76. KAPITEL
Christine versuchte sich zu erinnern, wann sie das letzte Mal gegessen hatte. Wie lange war Timmy schon fort? Zu lange. Sie erhob sich von der ausrangierten Couch im Hinterzimmer zwischen alten Akten, auf die Lucy sie gebracht hatte.
Die Couch sah sauber aus, roch jedoch nach kaltem Zigarettenrauch. Zumindest entdeckte Christine keine verräterischen Flecke. Der raue Bezug hatte ein Muster auf ihrer Wange hinterlassen.
Die Augen brannten ihr, und ihr Haar war völlig durcheinander. Sie konnte sich nicht erinnern, wann sie sich das letzte Mal gekämmt oder die Zähne geputzt hatte, obwohl das sicher vor dem Morgeninterview gewesen war. Doch das schien Tage her zu sein.
Die Tür ging quietschend auf, und das Geräusch erschreckte sie. Ihr Vater brachte ihr ein Glas Wasser. Wenn sie noch mehr trank, würde sie sich übergeben. Trotzdem nahm sie es ihm ab und nippte daran.
„Fühlst du dich besser?“
„Ja, danke. Ich glaube, ich habe heute noch nichts gegessen. Deshalb wurde mir wohl so schwindelig.“
„Ja, das kann sein.“
Ohne das Glas schien er nicht zu wissen, was er mit seinen Händen anstellen sollte, und schob sie in die Taschen. Eine Angewohnheit, die sie von Nick kannte.
„Ich sollte dir eine Suppe bestellen“ , sagte er. „Vielleicht auch ein Sandwich.“
„Nein, danke, ich kann nichts essen.“
„Ich habe deine Mutter angerufen. Sie versucht, heute Abend noch einen Flug zu bekommen. Hoffentlich ist sie am Morgen da.“
„Danke. Es wäre schön, sie hier zu haben“ , log Christine. Ihre Mutter geriet schon bei der Andeutung einer Krise in Panik. Wie sollte sie mit alledem hier fertig werden? Sie fragte sich, was ihr Vater ihr erzählt und wie viel er verschwiegen hatte.
„Jetzt reg dich bitte nicht auf, Kleines, aber ich habe auch Bruce angerufen.“
„Bruce?“
„Er hat ein Recht, es zu erfahren. Timmy ist sein Sohn.“
„Ja, natürlich. Nick und ich haben versucht, ihn ausfindig zu machen. Du weißt, wo er ist?“
„Nein, aber ich habe eine Telefonnummer für Notfälle.“
„Du hast die ganze Zeit gewusst, wie man ihn erreichen kann?“ fauchte sie.
Ihr Vater wirkte verblüfft. Wie konnte sie es wagen, ihren Ärger an ihm auszulassen?
„Du weißt, dass ich seit Monaten versuche, ihn zu erreichen, damit er Unterhalt für den Jungen zahlt. Und du hattest die ganze Zeit diese Telefonnummer?“
„Für Notfälle, Christine.“
„Dafür zu sorgen, dass sein Sohn genügend Essen auf dem Tisch hat, ist kein Notfall? Wie konntest du nur?“
„Du übertreibst. Deine Mom und ich hätten dich und Timmy nie Not leiden lassen. Außerdem sagte Bruce, er hätte dir reichlich Ersparnisse hinterlassen.“
„Das hat er gesagt?“ Sie lachte, und es war ihr gleichgültig, dass es hysterisch klang.
„Er hat uns genau 164,21 Dollar Sparguthaben hinterlassen und über fünftausend Dollar an Kreditkartenrechnungen!“
Sie wusste, ihr Vater verabscheute Konfrontationen. Ihr Leben lang war sie auf Zehenspitzen um den großen Antonio Morrelli herumgeschlichen, hatte seine Ansichten akzeptiert und seine Gefühle für wichtiger gehalten als die eigenen. Ihre Mutter nannte das Respekt. Sie erkannte nun, was es war - eine Riesentorheit.
Die Hände in den Hosentaschen, ging er hin und her, und das Wechselgeld klimperte laut. „Dieser Mistkerl! Das hat er mir nicht gesagt. Aber du hast ihn aus seinem eigenen Haus geworfen, Christine.“
„Er hat seine Sekretärin gevögelt!“
Sein Gesicht lief vor Missfallen puterrot an. Eine Lady benutzte solche Ausdrücke nicht.
„Ein Mann kann auf Abwege geraten, Christine. Eine kleine Verfehlung. Ich sage nicht, dass es richtig war, aber es war kein Grund, ihn aus seinem Haus zu werfen.“
Endlich war die Katze aus dem Sack. Sie hatte vermutet, dass ihre Eltern mit Bruce sympathisierten, aber bisher hatten sie es nicht zugegeben. Die Welt ihres Vaters war gespickt mit doppelter Moral. Das hatte sie immer gewusst, aber es schweigend hingenommen. Jetzt ging es allerdings um ihr Leben!
„Ich frage mich, ob du auch so nachsichtig wärst, wenn ich die Affäre gehabt hätte.“
„Was? Sei nicht albern.“
„Nein, das will ich jetzt wissen. Hättest du es als geringe Verfehlung bezeichnet, wenn ich den Paketboten gevögelt hätte?“
Er zuckte wieder zusammen, und sie fragte sich, ob lediglich ihre Ausdrucksweise oder die ganze Vorstellung ihn anwiderte. Schließlich vögelte Antonio Morrellis Tochter nicht.
„Schau, du bist aufgebracht, Christine. Ich sollte dich von einem der Jungs heimfahren lassen.“
Sie konnte und wollte nicht antworten, so sehr kochte sie innerlich. Deshalb nickte sie nur, und er floh aus den Zimmer.
Nach wenigen Minuten ging die Tür wieder auf, und Eddie Gillick kam herein.
„Dein Dad hat mich gebeten, dich nach Hause zu fahren.“