5. KAPITEL

Aus einer Meile Entfernung war die Weide beleuchtet wie ein Fußballstadion während eines Spiels. Christine trat aufs Gas, und der Wagen schleuderte über den Schotter.

Hier ging etwas Großes vor. Vor gespannter Erwartung flatterte ihr der Magen, ihr Puls schlug schneller. Die Handflächen wurden ihr feucht. Das war aufregender als Sex, jedenfalls soweit sie sich erinnern konnte.

Die Informationen der Polizeieinsatzleitung waren wenig ergiebig gewesen: „Beamter erbittet sofortige Hilfe und Unterstützung.“

Das konnte alles Mögliche bedeuten. Während sie auf den glitschigen Weg schlitterte, wuchs ihre Anspannung. Rettungsfahrzeuge, zwei TV-Vans, fünf Sherifflimousinen und eine Menge unauffälliger Wagen parkten verstreut kreuz und quer im Schlamm. Drei Deputy-Sheriffs bewachten den Tatort, der mit gelbem Band abgesperrt war. Gelbes Band, die Absperrung für den Tatort eines Verbrechens - das war ernst. Hier ging es eindeutig nicht um angetrunkene Teenager.

Sie erinnerte sich an die Entführung - der Zeitungsjunge, dessen Gesicht seit Anfang der Woche in jeder Nachrichtensendung und auf jeder Zeitung erschienen war. War eine Lösegeldforderung eingegangen? Da waren Rettungsteams. Vielleicht war eine Befreiungsaktion im Gang?

Sie sprang aus dem Wagen, der rollte weiter, sie merkte es und stieg wieder ein.

„Sei nicht dumm, Christine“ , sagte sie leise vor sich hin, stellte die Automatikschaltung in Parkstellung und zog die Handbremse an. „Sei ruhig, sei gelassen“ , belehrte sie sich, nahm ihren Notizblock und stieg aus.

Sofort schluckte der Schlamm ihre Lederpumps. Sie schüttelte sie ab, hob sie auf und warf sie hinten ins Auto. In Strümpfen ging sie auf die Leute der Nachrichtenmedien zu.

Die Deputys standen aufrecht und unbeirrbar da, obwohl sie mit Fragen bombardiert wurden. Hinter den Bäumen beleuchteten Suchscheinwerfer ein Gebiet unten am Fluss. Hohes Gras und eine Menge Uniformierter versperrten den Blick auf das, was dort vor sich ging.

Kanal Fünf hatte eine seiner Abendmoderatorinnen geschickt. Darcy McManus sah tadellos aus, bereit für den Auftritt vor der Kamera. Das rote Kostüm war gut gebügelt, das seidige schwarze Haar und das Make-up perfekt. Ja, sie hatte sogar ihre Schuhe an. Für eine Live-Reportage war es jedoch schon zu spät, und die Kamera blieb aus.

Christine erkannte Deputy Eddie Gillick in der Reihe der Wachtposten, näherte sich ihm langsam und sorgte dafür, dass er sie sah. Sie wusste, ein falsches Wort, und alles war aus.

„Deputy Gillick? Hallo, ich bin Christine Hamilton. Erinnern Sie sich?“

„Mrs. Hamilton. Natürlich erinnere ich mich. Sie sind Tonys Tochter. Was führt Sie her?“

„Ich arbeite jetzt für das Omaha Journal.“

„Aha.“ Sofort wurde er wachsam.

Sie musste schnell handeln oder sie verlor. Ihr fiel Gillicks glatt zurückgekämmtes Haar auf, nicht eine Strähne tanzte aus der Reihe. Sein After Shave roch überwältigend intensiv. Sein dünner Oberlippenbart war sorgsam gestutzt, die Uniform faltenfrei. Die Krawatte war eng um den Hals gebunden und mit einem goldenen Halter befestigt. Ein rascher Blick verriet, kein Ehering. Offenbar war er eitel und hielt sich für einen Frauentyp.

„Kaum zu glauben, wie schlammig das hier ist. Ich alberne Gans habe sogar meine Schuhe verloren.“ Sie deutete auf ihre schlammverkrusteten Füße mit den rot lackierten Nägeln, die durch die Strümpfe schimmerten. Gillick sah prüfend auf ihre Füße, und sie bemerkte erfreut, dass sein Blick ihre langen Beine hinabglitt. Der unbequeme kurze Rock zahlte sich letztlich doch aus.

„Ja, Ma‘am, das ist wirklich übel.“ Er fühlte sich offenbar leicht unbehaglich, verschränkte die Arme vor der Brust und verlagerte das Gewicht. „Sie sollten aufpassen, dass Sie sich keine Erkältung holen.“ Er sah sie noch einmal an, und diesmal nicht nur ihre Beine. Sein Blick verweilte auf ihren Brüsten. Sie bog den Rücken leicht durch, damit sich ihr Blazer öffnete und er es einfacher hatte.

„Diese ganze Situation ist übel, was, Eddie? Ihr Name ist doch Eddie, oder?“

„Ja, Ma‘am.“ Er wirkte erfreut, dass sie sich an ihn erinnerte. „Allerdings ist mir nicht gestattet, über die gegenwärtige Situation zu reden.“

„Sicher, ich verstehe schon.“ Sie beugte sich trotz seines Pomadegeruchs zu ihm hinüber. Auch ohne Schuhe hatte sie fast seine Größe. „Ich weiß, dass Sie nichts über den kleinen Alverez sagen dürfen“ , flüsterte sie, die Lippen nah an seinem Ohr.

Eddie schien erstaunt, eine Braue hochgezogen, wurde sein Ausdruck jedoch milder. „Woher wissen Sie?“ Er sah sich um, ob jemand mithörte.

Bingo. Ins Schwarze getroffen. Jetzt ganz vorsichtig. Ruhig und besonnen. Nichts versauen. „Sie wissen, dass ich meine Quellen nicht nennen darf, Eddie.“ Würde er in ihrer tiefen gedämpften Stimme etwas Verführerisches erkennen, oder durchschaute er sie? Ihre Verführungskünste waren nie besonders gut gewesen, jedenfalls laut Bruce.

„Sicher, natürlich.“ Er nickte und fraß den Köder.

„Sie hatten wahrscheinlich noch nicht mal die Möglichkeit, sich den Fundort anzusehen. Wo Sie doch hier festsitzen und praktisch die Drecksarbeit machen.“

„Im Gegenteil, ich hatte mehr als einen Blick auf das Ganze.“ Er schwellte stolz die Brust, als hätte er täglich mit solchen Sensationen zu tun.

„Der Junge ist wohl ziemlich übel zugerichtet, was ?“

„Ja. Sieht aus, als hätte das Monster ihn verstümmelt.“

Sie spürte, wie ihr das Blut aus dem Kopf wich. Die Knie wurden ihr weich. Der Junge war tot!

„He!“ schrie Eddie Gillick, und einen Moment glaubte sie, er habe ihr Anbiedern durchschaut. „Schalten Sie die Kamera aus! Entschuldigen Sie mich, Mrs. Hamilton.“

Während Eddie Gillick eine Kamera von Kanal Fünf konfiszierte, zog sich Christine zu ihrem Auto zurück. Sie setzte sich bei geöffneter Tür auf den Fahrersitz und fächelte sich mit dem leeren Notizblock frische Luft zu. Dabei atmete sie tief durch. Trotz der Kälte klebte ihr die Bluse am Leib.

Danny Alverez war tot, ermordet. Um Deputy Gillick zu zitieren, „verstümmelt“ .

Sie hatte ihre erste große Geschichte, doch das Flattern im Magen hatte sich zu Krämpfen verstärkt.