21. KAPITEL

Ehe Christine antworten konnte, drängte sich ihr Bruder durch die Menge, verschüttete Emily Fultons Kaffee und stieß Paul Calloway fast zu Boden. Alle starrten ihn an, als er mit dem Finger auf sie zeigte und zu Michelle Tanner sagte: „Mrs. Tanner, ist Ihnen klar, dass diese Frau eine Reporterin ist?“

Michelle Tanner war eine zierliche Frau und so schlank, dass sie zerbrechlich wirkte. Sie war, wie Christine bereits bemerkt hatte, leicht einzuschüchtern. Demgemäß wurde ihr kleines Gesicht blass, und sie riss die Augen auf. Sie sah Christine an, hantierte mit ihrer Kaffeetasse und schien von ihrem lauten Geklapper in der plötzlichen Stille überrascht zu werden. Schließlich sah sie zu Nick auf.

„Ja, Sheriff Morrelli, ich weiß sehr wohl, dass Christine Reporterin ist.“ Sie faltete die Hände, bemerkte offenbar, dass sie ein wenig zitterten, und versteckte sie unter dem Tisch, wo sie sie in ihren Schoß legte. Den Blick auf ihren Kaffeebecher gerichtet, fuhr sie fort: „Wir hielten es für günstig, wenn in der Abendausgabe etwas über Matthew erscheint.“ Jetzt zitterte ihre Stimme.

Christine sah, wie Nick weich wurde. Wenn es etwas gab, das ihren Macho-Bruder aus der Fassung brachte, dann die Tränen einer Frau. Sie hatte das selbst gelegentlich ausgenutzt. Michelle Tanners Tränen waren jedoch echt.

„Mrs. Tanner, ich bedaure, aber ich halte das für keine gute Idee.“

„Es ist sogar eine sehr gute Idee.“

Christine verlagerte auf dem Stuhl ihr Gewicht, um die Frau zu sehen, die hinter Nick auftauchte. Sie wäre glatt als Model durchgegangen: makellose Haut, hohe Wangenknochen, volle Lippen und seidiges, kurzes dunkles Haar. Ihr Anzug saß tadellos an der schlanken, athletischen Figur, die genügend Kurven aufwies, um die Aufmerksamkeit aller Männer im Raum zu erregen. Stimme und Haltung zeigten jedoch, dass sie auf die Wirkung ihrer Weiblichkeit keinen Wert legte. Sie trat selbstsicher und mit Autorität auf. Diese Frau ließ sich nicht so leicht einschüchtern, schon gar nicht durch einen Raum voller fremder Menschen. Christine mochte sie auf Anhieb.

„Wie bitte?“ Nick schien ungehalten.

„Ich halte es für eine gute Idee, die Medien von Anfang an einzubeziehen.“

Nick sah sich spürbar verärgert um. „Kann ich eine Minute mit Ihnen reden? Allein!“ Er nahm die Frau beim Arm, den sie ihm sofort entriss. Dennoch drehte sie sich um und ging davon. Die Menge teilte sich, um ihr Platz zu machen, und Nick folgte ihr.

„Entschuldigen Sie mich.“ Christine tätschelte Michelle die Hand und nahm ihren Notizblock. Obwohl Nick sauer war, wollte sie die Frau kennen lernen, die ihn in seine Schranken verwiesen hatte. Das musste die FBI-Agentin aus Quantico sein, Spezialagentin Maggie O‘Dell. Sie fragte sich, welche Informationen Agentin O‘Dell wohl weitergeben würde? Informationen, die Nick hütete wie seinen Augapfel, wenn es darum ging, seinen wertvollen Ruf zu schützen.

Nick und Agentin O‘Dell standen in einer Ecke des Wohnraumes, neben dem Erkerfenster, das nach vorn hinausging. Einige Polizisten beobachteten die beiden. Nicks Leute wussten es besser und gaben sich beschäftigt.

„Ich habe dir prophezeit, es wird ihm nicht gefallen, dass du hier bist“ , sagte eine Stimme hinter ihr.

Christine sah Hai über die Schulter hinweg an. „Nun ja, da ändert vielleicht gerade jemand seine Meinung.“

„Tja, in der hat er zweifellos seinen Meister gefunden. Ich gehe nach draußen, eine rauchen. Kommst du mit?“

„Danke, nein. Ich versuche aufzuhören.“

„Wie du willst.“

Er ging zur Haustür hinaus. Die Fliegendrahttür quietschte und schlug zu. Nick und Agentin O‘Dell bemerkten es nicht einmal. Nick sprach mit gedämpfter Stimme und beherrschte mühsam seinen Zorn. Agentin O‘Dell wirkte völlig ungerührt, die Stimme ruhig und emotionslos.

„Verzeihen Sie, dass ich störe.“ Christine wich Nicks bösem Blick aus. „Sie müssen Spezialagentin O‘Dell sein. Ich bin Christine Hamilton.“ Sie gab ihr die Hand, und Maggie O‘Dell nahm sie ohne Zögern.

„Miss Hamilton.“

Ihr Händedruck war kräftig und ruhig. „Nick hat in seiner Wut sicher versäumt zu erwähnen, dass ich seine Schwester bin.“

Agentin O‘Dell sah Nick an, und Christine glaubte auf dem ansonsten stoischen Gesicht den Anflug eines Lächelns zu entdecken. „Ich hatte mich schon gefragt, ob es da eine persönliche Beziehung gibt.“

„Er ist sauer auf mich, deshalb fällt es ihm schwer zu erkennen, dass ich eigentlich hier bin, um zu helfen.“

„Da bin ich mir sicher.“

„Also hätten Sie nichts dagegen, mir einige Fragen zu beantworten?“

„Bedaure, Miss Hamilton.“

„Christine.“

„Natürlich, Christine. Aber ich leite diese Ermittlung nicht. Ich bin nur hier, um das Täterprofil zu erstellen.“

Christine wusste, ohne ihn anzusehen, dass Nick jetzt lächelte. Das machte sie wütend. „Und was heißt das bitte? Ein Heraushalten der Presse wie im Alverez-Fall? Nick, das macht die Sache nur schlimmer.“

„Ich glaube, Christine, Sheriff Morrelli hat seine Meinung geändert“ , erwiderte Maggie O‘Dell und beobachtete Nick, dessen Lächeln sich in eine säuerliche Miene verwandelte.

Er schob sich das Haar aus der Stirn. Maggie O‘Dell verschränkte die Arme vor der Brust und wartete. Christine blickte von einem zum anderen. Die gespannte Atmosphäre in dieser Ecke des Raumes war deutlich spürbar.

Schließlich räusperte Nick sich, als säße sein Unbehagen irgendwo zwischen Kehlkopf und Zunge. „Morgen früh um halb neun gibt es in der Lobby des Gerichtsgebäudes eine Pressekonferenz.“

„Darf ich das in meinem Artikel für die Abendausgabe bringen?“ Sie sah von Nick zu Maggie O‘Dell und wieder zu Nick.

„Sicher“ , gab er widerwillig nach.

„Darf ich sonst noch etwas in der Abendausgabe bringen?“

„Nein.“

„Sheriff Morrelli, sagten Sie nicht, dass Sie vom Foto des Jungen bereits Abzüge gemacht haben?“ Maggie O‘Dell erwähnte das wieder wie beiläufig, ohne scharfen Unterton. „Vielleicht erinnert sich der eine oder andere, wenn Christine ihrem Artikel ein Foto beifügt.“

Er schob die Hände in die Hosentaschen, vermutlich, wie Christine argwöhnte, damit er Maggie O‘Dell nicht würgen konnte.

„Du kannst am Gerichtsgebäude vorbeifahren und dir eines abholen. Ich weise Lucy an, es am Empfang für dich zu hinterlegen. Am Empfang, Christine. Ich möchte nicht, dass du in meinem Büro herumschnüffelst.“

„Entspann dich, Nicky. Ich sage dir doch, ich bin nicht der Feind.“ Sie wollte gehen, drehte sich an der Tür jedoch noch einmal um. „Du kommst doch trotzdem heute Abend zum Dinner, oder?“

„Ich habe vielleicht zu viel zu tun.“

„Agentin O‘Dell, möchten Sie uns nicht Gesellschaft leisten?

Ich mache allerdings nur Spaghetti, aber es gibt jede Menge Chianti.“

„Danke, das klingt gut.“

Christine hätte fast losgelacht, so erstaunt sah Nick aus.

„Dann erwarte ich Sie gegen sieben. Nick kennt die Adresse.“