für sie eine absurde Vorstellung, dass ein Gerichtsmediziner einen freien Tag beim Jagen verbrachte. Nach all den Toten, die sie untersucht hatte, könnte sie niemals zur Entspannung auch noch Tiere töten.

Sie blieb zurück, während Nick Morrelli mit einem dicken Schlüsselbund hantierte und schließlich merkte, dass die Leichenhalle unverschlossen war. Er hielt ihr die Tür auf, indem er sich mit seinem Körper dagegen stemmte und ihr ermöglichte, sich an ihm vorbeizudrängen. Maggie wusste nicht, ob das Absicht war, jedenfalls arrangierte er es zum zweiten oder dritten Mal so, dass sie fast Körperkontakt hatten.

Ihr kühles, autoritäres Auftreten erstickte unerwünschte Annäherungsversuche in der Regel im Keim. Sheriff Morrelli schien davon jedoch unbeeindruckt. Vermutlich witterte er in jeder Frau, die er traf, ein mögliches Abenteuer für eine Nacht. Sie kannte diesen Typ, der wusste, dass Flirten, jungenhafter Charme, athletischer Körper und gutes Aussehen ihn meist ans Ziel führten. Das war ärgerlich, aber in Morrellis Fall auch harmlos.

Sie hatte schon Schlimmeres erlebt. Sie war an anzügliche Bemerkungen von Männern gewöhnt, die ihre Unsicherheit überspielen mussten, wenn sie mit einer Frau zusammenarbeiteten. Zu ihrer Berufserfahrung gehörten eine Menge sexueller Belästigungen, angefangen von mildem Flirten bis zu heftigem Gegrapsche. Das hatte sie gelehrt, auf sich Acht zu geben und sich hinter einem Schild aus Unnahbarkeit zu schützen.

Sheriff Morrelli fand den Lichtschalter, und die Neonröhren flammten wie in einem Dominoeffekt eine nach der anderen auf. Der Raum war größer als erwartet. Sofort stach ihr Ammoniakgeruch in die Nase und brannte ihr in den Lungen. Alle Arbeitsflächen waren tadellos sauber geschrubbt. Mitten im gefliesten Raum stand ein Tisch aus Edelstahl. An einer Wand befanden sich ein großes Doppelspülbecken und ein Tresen mit verschiedenen Werkzeugen, einschließlich einer Stryker Säge, verschiedener Mikroskope, Ampullen und Teströhrchen. An der gegenüberliegenden Wand waren fünf Kühlschübe für die Leichen. Maggie fragte sich unwillkürlich, ob der kleine Ort jemals alle fünf gleichzeitig gebraucht hatte.

Sie zog ihr Jackett aus, hängte es sorgfältig über einen Stuhl und begann sich die Blusenärmel aufzukrempeln. Sie hielt inne und sah sich nach einem Laborkittel oder einer Arbeitsschürze um. Ihre Seidenbluse war ein Geschenk von Greg. Ihm würde zweifellos auffallen, wenn sie sie nicht mehr trug, weil sie durch Flecken ruiniert war. Er würde ihr Gedankenlosigkeit und Leichtsinn vorwerfen, wie damals bei dem Ehering, der jetzt irgendwo auf dem schlammigen Grund des Charles River lag. Na, egal. Sie rollte sich weiter die Ärmel auf.

Maggie hatte eine kleine schwarze Tasche mitgebracht, in der sie alles Notwendige aufbewahrte. Sie öffnete sie und legte den Inhalt auf dem Tresen aus. Als erstes einen kleinen Tiegel mit Wick Vaporub. Ein bisschen von der Salbe verteilte sie um ihre Nasenlöcher. Sie hatte schon vor langer Zeit gelernt, dass auch gekühlte Leichen einen Geruch verströmten, dem man sich besser nicht aussetzte. Ehe sie den Deckel fest schloss, drehte sie sich zu Sheriff Morrelli um, der sie von der Tür beobachtete, und warf ihm den Tiegel zu.

„Wenn Sie bleiben möchten, sollten Sie vielleicht auch ein wenig davon benutzen.“

Er betrachtete den Tiegel, öffnete ihn zögernd und folgte ihrem Beispiel.

Als Nächstes nahm sie Plastikhandschuhe heraus und warf ihm ein Paar zu, doch er schüttelte den Kopf.

„Sie müssen nicht bleiben“ , sagte sie ihm. Er wurde schon wieder blass, und sie hatten den Leichnam noch nicht mal aus der Lade geholt.

„Nein, ich bleibe. Ich will nur ... ich will Ihnen nur nicht im Weg sein.“

Sie war nicht sicher, ob er das aus Pflichtbewusstsein tat, oder ob sein Macho-Image es von ihm verlangte. Sie führte die Untersuchung lieber allein durch. Allerdings befand sie sich auf Morrellis Terrain, und es war sein Fall. Ob er die Rolle nun ausfüllte oder nicht, technisch betrachtet, war er der Leiter der Ermittlung.

Sie machte weiter, als wäre er nicht anwesend, holte den Rekorder heraus, prüfte das Band und schaltete es auf Stimmenaktivierung. Danach holte sie die Polaroid-Kamera hervor und vergewisserte sich, dass ein Film eingelegt war.

„Welche Schublade?“ fragte sie, vor den Kühlschüben stehend, die Hände auf den Hüften, bereit, mit der Arbeit zu beginnen. Sie sah zu Nick Morrelli, der die Kühlwand anstarrte, als sei ihm nicht bewusst gewesen, dass sie den Leichnam tatsächlich herausnehmen mussten.

Er bewegte sich langsam und zögerlich, entriegelte die mittlere Lade und zog sie heraus. Die Metallrollen quietschten und klickten, als der Schub in den Raum glitt.

Maggie löste die Bremse an den Rollen des Stahltisches und schob ihn unter die Lade. Er passte perfekt. Gemeinsam hoben sie die Trage mit dem Leichensack des kleinen Jungen an und legten ihn flach auf den Tisch, den sie wieder in die Mitte des Raumes unter die abgehängte Beleuchtung schoben. Maggie arretierte die Bremsen, während Nick Morrelli die Tür der Lade schloss. Sobald sie den Reißverschluss des Leichensacks aufzog, wich Nick in eine Ecke des Raumes zurück.

Der Körper des Jungen wirkte klein und zerbrechlich, was seine Wunden umso brutaler erscheinen ließ. Ein hübscher Junge, dachte Maggie. Sein rotblondes Haar war kurz geschnitten. Die Sommersprossen auf Nase und Wangen hoben sich deutlich von der wächsernen Haut ab. Im Nacken hatte er starke Blutergüsse und Abdrücke von einem Seil über der klaffenden Halswunde.

Maggie begann zu fotografieren. Sie machte Nahaufnahmen von den Stichwunden und dem gezackten X auf der Brust, dann von den blauroten Verfärbungen an den Gelenken und der durchschnittenen Kehle. Sie wartete bei jeder Aufnahme ab, bis sich das Foto entwickelte, und vergewisserte sich, dass sie genügend Licht und den richtigen Winkel erwischt hatte.

Den Rekorder nah am Mund, begann sie zu diktieren, was sie sah.

„Das Opfer weist Strangulationsabdrücke unter und um den Hals auf, augenscheinlich von einem Seil. Es könnte festgezurrt worden sein. Da scheint eine kleine Abschürfung unter dem linken Ohr zu sein, vielleicht von einem Knoten.“

Sacht hob sie den Kopf des Jungen an, um sein Genick zu sehen. Er fühlte sich leicht, fast gewichtslos an. „Ja, die Abdrücke reichen rings um den Hals. Das bedeutet, der Junge wurde stranguliert, ehe ihm die Kehle durchschnitten wurde. Die Halswunde ist tief und lang und reicht von einem Ohr zum anderen. Blutergüsse an Hand- und Fußgelenken gleichen denen am Hals. Eventuell wurde dasselbe Seil verwendet.“

Seine Hände wirkten klein in ihren. Maggie hielt sie vorsichtig und ehrfürchtig, während sie die Handflächen prüfte. „Tiefe Abdrücke von Fingernägeln in den Handflächen. Das könnte darauf hinweisen, dass das Opfer noch lebte, als einige der Wunden zugefügt wurden. Die Fingernägel selbst sind sauber... sehr sauber sogar.“

Sie legte die kleinen Hände an die Körperseiten zurück und untersuchte die Wunden. „Das Opfer weist acht, nein neun Stichwunden im Brustbereich auf.“ Vorsichtig schob sie den Zeigefinger hinein, der tief in einigen der Wunden verschwand. „Sie scheinen von einem Messer mit einseitiger Schneide herzurühren. Drei sind flach. Mindestens sechs sind sehr tief und haben möglicherweise Knochen verletzt. Einer könnte durchs Herz gegangen sein. Trotzdem ist da nur sehr wenig ... genau genommen gar kein Blut. Sheriff Morrelli, hat es geregnet, während der Leichnam draußen lag?“

Er merkte, dass sie mit ihm sprach, drückte sich von der Wand ab und stand fast stramm. „Tut mir Leid, was haben Sie gesagt?“ fragte er mit gedämpfter Stimme, als wolle er den Jungen nicht wecken.

„Erinnern Sie sich, ob es geregnet hat, während der Körper im Freien lag?“

„Nein, gar nicht. Die Woche davor hatten wir sehr viel Regen.“

„Hat der Gerichtsmediziner den Körper gereinigt?“

„Wir hatten George gebeten, alles zu unterlassen, bis Sie hier sind. Warum?“

Maggie sah sich noch einmal den Körper an. Zog einen Handschuh aus und strich sich eine Haarsträhne hinter das Ohr zurück. Irgendetwas stimmte hier nicht. „Einige der Wunden sind sehr tief. Auch wenn sie dem Jungen nach dem Tod zugefügt wurden, hätten sie geblutet. Wenn ich mich recht erinnere, war am Tatort im Gras und im Schlamm jede Menge Blut.“

„Da war viel Blut. Ich habe ewig gebraucht, alles von meiner Kleidung abzuwaschen.“

Sie hob wieder eine kleine Hand. Die Nägel waren sauber, kein Schmutz, kein Blut, keine Haut, obwohl er sie irgendwann in die Handflächen gebohrt hatte. An den Füßen war ebenfalls kein Schmutz, keine Spur von Schlamm. Obwohl er sich mit gefesselten Händen und Füßen nicht viel gewehrt haben konnte, hätte er sich doch zweifellos genügend bewegt, um schmutzig zu werden.

„Es sieht fast aus, als ob der Körper gereinigt worden ist“ , sagte sie vor sich hin. Als sie aufblickte, stand Sheriff Morrelli neben ihr.

„Wollen Sie sagen, der Mörder hat den Leichnam gewaschen, nachdem er fertig war?“

„Sehen Sie sich die Einschnitte in der Brust an.“ Sie zog den Handschuh wieder über und fuhr vorsichtig unter einen Hautlappen. „Hierfür hat er ein anderes Messer benutzt, eines mit einer Sägekante. Es hat die Haut an einigen Stellen gezerrt und eingerissen. Sehen Sie hier?“ Sie fuhr mit der Fingerspitze über die eingerissene Haut.

„Das hätte geblutet. Da hätte Blut sein müssen, zumindest am Anfang. Und diese Stichwunden sind tief.“ Sie schob den Finger noch einmal hinein, um es ihm zu zeigen. „Wenn man ein Loch von der Größe und Tiefe macht, blutet es heftig, bis man es stopft. Das hier, da bin ich mir fast sicher, ging ins Herz. Wir reden hier von der Verletzung großer Gefäße und starken Blutungen. Und die Kehle ... Sheriff Morrelli?“

Nick lehnte sich gegen den Tisch, und sein Gewicht schob den Stahltisch kreischend über die Fliesen. Maggie bemerkte, dass sein Gesicht kalkweiß war, und ehe sie sich versah, sackte er gegen sie. Sie umfasste seine Taille, aber er war zu schwer. Ihre Knie gaben nach, und sie sank mit ihm zu Boden, da er mit dem ganzen Gewicht gegen ihre Brust fiel.

„Morrelli, he, sind Sie okay?“

Sie kroch unter ihm hervor und lehnte ihn stützend gegen ein Tischbein. Er war bei Bewusstsein, aber seine Augen blickten glasig. Sie stand auf und sah sich nach einem Handtuch um, das sie anfeuchten konnte. Doch trotz der guten Ausrüstung des Labors gab es weder Tücher, noch Kittel, noch Handtücher. Sie erinnerte sich, einen Dosenautomaten neben dem Fahrstuhl gesehen zu haben. Sie suchte Kleingeld heraus, lief zum Automaten und kehrte zurück, ehe Morrelli sich bewegt hatte.

Seine Beine lagen abgeknickt unter ihm, sein Kopf ruhte am Tischbein. Wenigstens wirkte sein Blick schon konzentrierter, als sie sich mit der Dose neben ihn kniete.

„Hier“ , sagte sie und reichte sie ihm.

„Danke, aber ich habe keinen Durst.“

„Nicht zum Trinken, für Ihren Nacken. Hier ...“ Sie griff ihm vorsichtig ins Genick und zog seinen Kopf sacht nach vorn. Dann legte sie ihm die kalte Coladose ins Genick. Nick Morrelli lehnte sich an sie. Noch ein paar Zentimeter, und sein Kopf ruhte zwischen ihren Brüsten. In seinem gegenwärtigen Zustand schien er sich dessen jedoch nicht bewusst zu sein. Vielleicht war das Macho-Ego ja mit einer sensiblen Natur gepaart. Sie wollte soeben die Hand wegziehen, als Nick Morrelli danach griff und sie mit seinen langen kräftigen Fingern umschloss. Er sah sie an, und seine kristallblauen Augen blickten wieder normal.

„Danke.“ Es klang ein wenig verlegen, trotzdem wich er ihrem Blick nicht aus. Er war zwar angeschlagen, doch wenn sie sich nicht sehr täuschte, flirtete er trotzdem mit ihr.

Als Reaktion darauf riss sie die Hand weg, abrupter und heftiger als nötig. Genauso abrupt streckte sie ihm die Dose hin, wich auf Knien zurück und sorgte für Abstand.

„Ich kann nicht glauben, dass mir das passiert ist“ , sagte Nick. „Es ist mir ein bisschen peinlich.“

„Das muss es nicht sein. Ich habe eine Menge Zeit auf dem Boden verbracht, ehe ich mich an Autopsien gewöhnt hatte.“

„Wie gewöhnt man sich daran?“ Er sah ihr wieder in die Augen, als suche er dort nach einer Antwort.

„Ich weiß nicht genau. Man koppelt sich irgendwie von den Geschehnissen ab und versucht nicht darüber nachzudenken.“ Sie wandte sich ab und stand rasch auf. Sie mochte nicht Ziel seines forschenden Blickes sein. Obwohl sie das als schlichte Masche, als hinterhältiges Werkzeug seines Charmes entlarvte, fürchtete sie, er könnte tatsächlich etwas von der Schwäche entdecken, die sie so sorgfältig verbarg. Noch vor Monaten hätte es nichts zu verbergen gegeben. Albert Stucky hatte ihr jedoch die eigene Verletzbarkeit vor Augen geführt. Und dieses Bewusstsein war ihr immer noch so präsent, dass man es ihr vielleicht anmerkte.

Ehe sie ihm hilfreich die Hand geben konnte, entknotete Nick Morrelli seine langen Beine und stand ohne zu schwanken auf. Abgesehen von der Fast-Ohnmacht, bewegte er sich sehr geschmeidig und selbstsicher, wie sie feststellte.

Er lächelte sie an, rieb sich mit der kühlen Coladose über die Stirn und hinterließ einen nassen Streifen. Ein paar Haarsträhnen fielen ihm in die Stirn und blieben an der Feuchtigkeit kleben. „Hätten Sie etwas einzuwenden, wenn wir uns in der Cafeteria treffen, sobald Sie fertig sind?“

„Nein, natürlich nicht. Es dauert nicht mehr lange.“

„Ich denke, ich mache eine Pause.“ Er hob die Dose wie in einem spielerischen Prosit, wandte sich zum Gehen, blickte noch einmal zu dem kleinen Leichnam zurück und verschwand.

Maggie knurrte der Magen. Sie bedauerte, das Frühstück ausgeschlagen zu haben, das man ihr während des unruhigen Fluges angeboten hatte. Trotz der Kühle des Raumes hatte der kleine Ringkampf mit Morrelli sie erhitzt. Sie schwitzte, zog einen Handschuh aus und wischte sich über die feuchte Stirn. Dabei blickte sie auf die Stirn des Jungen. Aus diesem Winkel sah sie, dass dort etwas glänzte.

Sie beugte sich über den Tisch und besah sich den durchsichtigen Schmierfilm mitten auf der Stirn genauer. Sie strich mit einem Finger darüber, rieb die Substanz zwischen Daumen und Zeigefinger und hielt sie sich unter die Nase. Wenn der Körper gewaschen worden war, bedeutete das, die ölige Substanz war später aufgebracht worden. Instinktiv überprüfte sie die blauen Lippen des Jungen und fand auch dort einen Ölfilm. Ehe sie sich vergewissern konnte, wusste sie bereits, dass sie auch auf der Brust des Jungen, direkt über dem Herzen, dieses Ol finden würde. Vielleicht zahlten sich die vielen Jahre katholischer Erziehung doch aus. Andernfalls wäre ihr nie aufgefallen, dass irgendwer, vielleicht der Mörder, diesem Jungen die Letzte Ölung verabreicht hatte.