61. KAPITEL

Pater Keller sah sehr offiziell aus, als er diesmal die Tür des Pastorats öffnete. Er trug einen schwarzen Talar. Nick bemerkte jedoch sofort die weißen Nikes unter dem schwarzen, bodenlangen Gewand.

„Sheriff Morrelli, Agentin O‘Dell. Verzeihen Sie, aber ich bin etwas überrascht.“

„Dürfen wir für ein paar Minuten hereinkommen, Pater?“ Nick rieb sich die kalten Hände. Obwohl zum ersten Mal seit Tagen die Sonne schien, sorgten der viele Schnee und der eisige Wind für Temperaturen unter dem Gefrierpunkt. Selbst für Nebraska war das ungewöhnliches Halloween-Wetter.

Pater Keller zögerte. Nick glaubte schon, er wolle es ablehnen, denn er sah Maggie an, als bezweifle er, dass es gefahrlos war, sie einzulassen. Dann trat er lächelnd beiseite und führte sie in den großen Wohnraum, wo im Kamin ein Feuer prasselte. Allerdings lag heute Morgen ein Geruch nach Verbranntem in der Luft - als sei etwas verbrannt worden, das nicht brennen sollte. Nick fragte sich sofort, ob Pater Keller etwas zu verbergen hatte.

„Ich bin nicht sicher, wie ich Ihnen beiden helfen kann. Gestern Abend ...“

„Pater Keller“ , unterbrach Maggie ihn und war wieder ganz die Ruhe. „Eigentlich bin ich gekommen, um mich für gestern zu entschuldigen.“ Sie sah flüchtig zu Nick, der ihren Unwillen bemerkte. „Ich hatte ein wenig zu viel getrunken und wurde wohl etwas feindselig. Es war nichts Persönliches. Ich hoffe, Sie verstehen und akzeptieren meine Entschuldigung.“

„Natürlich verstehe ich das. Und ich bin erleichtert, dass Sie mir nicht ernsthaft etwas vorwerfen. Schließlich kennen wir uns gar nicht.“

Nick beobachtete den Priester. Maggies Entschuldigung entspannte ihn, sogar seine Hände hingen jetzt locker an den Seiten und waren nicht mehr hinter dem Rücken verschränkt.

„Ich wollte mir gerade einen heißen Tee holen. Kann ich Ihnen auch einen mitbringen?“

„Wir sind in offizieller Angelegenheit hier, Pater Keller“ , erklärte Nick.

„Offizieller Angelegenheit?“

Nick beobachtete, wie der junge Priester die Hände tief in den Taschen seines Talars verbarg. Die Stimme blieb jedoch erstaunlich ruhig. Er fragte sich unwillkürlich, ob der Pater auch Beherrschung im Seminar gelernt hatte. Er zog den Beschluss aus der Jackentasche und entfaltete ihn, während er erklärte: „Wir haben gestern Abend den alten Pickup hinter Ihrem Haus bemerkt.“

„Pickup?“ Pater Keller klang erstaunt. War es möglich, dass er nichts davon wusste, oder war das Theater?

„Der, der zwischen den Bäumen steht. Er entspricht der Beschreibung des Wagens, in den laut einer Zeugenaussage Danny Alverez stieg, ehe er verschwand.“ Nick wartete gespannt. Maggie stand still neben ihm, doch er wusste, dass sie jede Regung und jedes Zucken in Pater Kellers Gesicht bemerkte.

„Ich weiß nicht, ob das alte Ding überhaupt noch läuft. Ich glaube, Ray benutzt ihn, wenn er am Fluss Holz hacken geht.“

Nick übergab Pater Keller den Durchsuchungsbeschluss. Der hielt ihn an einer Ecke hoch und betrachtete ihn, als sei es ein fremdartiges, schleimiges Etwas.

„Wie ich gestern Abend schon sagte“ , fuhr Nick fort, „versuche ich, so vielen Spuren wie möglich zu folgen. Sie wissen wahrscheinlich, dass das Sheriff Department beträchtlich unter Druck steht. Ich will nur vermeiden, dass jemand uns vorwirft, wir hätten nicht alles überprüft. Haben Sie die Schlüssel, Pater?“

„Die Schlüssel?“

„Zum Pickup.“

„Ich kann mir nicht vorstellen, dass er verschlossen ist. Lassen Sie mich Mantel und Stiefel anziehen, dann begleite ich Sie.“

„Danke, Pater, das wäre nett.“ Nick sah den Priester neben den Kamin gehen und die schwarzen Gummistiefel anziehen, die er gestern bemerkt hatte. Dann waren es also Kellers Stiefel. Gestern Abend hatte er behauptet, er habe das Rektorat nicht verlassen. Aber schneebedeckte Stiefel konnten auch bedeuten, dass er hinausgegangen war, um Feuerholz zu holen.

Auf dem Weg zur Tür hielt Maggie sich plötzlich an einem Tisch fest und beugte sich vornüber.

„O Gott, ich fürchte, mir wird wieder übel!“ stöhnte sie.

„Maggie, bist du okay?“ Dann raunte er Pater Keller zu: „Das geht schon den ganzen Morgen so.“ An Maggie gewandt, fuhr er fort: „Was hast du bloß gestern getrunken?“

„Dürfte ich mal ins Bad?“

„Aber natürlich.“ Pater Kellers Blick schweifte zum Flur in offensichtlicher Sorge um den perlweißen Teppich. „Den Flur entlang, zweite Tür rechts“ , sagte er rasch, wie um sie anzutreiben.

„Danke. Ich komme gleich nach.“ Sie verschwand um die Ecke und hielt sich die Seite.

„Kommt sie klar?“ fragte Pater Keller besorgt.

„Mit Sicherheit. Glauben Sie mir, es ist besser, nicht in ihrer Nähe zu sein. Sie hat mir schon die Stiefel ruiniert.“

Der Priester verzog das Gesicht, warf einen Blick auf Nicks Stiefel und folgte ihm hinaus hinter das Haus.

Schneeverwehungen um den Pickup zwangen sie, sich einen Weg zu schaufeln und den alten Metallhaufen auszugraben. Die Tür klemmte und quietschte. Metall knirschte auf Metall, als Nick sie mit einem Ruck aufriss. Ein muffiger penetranter Gestank schlug ihm entgegen. Die Kabine sah aus, als sei sie seit Jahren geschlossen und unbenutzt gewesen. Nick war enttäuscht. Er war es leid, dass jede Spur im Nichts endete. Trotzdem kletterte er mit der Taschenlampe in die Kabine, ohne recht zu wissen, wonach er suchte. Vielleicht sollte er die Suche den Experten überlassen, aber die Zeit wurde knapp.

Er lag auf den geplatzten Vinylsitzen, streckte und verdrehte den Arm und tastete blindlings unter den Sitzen herum. In der Enge war es schwierig, den Körper zu bewegen. Das Lenkrad drückte ihm in die Seite, und der Schaltknüppel stach ihm in die Brust. Es war wie damals, als er mit sechzehn im alten Chevy seines Vaters mit seinen Freundinnen geknutscht hatte. Aber heute war es beschwerlich, denn er war auch nicht mehr so biegsam wie damals.

„Ich kann mir nicht vorstellen, dass in dem Schrotthaufen etwas anderes als Ratten sind“ , sagte Pater Keller draußen an der Tür.

„Ratten?“ Er hasste Ratten.

Nick riss die Hand zurück und schlug sich die wunden Knöchel an einer hervorspringenden Feder. Die Augen zusammenpresst vor Schmerz, beherrschte er sich, um nicht einen Fluch auszustoßen. Nachdem er das Handschuhfach aufgedrückt hatte, leuchtete er mit der Taschenlampe in das schwarze Innere.

Vorsichtig durchwühlte er den mageren Inhalt: ein vergilbtes Bedienungshandbuch, eine verrostete Dose WD-40, mehrere McDonald‘s-Servietten, ein Streichholzbriefchen von einem Lokal namens Pink Lady, ein gefalteter Zeitplan mit Adressen und Codenummern, die er nicht kannte, und ein kleiner Schraubenzieher. Er nahm das Streichholzbriefchen und merkte, dass Pater Keller ihn beobachtete. Ehe er das Fach wieder schloss, tastete er mit den Fingern die Spalte am Ende ab. Er entdeckte etwas Kleines, Glattes, Rundes, angelte es heraus und behielt es ebenfalls in der Handfläche.

Sobald er sicher war, dass Pater Keller es nicht sah, steckte er beides in die Tasche. Als er das Fach schließen wollte, bemerkte er unleserliche handgeschriebene Notizen auf dem gefalteten Plan und stopfte ihn sich in den Ärmel. Dann klappte er das Handschuhfach zu.

„Nichts“ , sagte er, stemmte sich hoch und schob sich auch den Plan in die Tasche. Er glitt vom Sitz und sah sich noch ein letztes Mal um. Ihm fiel auf, dass die Kabine zwar muffig und unbenutzt roch, dass Armaturenbrett, Sitze und Teppich aber erstaunlich sauber waren.

„Tut mir Leid, dass Sie Ihre Zeit vergeudet haben“ , sagte Pater Keller und wandte sich dem Weg zum Pastorat zu.

„Ich muss die Ladefläche noch überprüfen.“

Der Priester blieb stehen, zögerte und drehte sich um. Der Wind erfasste den Talar, dass er flatterte wie eine Fahne. Nick glaubte, eine Spur Frustration an Pater Keller zu entdecken. Frustration oder Ungeduld. Wenn der Mann nicht Priester gewesen wäre, hätte Nick gesagt, Pater Keller sah stinksauer aus. Wie auch immer, etwas schien ihm nicht zu gefallen. Und Nick fragte sich besorgt, was er auf der Ladefläche finden würde.